J. Belich: Settler Revolution and Rise of the Anglo-World

Titel
Replenishing the Earth. The Settler Revolution and the Rise of the Anglo-World 1780-1930


Autor(en)
Belich, James
Erschienen
Anzahl Seiten
592 S.
Preis
€ 29,16
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Marx, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Noch eine Weltgeschichte? Ja, aber eine ganz besondere. Denn James Belich hat eine außergewöhnliche Perspektive gewählt, wobei Weltgeschichte bei ihm nicht den Anspruch erhebt, eine alles umfassende Globalgeschichte zu sein. Die Welt, die er beschreibt, ist die anglophone und ihr tiefgreifender Wandel durch die Massenmigrationen des 19. Jahrhunderts. Die „Verwandlung der Welt“ heißt hier: ihre Besiedlung mit allen Folgen für Wirtschaft, Umwelt und Kultur. „Replenishing the Earth“ führt Wirtschafts- und Kulturgeschichte argumentativ zusammen, während Sozial- und Politikgeschichte bewusst vernachlässigt werden.

James Belich, Autor dieses ausgesprochen originellen und lesenwerten Buches, ist Professor für Geschichte am Stout Research Centre der Victoria University in Oakland, Neuseeland. Er hat bereits eine zweibändige Gesamtdarstellung der Geschichte Neuseelands vorgelegt und schreibt nun Weltgeschichte aus der Perspektive eines Historikers, der an der Peripherie des früheren britischen Empire lehrt und forscht. Seine Konzentration, ja Beschränkung auf die anglophone Welt begründet er damit, dass keine andere Bevölkerungs- und Sprachgruppe im 19. Jahrhundert die Erde so verändert habe wie die englischsprachigen Weißen. Doch hängt Belich keiner dubiosen Empire-Nostalgie, keiner Verklärung vergangener Größe von den Antipoden her an. Ebenso wenig wärmt er atavistische Vorstellungen eines „race patriotism“ auf. Vielmehr betont er, dass englischsprachige Auswanderer sich wegen grundlegender kultureller Gemeinsamkeiten leichter in neuen Umständen zurechtfinden und auf einer gemeinsamen kulturellen Basis neue Gesellschaften begründen konnten. Die Ausmaße und die Geschwindigkeit der Migration und demographischen Umwälzung ganzer Kontinente lässt sich wirtschaftsgeschichtlich begründen, aber kulturgeschichtlich erklären. Dabei zählt er die deutschsprachigen Auswanderer des 19. Jahrhunderts aufgrund ihrer großen kulturellen Assimilierungsbereitschaft kurzerhand zum anglophonen Sprachraum dazu. Die erfrischend unorthodoxe und innovative Art und Weise, mit der Belich an sein Thema herangeht, schlägt sich in neuen Perspektiven und Einsichten nieder, die das Buch durchgehend zu einer lohnenden Lektüre machen, obwohl der Autor seinen Lesern einen gewaltigen Apparat empirischer Beweisführung in Form von Zahlen und Statistiken über Einwanderung, Wirtschaftswachstum, Exporte und Infrastrukturausbau zumutet.

Das Buch ist in drei Teile mit jeweils etwa sechs Kapiteln unterteilt. Während Belich im ersten Teil „The Anglo Explosion“ seine Herangehensweise expliziert und begründet, folgt er in den beiden anderen Teilen der chronologischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts, setzt aber jeweils unterschiedliche Schwerpunkte, die sich aus dem ersten Teil ableiten lassen, nämlich die eigentliche Expansion im zweiten Teil, die „Rekolonisierung“ im dritten.

