M. John: Die Anfänge des sozialistischen Realismus

Cover
Titel
Die Anfänge des sozialistischen Realismus in der sowjetischen Musik der 20er und 30er Jahre. Historische Hintergründe, ästhetische Diskurse und musikalische Genres


Autor(en)
John, Michael
Erschienen
Bochum 2009: projekt verlag
Anzahl Seiten
660 S.
Preis
€ 32,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Belge, Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübingen

Die Frage, wie die Doktrin des Sozialistischen Realismus in der Sowjetunion in das Feld der Musik übersetzt wurde ist, im Gegensatz zu Literatur und Kunst, ein nach wie vor offenes Forschungsfeld. Sie beschäftigt Musikwissenschaftler und Historiker schon seit geraumer Zeit, wobei in den letzten Jahren die kulturwissenschaftliche Perspektive mehr Aufmerksamkeit erfahren hat. Michael John verspricht in seinem Buch neue Zugänge: Durch die Re- und Dekonstruktion musikästhetischer Diskurse möchte er zu einem „objektivierten“ Geschichtsbild jenseits ideologisierter Historiographie gelangen (S. 36).

Die Monographie ist in drei Teile gegliedert. Im ersten beschäftigt sich John mit der institutionellen und ästhetischen Vorgeschichte seines Untersuchungsgegenstands im 19. Jahrhundert, der Narodnitschestwo-Bewegung. Der zweite Teil geht auf die sowjetische Ausprägung der Idee des Sozialistischen Realismus in Erziehung, Arbeiterklubs, Massenaufmärschen und Publikationen ein. Zuletzt wird die Genese neuer musikalischer Formen und Gattungen in den Blick gerückt, die John als Reaktion auf die ästhetischen Diskurse der 1920er- und 1930er-Jahre deutet.

Mit dem ersten Abschnitt knüpft John an eine Reihe von Arbeiten an, die „1917“ als Zäsur relativieren und stattdessen die Kontinuität von Personen, Ideen und Vorstellungen betonen, die sich vom späten russischen Kaiserreich in die Frühphase der Sowjetunion erstreckte. Die gerade im Aufsteigen begriffene Ethnologie mystifizierte den Volksbegriff am Ende des 19. Jahrhunderts. Dies führte dazu, dass Musikethnologen in ihren Studien eine „Wiedergeburt“ der russischen Volksmusik zu erreichen suchten. Ihren Niederschlag fand diese weltliche Bewegung auch in der Moskauer Synodalschule, die ihren geistigen Inhalt nun ebenfalls im Gewand „volkstümlicher“ Musik transportieren wollte. Aleksander D. Kastalski, seit 1910 Leiter der Synodalschule, galt später als einer der wichtigsten Aktivisten des Proletkult und steht damit für die Kontinuität solcher Ideen, deren „pantheistische und quasireligiöse Verklärung des Volkes“ vor allem für die stalinistische Propaganda fruchtbar gemacht wurde (S. 165).

Die folgenden Kapitel beziehen sich auf die institutionelle und organisatorische Ausprägung des Sozialistischen Realismus im frühsowjetischen Musiksystem. Besonderes Augenmerk legt John auf pädagogische Debatten über die frühkindliche Musikerziehung, die einen Weg zum „richtigen“ Hören weisen sollte, denn: „Durch Wahrnehmung von Musik sollte das Bewußtsein verändert werden.“ (S. 227). Der „Neue Mensch“ sollte auch auf neue Art und Weise hören. Hierbei übernahmen führende Theoretiker wie Boris Asafjew Erkenntnisse aus neu etablierten Wissenschaften, zum Beispiel aus der Kognitionspsychologie und der Reflexologie. Ihr Anliegen war das unvermittelte Hören. Aus diesem Hörprozess ergäben sich einerseits musikalische Bausteine (nawyki), die künftiges Hören strukturierten, andererseits würden Assoziationen und Emotionen ausgelöst, die nachhaltig auf den Charakter und das Bewusstsein einwirkten.

Institutionell verlagerte sich das Interessengebiet der Musikideologen aus den Arbeiterklubs der 1920er-Jahre, in denen neue Formen des Musizierens erprobt wurden, hin zu den Massenfesten der 1930er-Jahre. Bei dieser Form inszenierter Öffentlichkeit hatte das „Volk“ das Proletariat als geschichtliche Trägerschicht abgelöst, um die Einheit der sowjetischen Nationen zu feiern. Der Weg zur Musik der Massenfeste führte über die Verbindungen von Arbeiterchören auf Musikolympiaden und die dortige Inszenierung der „Musik der Massen“ (S. 251).

