Titel
Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft


Herausgeber
Georgi, Viola B.; Ohliger, Rainer
Erschienen
Hamburg 2009: Körber-Stiftung
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Barsch, Abteilung für Didaktik der Geschichte und Geschichte der Europäischen Integration, Universität Köln

Die These, dass Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft ist, wurde noch vor einigen Jahren äußerst kontrovers diskutiert. Während sich darüber auf politischer Ebene nach wie vor nur schwer Einigkeit erzielen lässt, zeigt die Wirklichkeit in den Städten jedoch einen eindeutigen Befund: die Bevölkerung Deutschlands ist nicht homogen. Aus diesem Faktum schließen die Herausgeber des hier zu besprechenden Bandes "Crossover Geschichte", Viola B. Goergi und Rainer Ohlinger, dass auch vielfältige "historische Narrationen und Geschichtsbilder" (S. 7) die Folge seien. Wie Jugendliche mit Migrationshintergrund diese Geschichtsbilder subjektiv verarbeiten, wie sie ihre eigene Geschichte entdecken und in den "Dimensionen [...] nationaler Geschichts- und Erinnerungskultur" (S. 7) interpretieren, diesem von der Geschichtsdidaktik bislang nur wenig beachteten Thema gilt das Interesse des Buches.

"Crossover Geschichte" gliedert sich in drei große Kapitel mit insgesamt 15 Beiträgen. Im Kapitel "Theoretische Zugänge" befasst sich Bodo von Borries zunächst mit der Frage, wie "Fallstricke interkulturellen Geschichtslernens" überwunden werden können. Er kommt zu dem Schluss, dass es trotz der "Verschiedenheit der Geschichten für verschiedene Gruppen" (S. 30) in einem emotional aufgeladenen Geschichtsunterricht möglich sei, positive Alteritätserfahrungen zu fördern (S. 40), indem das Geschichtslernen den Adressaten entsprechend interkulturalisiert wird ohne jedoch die Nationalgeschichte des Einwanderungslandes auszublenden. Letzteres sei "eine nicht seltene Lösung in klassischen Einwandererländern" (S. 41). Im folgenden Text analysiert Nevim Çil "Perspektiven türkischstämmiger Jugendlicher auf Mauerfall und Wiedervereinigung". Dazu wurden Auszüge aus vier Interviews zusammen getragen. Die Aussagen der Befragten lassen erahnen, dass in der Bundesrepublik geborene jüngere Menschen mit Migrationshintergrund die Umbrüche von 1989/90 nur in geringem Maße als Teil ihrer eigenen Geschichte verstehen. Die Autorin schließt mit der Feststellung, dass "die Wiedervereinigung als ein historisches Geschenk" hätte begriffen werden können, "welches die Möglichkeit bot, einen Gesellschaftsvertrag jenseits der Abstammungsmetapher zu konzipieren" (S. 59). Diese Chance sei jedoch vertan worden.

Einen eher allgemeinen Überblick zum Geschichtsbewusstsein Jugendlicher mit und ohne Migrationshintergrund bietet Carlos Kölbl. Er gibt dabei einen knappen Überblick aktueller Forschungsergebnisse im Kontext von Geschichtsunterricht und Migration bzw. Globalisierung und fordert auf diesem Feld größere Anstrengungen.

Johannes Meyer-Hamme wertet zwei Interviews aus, die auf der Fragestellung basieren, "wie in der deutschen Einwanderungsgesellschaft mit Geschichte umgegangen werden solle" (S. 75). Die Befragten sind Schüler mit Migrationshintergrund, die zum Zeitpunkt des Interviews kurz vor dem Abitur standen. Die Ergebnisse scheinen jedoch aufgrund der geringen Probandenzahl von lediglich zwei Schülern nur von geringer Aussagekraft.

Mit einem interessanten Thema befasst sich Viola B. Georgi. Sie geht der Frage nach, welche Bedeutung die NS-Geschichte für Jugendliche aus Einwandererfamilien hat. Die Ergebnisse entstammen einer von ihr durchgeführten empirischen Studie. Georgi stellt für den vorliegenden Aufsatz "aus den umfangreichen Fallrekonstruktionen herausgelöste Ausschnitte" (S. 96) in Form von zwei Interviews vor, erwähnt dabei jedoch leider nicht, in welchem Umfang insgesamt Interviews für die Studie geführt wurden. Auf der Grundlage der Theorie von Halbwachs, dass das kollektive Gedächtnis sozial konstruiert sei, vermutet sie, dass auch junge Migranten "Entleihungen" aus diesem Gedächtnis vornehmen und "es biographisch bearbeiten und mit subjektiver Bedeutung versehen" (S. 94f.). Ein Ergebnis ist, dass die Befragten Analogien zwischen ihrer eigenen Situation und der der Opfer in der NS-Zeit herstellen.

Im letzten Text dieses Kapitels stellt Rainer Ohliger die Vorzüge einer multiperspektiven Geschichtsvermittlung in der Einwanderungsgesellschaft heraus. Er argumentiert, dass diese ein Schlüssel sein kann, "um der Konstruktion eines gemeinsamen 'Wir' gerecht zu werden"(S. 125).