Die ganze Argumentation baut auf einer Analogie auf, die die Entwicklung der USA und des britischen Empire als vergleichbare Vorgänge erscheinen lässt. Belich nimmt die Westexpansion der nordamerikanischen Siedler zum Ausgangspunkt, um etwas Ähnliches für das Empire zu konstruieren. Ost und West werden in den USA durch die Appalachen getrennt, denn der Gebirgszug wirkte für einige Jahrzehnte als Expansionsblockade und erlaubte damit die größere Bevölkerungsverdichtung und ökonomische Differenzierung im Osten, der damit die Abhängigkeit von England und Europa verlor und ein Zentrum sui generis wurde. Die vermeintlich einzigartige Westbewegung der Siedler, die epochemachende Besiedlung des Kontinents durch eine Einwanderungswelle von bis dahin unvorstellbaren Ausmaßen findet indes eine Parallele in der Besiedlung des Empire. Der „Westen“ Großbritanniens, seine Siedlungskolonien in Australien, Neuseeland, Kanada und (mit Abstrichen) Südafrika ist freilich nicht geographisch zu verstehen, sondern der „Westen“ steht für einen Expansionsraum, der das ursprüngliche Zentrum flächenmäßig um ein Vielfaches übertrifft. Was den USA der Westen, das war für Großbritannien sein „weißes“ Empire. Indien, Afrika und die Karibikgebiete, die nicht Ziel von Auswanderern und Ansiedlern wurden, spielen für Belichs Argumentation keine Rolle und finden folgerichtig kaum jemals Erwähnung.

Am wenigsten scheint sich Belich in Südafrika auszukennen. Dem Land ist ein einziges Kapitel mit unorthodoxen und einfallsreichen Erklärungsansätzen gewidmet. So werden die Mfengu des Eastern Cape als „Black English“ bezeichnet. Damit aber wird man der Komplexität der Entwicklung in Südafrika nicht gerecht; dazu wäre etwa an die Rolle der indischen Einwanderer, der Coloureds, die Differenzen zwischen Buren und Briten zu denken. Wohlweislich hat er die Region Südafrika in seiner weiteren Darstellung weitgehend ausgeblendet, womit er ihrem Sondercharakter als Kolonie, in der eine Minderheit weißer Siedler, unter denen wiederum die Anglophonen die Minderheit ausmachten, gerechter wird als durch ein Verfahren, das sie gewaltsam an die übrigen Regionen argumentativ angeglichen hätte.

Um die „Anglo Explosion“ in ihrem Ausmaß und in ihrer verändernden Wirkung wirklich messen zu können, muss man sie vergleichen. Das aber ist der Bereich, in dem Belich am wenigsten überzeugt. Seine Vergleiche betreffen eher einzelne Aspekte und werden nicht systematisch ausgeführt. Sie vermögen daher das Besondere der Anglo World nicht wirklich hervorzuheben. Der Autor räumt selbst ein, dass er die politische und Sozialgeschichte vernachlässigt hat. Deren Einbeziehung wäre aber notwendig, um die „push“-Faktoren von Klassenherrschaft und Ausbeutung im sich industrialisierenden Europa identifizieren zu können. Doch soll man einem Autor keine Vorhaltungen machen, der die Begrenztheit seines Ansatzes selbst offenlegt.

