J. Cahn u.a. (Hrsg.): Religion und Laizität

Titel
Religion und Laizität in Frankreich und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Religions et laicité en France et en Allemagne aux 19e et 20e siècles


Herausgeber
Cahn, Jean-Paul; Kaelble, Hartmut
Reihe
Schriftenreihe des Deutsch-Französischen Historikerkomitees 5
Erschienen
Stuttgart 2008: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
197 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim Schmiedl, Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar

Viele Missklänge im Europa der 27 Länder ergeben sich aus unterschiedlichen Rechts- und Mentalitätskulturen. Für Deutschland und Frankreich sind diese Differenzen unter anderem in der Trennung von Kirche und Staat bei Wahrung gegenseitiger Hilfe auf der einen und einer strikten „laïcité“ auf der anderen Seite festzumachen. Der vorliegende Sammelband illustriert diese Unterschiede. Das französische Konzept der Laizität, gesetzlich festgeschrieben im Jahr 1905, hat seine Wurzeln in der Revolution von 1789 und im Antiklerikalismus des 19. Jahrhunderts. Davon hebt sich das deutsche Konzept der freundlichen Säkularität ab. Beide, so der Herausgeber Jean-Paul Cahn in seiner Einleitung, besetzen einen wesentlichen Platz im Leben des heutigen Europa. Die Fallstudien des Bandes gehen denn auch konsequent von einem komparatistischen Ansatz aus, nehmen über Personen oder die lokale Ebene auf beide Länder Bezug und umfassen in ihrem zeitlichen Ansatz das gesamte 19. und 20. Jahrhundert.

So zeichnet Françoise Knopper anhand des Reisetagebuchs des deutschen Journalisten Moritz Hartmann die demokratisch-sozialistischen Zirkel der Provence und des Languedoc nach. Philippe Alexandre analysiert die Reaktionen in der deutschen Presse auf die Trennung von Schule und Religionsunterricht 1882. Die Konflikte um die Einflüsse von Kirchen- und Ortsgemeinde auf ein Unternehmen innerhalb der Herrnhuter Brüdergemeine um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beschreibt Heidrun Homburg. Eine vergleichende Studie von Jean Philippon macht deutlich, dass der Laizismus keine intellektuelle Angelegenheit war, sondern sich auf der dörflichen Ebene in den Auseinandersetzungen um Schule und Wohlfahrtspflege niederschlug. Dass geographische Nähe durchaus zu unterschiedlichen Spielräumen der Religionsausübung führen konnte, zeigt Stephanie Schlesier an jüdischen Gemeinden in Lothringen und der preußischen Rheinprovinz. Interesse an Palästina hatten im 19. und 20. Jahrhundert sowohl Deutschland als auch Frankreich; Dominique Trimbur sieht in den nationalen Einrichtungen der beiden Länder in Palästina allerdings eher Ersatzhandlungen für gescheiterte territoriale Interessen. Die Schulfrage wurde in der französisch besetzten Zone Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aktuell; die Waage neigte sich am Ende von der Simultanschule zur Einrichtung konfessionell gebundener öffentlicher und privater Schulen, wie Caroline Doublier herausarbeitet. Frédéric Hartweg betrachtet die Ereignisse um den 17. Juni 1953 in der DDR unter dem Blickwinkel der protestantischen Kirchen und ihrer sich verengenden Handlungsspielräume. Einen diskursanalytischen Zugang wählt Pascal Eitler für seine These der „Politisierung der Religion“ in den Jahren um 1968: Er untersucht die „Wende zur Welt“ als Deutungsmuster der Politischen Theologie. Wie unterschiedlich geprägt in Theorie und Praxis die Familienpolitik in den beiden religionspolitischen Systemen ist, zeigt Anne Salles. Ihre These: Zwischen der Familienpolitik der evangelischen und der katholischen Kirche in Deutschland gibt es mehr Gemeinsamkeiten als zwischen den katholischen Kirchen Frankreichs und Deutschlands. Auch im Verhältnis zum Islam zeigen sich gravierende Unterschiede. Die Kopftuchfrage führte in Deutschland nicht zu einem einheitlichen Gesetz, sondern zu föderalen Lösungen. Gilles Leroux folgert daraus: „Letzten Endes spiegelt der Umgang mit der Frage des muslimischen Kopftuches auch die Einstellung der französischen und der deutschen Gesellschaft zur Einwanderung und Integration und die unterschiedlichen Ansprüche zwischen Multikulturalismus und ‚Leitkultur’ wider.“ (S. 167). Das gilt gerade für Deutschland, wo seit dem Kaiserreich die Konfessionszugehörigkeit entscheidend für das Wahlverhalten war. Adolf Kimmel weist nach, dass die konfessionelle Bindung nach wie vor in der Entscheidung für eine Partei eine wichtigere Rolle spielt als die soziale Klasse.

Die Beiträge des Sammelbandes spannen einen breiten Rahmen, sowohl zeitlich als auch thematisch. Es wird deutlich, wie unterschiedlich die politischen und gesellschaftlichen Kulturen der beiden Nachbarländer Deutschland und Frankreich sind. Der von den Autoren konstatierte „tiefe Graben“ hat seine Wurzeln in der je eigenen Haltung zur Revolution von 1789, aber auch in der Ambiguität des deutschen Kulturkampfs. Insgesamt stellt sich jedoch die Frage, ob die konstatierten Unterschiede immer noch so stark empfunden würden, wenn die Studien auf die Zeit nach 1989 und die ehemalige DDR ausgeweitet worden wären. Zumindest müsste man die religiöse Bindung weniger entscheidend bewerten. Diese Forschungsergebnisse könnten jedoch die durchgehende Fragestellung des Sammelbandes anschärfen: Wird die Zukunft Europas eher vom französischen Modell der Laizität oder vom deutschen Modell der Säkularität geprägt sein? Man darf auf die Entwicklung gespannt sein.