Das nächste Kapitel wendet sich unter dem Titel "Biografische Reflexionen" dem Spannungsfeld von Migration, Geschichte und Identität zu. Die erfassten Aufsätze ermöglichen das Eintauchen in sehr persönliche Zugänge zur Geschichte. Sergey Lagodinsky etwa erzählt, wie seine Familie 1993 von Russland nach Deutschland auswanderte. Seine Erinnerungen konzentrieren sich dabei auf gefühlte und tatsächliche Sprachlosigkeit, nachdem er in der neuen Gesellschaft angekommen war. Basil Kerski ist Publizist aus Berlin, 1969 als Sohn einer Polin und eines Irakers in Danzig geboren. Er berichtet von der komplizierten Identitätsfindung als Pole in Deutschland, aber auch von der "Verwurzelung durch Bildung" und der Unterstützung durch seine Lehrer. Den Abschluss dieses Kapitels bilden vier Aufsätze von Preisträgern des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten. Sie schildern ihre vielfältigen Erfahrungen damit, "mehrere kulturelle Identitäten zu besitzen, [und zu] wissen, wie es ist, zwischen Zugehörigkeit und Zerrissenheit zu schwanken" (S. 154). Die Berichte sind sehr persönlich und vermitteln einen Eindruck, welchen Einfluss die subjektive Beschäftigung mit der Geschichte (der eigenen Familie, des Herkunftslandes und Deutschlands) auf die eigene Identität ausüben kann.

Im dritten Kapitel werden verschiedene in der Praxis erprobte Ansätze zur Geschichtsarbeit mit jungen Migranten vorgestellt. Ufuk Topkara wurde 2005 der erste türkischsprachige und muslimische Museumsführer im Jüdischen Museum Berlin. Nachdem er zunächst von den Problemen berichtet, überhaupt ein Publikum für seine Führungen zu finden, gibt er einen Einblick in die Konzeption und Durchführung seines später dann häufig von Schulklassen genutzten Angebots. Er versucht unter anderem durch eine Führung mit dem Titel "Ist der Islam nicht auch so" (S. 181) Interesse für das Museum zu wecken. Bei den Führungen vergleichen Schülergruppen jüdische mit islamischen Riten, in der Hoffnung, dass auf diese Weise "kulturelle Gemeinsamkeiten offengelegt sowie das abrahamitische Erbe anhand der heiligen Bücher Tora und Koran beleuchtet" werden (S. 189). Auch Martin Liepach befasst sich damit, wie Migranten und Migration in Museen berücksichtigt werden können. Er zeigt, wie sich verschiedene Frankfurter Museen durch eine spezifische Themenwahl diesem Anliegen angenähert haben. Gottfried Kößler stellt das Konzept "Konfrontationen" des Fritz Bauer Instituts vor. Dabei handelt es sich um eine "Pädagogische Annäherung an Geschichte und Wirkung des Holocaust" auch für Jugendliche mit Migrationshintergrund.

Karoline Georg, Mirko Niehoff und Aycan Demirel berichten von der "Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus" und zeigen die praktische Umsetzung multiperspektivischer Bildungsarbeit. Interessant an dieser Arbeit ist, dass sie sich unter anderem mit muslimischem und ökonomischem Antisemitismus befasst. Die Autoren fordern, dass historische und politische Bildung stets einen erlernten Umgang mit differenzierten Kategorien anstreben soll, um "die Gefahr von dichotomen Bewertungen gesellschaftlicher, politischer und/oder sozio-ökonomischer Konflikte" (S. 234) zu minimieren. Der letzte Aufsatz von Elke Gryglewski schildert u.a. eine 2008 durchgeführte Reise von Jugendlichen nach Israel als Teil des Projektes "Zugangsmöglichkeiten zur Verfolgungsgeschichte der europäischen Juden für Jugendliche mit Migrationshintergrund". Das Projekt wurde in Kooperation zwischen der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz und dem arabischen Jugendclub Karame e.V. durchgeführt. Trotz positiver Ergebnisse im Sinne von Perspektiverweiterung zeigen die Erfahrungen des Projekts nach Aussagen der Autorin, "dass es unter Jugendlichen arabisch-palästinensischer Herkunft auch Jugendliche gibt, die ein festgefügtes antisemitisches Weltbild haben" (S. 246). Jedoch sieht sie auch pädagogische Chancen in der Anerkennung der Jugendlichen durch die Mehrheitsgesellschaft. Sie beendet ihren Aufsatz mit den Worten: "Je stärker die Identifikation mit der Mehrheitsgesellschaft, umso geringer wird die gefühlte Notwendigkeit, das eigene Opfernarrativ vor den Holocaust zu stellen." (S. 247)

"Crossover Geschichte" widmet sich einem wichtigen und für eine sich aktuellen und praxisnahen Problemen zuwendende Geschichtsdidaktik notwendigen Thema. Zwar werden nicht in jedem der versammelten Texte neue Erkenntnisse oder Positionen deutlich, im Gesamt beeindruckt jedoch die gelungene Mischung aus Theorie und Praxis und die Verortung des Buches zwischen Geschichtsdidaktik, politischer Bildung und Sozialwissenschaft. Positiv zu bewerten ist auch der Umstand, dass sich der Band nicht schwerpunktmäßig der Geschichtsvermittlung an Gymnasien zuwendet. Denn nur wenn auch bildungsferne Schichten Beachtung finden, kann die Geschichtsdidaktik in die "Mitte" der Gesellschaft hineinwirken.

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