Anschließend zeichnet das Buch anhand von Beiträgen in zentralen musikwissenschaftlichen Zeitschriften und Publikationen die Deutungskämpfe um den Begriff des Sozialistischen Realismus nach. Eine zentrale Ursache für die Uneindeutigkeit des Begriffs sieht John in der Heterogenität seiner ideengeschichtlichen Wurzeln im 19. Jahrhundert. Die heftigen Gefechte um eine Begriffsbestimmung in den 1920er-Jahren, in denen beide Lager vor allem die ideologischen Kampfbegriffe „Formalismus“ und „Materialismus“ einsetzten, ebbten in den 1930er-Jahren ab, weil immer mehr theatralische Elemente in die Musik aufgenommen wurden. Sie ersetzten den Formalismus-Materialismus-Streit durch eine Inszenierung der Eindeutigkeit, die jedoch zum Selbstzweck wurde (S. 356).

Zuletzt beleuchtet John das Massenlied als neue sowjetische Kunstform, die Umdeutung der klassischen Symphonie durch den Sozialistischen Realismus und die Wirkung dieser Idee für die Filmmusik der 1930er-Jahre. Das Massenlied bettet er in einen gesellschaftsgeschichtlichen Kontext ein, um aufzuzeigen, dass der experimentelle Charakter der 1920er-Jahre durch eine Ritualisierung und durch neoklassische bzw. neoromantische Stilistiken in den 1930er-Jahren abgelöst wurde. Großen Wert legt das Kapitel auf die wechselseitige Bedingung von Massenlied und Alltag: Es „sollte die Wahrnehmung des Alltags verändern und war doch selbst als integrativer Bestandteil dieses Alltags der Veränderung unterworfen.“ (S. 446) Das Lied drang auch in die Form der klassischen Symphonie ein. Die „Liedsinfonie“ entwickelte sich schnell hin zu einem „stalinistischen Rokoko“, das durch schwülstigen Klang die Herzen der Massen bewegen sollte. Ein klassisches Beispiel hierfür stellt die Liedsymphonie „Holland“ von Klimenti Kortschmarjow dar, die einen Matrosenaufstand zum Thema hat.

Die Dissertation ist einerseits das Ergebnis intensiver und akribischer Durchdringung der sowjetischen Musiklandschaft der 1920er- und 1930er-Jahre. Sie überwindet die übliche Engführung musikgeschichtlicher Darstellungen auf Werke und Personen, indem sowohl die Rezeption als auch musikwissenschaftliche Debatten und die Wechselwirkungen mit politischen Forderungen in den Blick genommen werden. Für einige Passagen wäre aber eine pointiertere Darstellung sinnvoll gewesen. Die lange Hinführung zum Thema und der ausführliche Forschungsstand zu Beginn des Buches hätten gekürzt werden können, um so den innovativen Teilen mehr Raum zuzuweisen.

John präsentiert viele Primärquellen zum ersten Mal. Ausführliche Zitatpassagen lassen leider mitunter eine Rückkopplung an den vorher referierten Forschungsstand vermissen. Insbesondere Johns Behauptung, der Sozialistische Realismus sei bisher in der Forschung als „monolithisch“ und „starr“ (S. 31) wahrgenommen worden, deckt sich keineswegs mit Erkenntnissen jüngerer Werke zu diesem Thema. Diese verwiesen auf die Heterogenität des Begriffs des Sozialistischen Realismus.1 Darüber hinaus fällt die Einordnung und Kontextualisierung des Untersuchungsgegenstands in bisherige Studien für die Felder Kunst und Literatur zurückhaltend aus. Vor allem Katerina Clarks klassische Analyse des Sozialistischen Realismus wäre hier produktiv gewesen.2

Dennoch ist die Monographie ein wertvoller Beitrag zur sowjetischen Musikgeschichtsschreibung, da John viele Primärquellen zugänglich macht und den Weg zu wichtigen Knotenpunkten weist. Das Buch entfaltet dort seine eigentliche interpretative Stärke, wo es die Schnittstellen von ideengeschichtlichen Wurzeln des 19. Jahrhunderts, institutionellen Ausprägungen der frühen Sowjetzeit und lebensweltlichen Vorstellungen aufzeigt, die schließlich eine spezifisch sowjetische Form von „Musik“ unter den Vorzeichen des Sozialistischen Realismus bildeten.

Anmerkungen:
1 Amy Nelson, Music for the Revolution. Musicians and Power in Early Soviet Russia, University Park, PA 2004; Francis Maes, A History of Russian Music. From Kamarinskaya to Babi Yar, Berkeley 2002.
2 Katerina Clark, The Soviet Novel. History as Ritual, 3. Aufl. Chicago 2000 (1. Aufl. 1981); Chans Gjunter / Evgenij I. Dobrenko (Hrsg.), Socrealističeskij kanon, Sankt-Petersburg 2000.

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