V. Egetenmeyr: Die Konstruktion der "Anderen"

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Title
Die Konstruktion der "Anderen". Barbarenbilder in den Briefen des Sidonius Apollinaris


Author(s)
Egetenmeyr, Veronika
Series
Philippika 165
Published
Wiesbaden 2022: Harrassowitz Verlag
Extent
XIII, 451 S.
Price
€ 98,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Oliver Schipp, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Sidonius Apollinaris gehört, wie einleitend festgestellt wird, zu den faszinierendsten Persönlichkeiten des 5. Jahrhunderts, und seine vielschichtigen Schriften beschäftigen Forscher verschiedener Disziplinen.1 In jüngster Zeit sind zudem zahlreiche Monographien erschienen, die sich mit der Person und besonders mit dem Werk des Sidonius beschäftigen.2 In diesen Reigen fügt sich die zu besprechende Druckfassung der Kieler Dissertation von Veronika Egetenmeyr nahtlos ein, wie etwa auch an ihrem Beitrag im Sammelband eines Bonner DFG-Projektes zu sehen ist.3

Zunächst werden die theoretischen Grundlagen und Methoden dargelegt. Angesichts des Buchtitels „Die Konstruktion der ‚Anderen‘“ ist es wenig verwunderlich, dass das Traditionskonzept von Aleida Assmann eine zentrale Rolle für die Untersuchung der Barbarenbilder spielt. Dem Konzept der Tradition wird daher der Vorzug vor etwa dem habitus-Konzept von Pierre Bourdieu gegeben. Der methodische Zugang wird durch die foucaultsche Diskursanalyse präzisiert, um die Fragen nach Alteritäten und Identitäten besser erfassen zu können. Zu den Stärken der Untersuchung gehört dann auch die konsequente Anwendung der beschriebenen Theorien sowie das Durchhalten theoretischer Begrifflichkeiten und Gedankenmodelle in der gesamten Arbeit. Im Abschnitt zur Terminologie definiert Egetenmeyr konzise die zum großen Teil heiklen und umstrittenen Begriffe. Vor allem der Barbarenbegriff sorgt wegen seiner abwertenden Konnotation immer wieder auch in Fachkreisen für Irritationen. In einem längeren Exkurs werden Identitäts- und Alteritätsmerkmale des Barbarenbegriffs erörtert und differenziert.

Einen kurzen Überblick über Raum und Zeit der Studie gibt Egetenmeyr im zweiten Kapitel. Behandelt werden die Briefpartner des Sidonius und der historische Kontext der Briefe im Gallien des 5. Jahrhunderts. Im Anschluss daran wird zur Vorentlastung der eigentlichen Untersuchung das Leben und Werk des Autors vorgestellt. Das Vorbemerkungs- und Methodenkapitel wird mit einer Darlegung der Identifikationsstrategien des Sidonius abgeschlossen. Da die Identität des Sidonius in seinen Schriften je nach Adressaten changiert, seien nur dessen „Lebenswelten“, etwa die des Bischofs oder die des Aristokraten, festzustellen. Aber auch diese seien Veränderungen unterworfen und könnten sich überlagern. Der Untersuchung vom barbarischen „Anderen“ wird noch ein kurzes Kapitel vorausgeschickt, in dem Egetenmeyr die Alteritäten in den Briefen des Sidonius in Adressaten und Leser, andere „Andere“ und in das „barbarische Andere“ differenziert.

Letzteres ist dann Gegenstand der Hauptuntersuchung im fünften Kapitel. Das „barbarische Andere“ wird, wie Egetenmeyr zu Recht feststellt, durch Fehlen von Sprache und Bildung sowie durch den „barbarischen“ Habitus konstruiert. Das „barbarische Andere“ untersucht Egetenmeyr anhand der Stereotypisierung von Barbaren, der obscuritas in den Briefen sowie der Häresie und des Arianismus. Sie kommt in dieser sehr detaillierten Studie zu beachtlichen Ergebnissen: Sidonius verzichtete etwa auf den Barbarenbegriff, da er sich spezieller Topoi bediente; er drückte die Alterität durch traditionelle Stereotypen aus. Trotz der bekannten Schwierigkeit, die Briefe des Sidonius zu datieren, gelingt es Egetenmeyr, verborgene Botschaften, verschleierte Kommunikation und Allusionen aufzudecken, mit denen Sidonius sich und seine lebensweltliche Gemeinschaft von „Anderen“ abgrenzt. Ferner verwende Sidonius den Arianismus als Spiegel der gotischen Alterität, der Glaube sei neben Sprache und Bildung ein weiteres Kriterium, „Andere“ darzustellen. Die Rechtszugehörigkeit, mittels der sich die gallo-römische Aristokratie, also auch Sidonius, von auswärtigen Fremden (barbari) abgrenzte, wird leider nicht untersucht. Aber gerade die Unterscheidung zwischen Römern, die nach römischem Recht lebten, und Barbaren, die nach ihren Stammesrechten lebten (etwa die lex Visigotorum oder die lex Salica), diente der scharfen Abgrenzung der beiden rechtlichen und sozialen Gruppen. Auch in den Briefen des Sidonius findet man Hinweise auf dieses Kriterium.4 Ferner galt für Sidonius die Kenntnis des römischen Rechts als distinktives Merkmal für die Zugehörigkeit zur Romanitas.5

