B. Steiner: Historische Tabellenwerke

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Titel
Die Ordnung der Geschichte. Historische Tabellenwerke in der Frühen Neuzeit


Autor(en)
Steiner, Benjamin
Erschienen
Köln 2008: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
385 S.
Preis
€ 52,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Haas, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Benjamin Steiner will mit der vorliegenden, an der Ludwig Maximilians-Universität München als Dissertation angenommenen Arbeit eine Wissensgeschichte vorlegen, die nicht primär nach dem Was des Aufgezeichneten, sondern nach dem Wie des Aufzeichnens fragt. Das ist ein aufregendes Unterfangen, nicht nur weil den Tabellenwerken der Frühen Neuzeit als der zentralen Quellengruppe des Buches bislang nur selten eine längere Untersuchung gewidmet worden ist, sondern weil diese in der heutigen Geschichtswissenschaft eher als additiv, positivistisch, sammelnd im negativen Sinn und damit als vorwissenschaftlich, wenn nicht gar unwissenschaftlich angesehen werden. Steiner dagegen versucht einen Zugriff zu formulieren, der den Tabellenwerken der Frühen Neuzeit in ihrem historischen Kontext einen spezifischen Platz in der Generierung historischen Wissens zuschreibt. Sein Interesse gilt der Frage, wie das Tabellenwerk als spezifisches Medium Wissen dadurch generiert, dass es Daten auf bestimmte Art und Weise versammelt und ordnet. Dabei soll erst gar nicht der hier auch zwei Sätze zuvor aufgemachte assoziative Kontext zur heutigen, wissenschaftlichen Bewertung von Geschichtstabellen aufkommen. Sein Ziel ist es nicht, die Entwicklungsgeschichte der wissenschaftlichen Historiographie umzuschreiben. Vielmehr geht es ihm um Differenzierungen in der Genese von Geschichtsbildern und deren Abhängigkeit von der Materialität des Mediums, durch das Geschichtswissen erst entsteht. Das hat große Nähen zu den medientheoretischen Vorhaben einer Toronto School, eines Eric Havelocks und Marshall McLuhans, und damit auch zu jenem Teil der Neuen Kulturgeschichte, der sich an diese seit den 1990er-Jahren wieder anschließt und an einer medienhistorisch ausgerichteten Kulturgeschichte arbeitet. Eine Nähe, die auch der Autor sieht und benennt, die er aber, zumindest in den Augen eines sehr an der Theoriebildung ausgerichteten Rezensenten, etwas zu wenig argumentativ durcharbeitet.

Der Autor möchte eine Quellengruppe näher in den Blick nehmen, die es in seiner Wahrnehmung erlaubt, das Geschichtsbild der Frühen Neuzeit nicht primär über gleichsam abstrakte Traktate zu rekonstruieren, sondern über die Praxis des Aufzeichnens. In einem ersten Schritt werden die Sammlungspraktiken und Ordnungsdiskurse vom antiken Mesopotamien und Ägypten bis in die Frühe Neuzeit zusammengetragen und Ähnlichkeiten in der visuellen Darstellung von Faktensammlungen herausgearbeitet. Der Autor verfolgt, wie sich Tabellen und Kreis-Linien-Schemata über die Antike bis in das Mittelalter hinein fortschreiben, und interpretiert dies als eine lineare, konstante Entwicklung (S. 41). Das Mittelalter schließt hier direkt an die Antike an. Dort entstanden mediale Praktiken, über die Relationen von Informationen ordnend dargestellt werden sollten. „Diese innovativen Raster stellen für die mittelalterliche historiographische Praxis so etwas wie Grund-Axiome dar“ (S. 42). Dergestalt schreiben die Tabellen eine Ordnung in das chaotische historische Geschehen ein, die der narrativen Sinngebung vorausgeht.

Die Arbeit besteht im Kern in einer sehr intensiven und sehr umfassenden Sammlung und Analyse von Tabellengeschichtswerken der Frühen Neuzeit (Kapitel 2-4). Der Fokus liegt auf Deutschland, Frankreich und Italien, auch wenn versucht wird, den Blick offen zu halten für das, was ansonsten im europäischen Raum zu finden ist. Doch ist insgesamt die Beobachtung leitend, dass „Deutschland das Zentrum der Tabellengeschichtsschreibung“ darstellte (S. 157). In die Interpretation einbezogen werden Binnendifferenzierungen aber nicht nur nach Entstehungszeit und -ort, sondern besonders auch nach Konfessionalität des Autors (Kapitel 3.2 und 3.3) und nach Zweck. So widmet sich das vierte Kapitel der Verwendung von Tabellen im frühneuzeitlichen Schulunterricht, wobei die Abnutzungsspuren und Randnotizen zu einer instruktiven Geschichte des Tabellengebrauchs im Unterricht verwendet werden. In einem fünften, die Arbeit abschließenden langen Kapitel wird der spannende Versuch unternommen, die behandelten Tabellenwerke quasi unter medien- und gattungstheoretischen Begriffen in ihrer Systematik zu erschließen. Leitend ist dabei die Frage, wie die Tabellen Geschichtstatsachen als solche generieren und wie dann in den Tabellen dem historischen Verlauf eine Form durch das Medium selbst zugeschrieben wird.