Zudem bietet das Buch viele neue Einsichten: Belich zeigt die Verbindung von Migrations- und ökonomischen Konjunkturen, wobei er eine neue Interpretation entwickelt, die sich von der bisherigen Literatur deutlich abhebt und aufgrund der klaren Argumentation und ihrer reichhaltigen empirischen Belege überzeugend wirkt. Belich bemisst den ökonomischen Erfolg neuer Siedlungsunternehmen nicht an ihrer Produktion für den Export. Dies ist vielmehr ein späteres Phänomen, da der eigentliche Aufschwung sich in anderen Bereichen vollzieht. Die Einführung von Selbstverwaltungsstrukturen in US-Staaten bzw. britischen Kolonien schuf die Voraussetzung für öffentliche Kreditaufnahme und entsprechende staatliche Infrastrukturmaßnahmen. Der Import von Konsum- und Investitionsgütern ist Belich zufolge entscheidend für den Erfolg eines Siedlungsprojektes, da auf diese Weise die Zirkulation von Kapital in Gang gesetzt und die Grundlage für die ökonomische Selbständigkeit überhaupt erst geschaffen wurde. Das widerspricht in erfrischender Weise den neoliberalen Dogmen, denn Belich spart auch die Notwendigkeit politischer Nachhilfe beim ökonomischen „take-off“ nicht aus, die öffentliche Verschuldung als Wachstumsmotor sowenig wie die Gefahren für „Exportweltmeister“. Denn die Exportproduktion interpretiert er als eine Auffangmaßnahme, die regelmäßig in wirtschaftlichen Abschwungphasen einsetzt und ein Anzeichen für das ist, was er als „Rekolonisation“ bezeichnet, nämlich die Einbindung der neuen Siedlergesellschaft an den „Osten“, im Fall der USA an die weiter entwickelten Ökonomien der Ostküste, im Fall der Kolonien an diejenige Großbritanniens. Die Exportproduktion verstärkt die Abhängigkeit, nicht die Selbständigkeit und sie führt längerfristig zu einer Integration des gesamten ökonomischen Raumes unter Federführung der am weitesten entwickelten „östlichen“ Zentren.

Der zweite Teil des Buches folgt den Westbewegungen, wobei Belich der Chronologie den Vorzug vor der in sich abgeschlossenen Darstellung regionaler Entwicklungen gibt. Auf diese Weise kann er zweierlei sehr klar herausarbeiten: 1. Alle Massenansiedlungen im „Westen“ folgen denselben Verlaufsmustern: Mit Hilfe von Werbebroschüren wird das Neuland als „Garten Eden“ angepriesen, der Import von Kapital- und Konsumgütern und der Aufbau einer öffentlichen Kreditaufnahme durch politische Selbstverwaltungsinstitutionen setzen einen „take-off“ der Siedlergesellschaften in Gang, bis die rasante Entwicklung in den unvermeidlichen Abschwung hineinsegelt, den sie jedoch durch die Umstellung der Produktion auf Exporte von Rohstoffen und Waren auffangen kann. Die Exportproduktion ihrerseits führt zur „Rekolonisation“ des Siedlergebietes durch die industriellen Zentren im „Osten“ und zu einer, wenn auch ungleichgewichtigen, Integration eines Wirtschafts- und Kulturraums. 2. Selbst Randzonen wie die Great Plains, die ariden Gebiete Australiens oder Arizonas werden zum Schluss nach demselben Verlaufsmuster besiedelt. Nur in wenigen gelingt dies nicht so richtig, weil die ökologischen Voraussetzungen einfach fehlen. Belich begründet dies in jedem einzelnen Fall und wird, so wie in dem gesamten umfangreichen Werk, regionalen Eigenentwicklungen durchaus gerecht. Sein Ablaufschema, das er am Anfang des Buches entwickelt, steht einer differenzierten Darstellung keineswegs im Weg. In diese selbst gestellte Falle tappt Belich nicht. Dafür ist er ein viel zu guter Historiker.

Und außerdem kann er schreiben! Mit großem Schwung und in dramatisierendem Stil gelingt es ihm, Unmassen an empirischem Material, wirtschaftsgeschichtliche Daten und Fakten, die gewöhnlich eine öde Lektüre darstellen, zu einem wahren Lesevergnügen aufzubereiten. Dafür muss man in Kauf nehmen, was vielleicht nicht jedem Leser gefällt, etwa dass die Wortwahl zuweilen ans Reißerische grenzt. Der Terminus der „Anglo explosion“ sollte aber als Geschmackssache nicht Zielscheibe streitbarer Rezensenten sein. James Belich hat mit dieser umfangreichen Studie einen höchst originellen Beitrag, eine innovative Interpretation eines säkularen welthistorischen Vorgangs in sprachlich ansprechender Form vorgelegt. Es wäre nur zu begrüßen, wenn dieses Buch in einer stilistisch adäquaten Übersetzung seinen Weg zu einer breiten Leserschaft hierzulande finden würde.