Zum Schluss der Untersuchung werden einzelne Persönlichkeiten vorgestellt, die Sidonius in seinen Briefen aus verschiedenen Gründen charakterisiert. Darunter befinden sich auch Personen, die Sidonius als „Andere“ beschreibt, die aber aus heutiger Perspektive der gallo-römischen Aristokratie zuzuordnen sind, sodass man mit Egetenmeyr von römischen Barbaren und barbarischen Römern sprechen kann.6 Als Beispiel kann der Westgotenkönig Theoderich II. dienen, den Sidonius als nicht-römischen Herrscher beschreibt, unter dessen Herrschaft aber ein aristokratisches, römisches Leben möglich war. Das anfängliche Fremde des Gotenkönigs wurde literarisch überwunden, indem Sidonius ihm römische Tugenden zuschrieb. Aus dem auswärtigen Fremden sei in Sidonius’ Wahrnehmung ein „Anderer“ geworden, der somit Teil von Sidonius’ Lebenswelt wurde.

An dieser Stelle – kurz vor dem Fazit – werden in Rezensionen gerne die sprachlichen Fehler aufgelistet. Dieses Unterfangen ist dem Rezensenten fremd, aber da es offenbar keine Selbstverständlichkeit mehr zu sein scheint, Qualifikationsarbeiten weitestgehend fehlerfrei in den Druck zu geben, sei hervorgehoben, dass bei der Lektüre keine grammatikalischen oder orthographischen Nachlässigkeiten aufgefallen sind. Der Band ist ferner mit einigen Abbildungen und Tabellen bestens ausgestattet und wird mit dem Literaturverzeichnis und einem Quellen-, Personen- und Stellenregister abgeschlossen.

Egetenmeyr ist es gelungen, durch die konsequente Anwendung der methodischen und theoretischen Vorüberlegungen, die Barbarenbilder des Sidonius herauszuarbeiten. Sie leistet damit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis von Veränderungen und Kontinuitäten in dieser Übergangszeit von der Spätantike zum Frühmittelalter. Der abschließend geäußerte Wunsch, weitere Forschungsarbeiten zu den Barbarenbildern der Autoren des 4. bis 6. Jahrhunderts anzustoßen, dürfte in Erfüllung gehen. Vor allem aber die Erkenntnis, dass das traditionelle Verständnis von Fremdheit in den nachrömischen Königreichen dahingehend zu revidieren ist, dass das „Andere“ nicht die Barbaren, sondern das Barbarische die „Anderen“ definiert, gilt es, in künftigen Forschungsarbeiten zu beachten. Der Band wird mit der eingangs genannten Literatur die weitere Forschung in diesem Forschungsfeld prägen.

Anmerkungen:
1 Zum Beispiel die Archäologie: Philipp von Rummel, Habitus barbarus. Kleidung und Repräsentation spätantiker Eliten im 4. und 5. Jahrhundert, Berlin 2007.
2 Genannt seien nur die jüngsten deutschsprachigen Beispiele: Raphael Schwitter, Umbrosa lux. Obscuritas in der lateinischen Epistolographie der Spätantike, Stuttgart 2015; Tabea Meurer, Vergangenes verhandeln. Spätantike Statusdiskurse senatorischer Eliten in Gallien und Italien, Berlin 2019; Hendrik Hess, Das Selbstverständnis der gallo-römischen Oberschicht. Übergang, Hybridität und Latenz im historischen Diskursraum von Sidonius Apollinaris bis Gregor von Tours, Berlin 2019.
3 Veronika Egetenmeyr, Kontingenz und die Konstruktion des „Anderen“: Die Darstellung von „Barbaren“ als Ausdruck von Kontingenzbewältigung?, in: Matthias Becher / Hendrik Hess (Hrsg.), Kontingenzerfahrungen und ihre Bewältigung zwischen imperium und regna. Beispiele aus Gallien und angrenzenden Gebieten vom 5. bis zum 8. Jahrhundert, Göttingen 2021, S. 121–154.
4 Sidon. epist. 8,6,7: Auf einem Provinzlandtag feiern die „gallo-römischen“ Großgrundbesitzer die Einführung der praescriptio triginta annorum, welche nach römischem Recht die Landflucht der Bauern unterbinden sollte; ein Recht, welches etwa den angesiedelten Visigoten in Aquitanien fehlte.
5 Sidon. carm. 7; epist. 2,1,3 und 7,7.
6 So ähnlich schon Philipp von Rummel, Unrömische Römer und römische Barbaren: Die Fluidität vermeintlich präziser Leitbegriffe der Forschung zum spätantiken Gallien, in: Steffen Diefenbach / Gernot Michael Müller (Hrsg.), Gallien in Spätantike und Frühmittelalter: Kulturgeschichte einer Region, Berlin 2013, S. 277–293.

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