Was aber ist der Kern des Vorhabens? Wenn reklamiert wird, dass die frühneuzeitlichen Tabellenwerke sich auch im Hinblick auf den Spatial Turn, wofür dann theoretisch so unterschiedlich kompetente und positionierte Personen wie Edward Soja und Karl Schlögel angeführt werden, und die Fokussierung auf die Kategorie Zeit als Konstrukt der letzten zweihundert Jahre (S. 7) darstellen, wird die Stoßrichtung der Arbeit deutlich. Die visuelle Ordnung von Daten wird als Präfiguration von historischer Interpretation und damit als Vorbedingung von Geschichte als Historiographie und Wissenschaft überhaupt formuliert. Das impliziert einen weitreichenden Erklärungsanspruch. Immer wieder wird die vorliegende Arbeit abgegrenzt von jenen, die in der Analyse von Theorie und Methodik den eigentlichen Zugang zur (frühneuzeitlichen) Historiographiegeschichte und zur Verwissenschaftlichung von Geschichte sehen (explizit unter anderem S. 79). Dagegen wird die Praxis an den Ausgangspunkt der logischen Argumentationskette gestellt: Die Frage sollte nicht lauten, „wie, aus Normen und Kategorien abgeleitet, Geschichte geschrieben wurde, sondern sie muss umgekehrt gestellt werdne (sic!): wie aus der geschichtsschreiberischen Praxis selbst ‚unbeschadet dieser normativen Selbstaussagen‘ (Koselleck) Regeln und Regelmäßigkeiten für die Historiographie entstanden sind“ (S. 80). Die mediale Praxis des Aufzeichnens von Geschichtsdaten und ihrer Visualisierung in Tabellen und ähnlichen Ordnungsrastern, die dann als Verräumlichung von Wissen aufgefasst werden, wird verantwortlich gemacht für das Entstehen von Geschichte als Geschichtsschreibung. „Diese Form der sammelnden Tätigkeit der partikularen Daten der Geschichte ist die Bedingung der Möglichkeit der Geschichtswissenschaften“ (S. 82). Doch kommt diese Interpretation nicht am Kardinalproblem der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts vorbei: Gibt es eine der empirischen Beobachtung und ihrer Aufzeichnung vorausgehende Ordnung, deren Ursache man in Ratio, Vernunft, Hypothesen- oder Theoriebildung, Erkenntnisinteresse, Ideologie oder wie auch immer die Leitbegriffe konstruktivistischer Wissenschaftstheorie lauten, sehen muss? Oder kann eine im hier vorliegenden Fall meist visuelle Anordnung von Daten so neutral geschehen, dass sie nicht als vorselektiert oder vorinterpretiert angesehen werden muss? Diese Frage kann die vorliegende Arbeit nicht beantworten und es ist auch nicht ihre Aufgabe. So macht sie das, was eine sehr gute Arbeit tut: Sie versucht breit die Ausgangshypothese zu belegen und systematisch zu entwickeln. Und das gelingt dem Autor sehr überzeugend.

Steiner analysiert eindrucksvoll, wie mediale und Gattungselemente, realisiert in einer spezifischen Praxis des Aufschreibens von historischen Daten, Ordnung(en) entstehen lassen und damit historische Interpretationen nicht nur vorbereiten, sondern wesentlich mitbedingen. Denn darin liegt letztlich der herausfordernde Kern der Arbeit, dass es nicht die theoretischen und weltanschaulichen Vorannahmen sind, die Vergangenheit zu Geschichte machen, sondern wesentlich die (mediale) Praxis des Aufzeichnens. Und anders als bei Hayden White und verwandten narratologischen Ansätzen, in denen die der literarischen Tradition entlehnte Erzählform verantwortlich gemacht wird für die Generierung von Sinn, ist es in der vorliegenden Arbeit – bezogen auf die frühneuzeitlichen Tabellenwerke – das Visuelle und quasi Räumliche des Mediums, das diesen mit konstituiert, auch wenn es in der Arbeit nicht alleine verantwortlich gemacht wird. Damit hat der Autor einen spannenden, über die Frühneuzeitforschung hinausreichenden innovativen Beitrag geschrieben, dem eine breite und kontroverse Rezeption zu wünschen ist.

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