Cover
Titel
Alternative Reiseführer. Entstehung, Verbreitung und Professionalisierung von den 1970er bis zu den 1990er Jahren


Autor(en)
Wendland, Diana
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe A: Darstellungen
Erschienen
Anzahl Seiten
241 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mathias Hack, Leipzig

Wer bereits einmal einen Stapel Reiseführer als Quelle auszuwerten hatte, kann sich einem schleichenden Gefühl von Monotonie oft nicht erwehren. Spätestens nach dem dritten Band mit immergleichem Aufbau und Vokabular, ständigen Wiederholungen von Klischees und dem zehnten vergleichbaren Foto einer Sehenswürdigkeit ist Langeweile präsent. Umso erfreulicher ist es, dass Diana Wendlands Untersuchung von 56 alternativen deutschsprachigen Reiseführern alles andere als eintönig ausfällt. Die Autorin stößt mit ihrer Studie in das bisher wenig bearbeitete Feld des alternativen Tourismus1 vor und gibt mit ihrem Fokus auf den „im alternativen Reiseführer entwickelten Symbolkonsum [...] und der aus ihm folgenden touristischen Orientierung“ (S. 40) einen Einblick in Identitätskonstruktionen alternativer Milieus. Die Genese des alternativen Reiseführers zwischen 1970 und 1995 in Westdeutschland ordnet Wendland dabei als Teil der Veralltäglichung von Tourismus als Konsumprodukt im Zeitalter nach dem Boom ein.

Unter Alternativtourismus versteht die Autorin eine spezifische touristische Orientierung, deren Kern die Ablehnung von Formen und Praktiken des bürgerlichen Tourismus und des Massentourismus bildet. Von diesen Überlegungen ausgehend skizziert sie im zweiten Kapitel ihres Buches zunächst den Aufstieg des Reiseführers als eine touristische Basis-Innovation im Verlauf des 19. Jahrhundert und seine Rolle als Sehschule des Massentourismus ab den 1920er-Jahren in Deutschland.2 Mitte der 1960er-Jahre gaben Neubewertungen der Kategorien Geld und Zeit in alternativen Milieus laut Wendland den Anstoß für einen anderen Tourismus inklusive alternativer Literaturformate. Diese Entwicklungen knüpften auch an ältere vom Pauschaltourismus abweichende Traditionen wie den Jugendtourismus der Nachkriegszeit an.

Die Entwicklung des alternativen Reiseführers teilt Wendland anschließend in drei Phasen ein: In der sogenannten Inkubationsphase bis 1976 fungierte der Reiseführer zunächst hauptsächlich als „authentizitätsversprechende Distinktion im alternativen Milieu“ (S. 64). Wer alternativ reiste, verfasste einen subjektiven Bericht darüber, um seine Andersartigkeit zu zeigen. In der anschließenden Verbreitungsphase zwischen 1976 und 1985, der mehr als zwei Drittel der untersuchten Reiseführer entstammen, entwickelte sich der Reiseführer zu einem Medium der Popularisierung einer spezifischen Vision des „richtigen“ Reisens. Darunter fällt auch der Vorzug von außereuropäischen Reisezielen wie Nordafrika, Südamerika oder Südostasien vor Zielen in Europa, die vielfach pauschal dem Massentourismus zugeordnet wurden. Zugleich weitete sich das Feld der Autor:innen von Reiseführern, die sich in Selbstverlagen und Autor:innengemeinschaften wie Globetrotter schreiben für Globetrotter (GsfG) zur organisieren begannen. In der laut Wendland bis heute andauernden Etablierungsphase kam es schließlich zu einer Professionalisierung sowie Etablierung alternativ-konventioneller Führer, womit sie ein „Scheitern“ der alternativen Projekte bereits andeutet.

Methodisch bleibt die Arbeit einem intertextuellen Ansatz verpflichtet. Wendland unterteilt nach Genette den Inhalt ihrer Quellen in Paratexte und Basistexte. Anhand der Kommentierung des eigentlichen Inhalts (Basistexte) von Reiseführern durch Paratexte wie Titel, Vorworte, Bilder und Karten arbeitet sie in ihrem dritten Kapitel zwei entscheidende Merkmale alternativer Reiseführer heraus: Erstens sollte der Reiseführer im Anspruch lediglich ein Informationshandbuch zum praktischen und günstigen Reisen sein und nicht vermitteln, was sehenswert sei. Zweitens wurde den Leser:innen bei Umsetzung der Hinweise eine Steigerung der Authentizität ihrer Reise versprochen. Diese Authentizität musste auch das Reisehandbuch beziehungsweise dessen Autor:in selbst aufweisen und so finden sich laut Wendland Authentizitätsmarker auf allen Ebenen der Bücher. Häufig wurden beispielsweise Bilder vom dreckigen, selbst gefahrenen Auto in der Wüste oder traditionell gekleideten Frauen mit Kindern auf dem Arm abgedruckt, um nur zwei Motive zu nennen, mit denen Autor:innen die Authentizität ihrer Reise und ihres Aufenthaltsortes zu unterstreichen suchten. In den zahlreichen Beschreibungen von Begegnungen und Hinweisen zur Kontaktaufnahme mit lokalen Bewohner:innen sieht die Autorin eine Abgrenzungsstrategie von alternativ Reisenden gegenüber anderen Touristen. Gleichzeitig stellt sie eine Stereotypisierung von Menschen als edle Wilde fest, da die Empfehlung einer intensiven Begegnung mit der lokalen Bevölkerung Narrative von Exotik, „Unverdorbenheit“ oder „Unverbrauchtheit“ (S. 163f.) des Globalen Südens bedienten. Im Gegensatz zum sightseeing des Pauschaltourismus werde laut Wendland in den alternativen Reiseführern lifeseeing zelebriert, um die Kulisse der staged authenticity des Tourismus zu durchbrechen.3 Durch die Auswertung verschiedener Auflagen einzelner Reiseführer und Rezensionen, Artikel und Leserbriefen in der Zeitschrift Der Trotter zeigt Wendland das Empfehlungen dieses lifeseeings wie das heimliche Fotografieren des Alltags der lokalen Bevölkerung oder „Sex für das authentische Urlaubserlebnis“ (S. 166) bereits zeitgenössisch stark diskutiert wurden. Die Essentialisierung außereuropäischer Kulturen in den Reiseführern verhinderte laut Wendland die Entstehung der eigentlich gewünschten „neuen gegenwartsorientierten touristischen Orientierung“ (S. 189). Vielmehr wurde ein ethnological oder authentic gaze konstruiert, womit die alternativen Reiseführer entgegen ihrem Anspruch als Sehschulen und Vermittler des Sehenswerten fungierten.

Die herausgearbeiteten Diskrepanzen zwischen Anspruch und Narration bezeichnet die Autorin als nicht überraschendes Ergebnis ihrer Untersuchung. Gerade die quellengesättigte und ausgewogene Auseinandersetzung mit diesem ambivalenten Charakter der Reiseführer und deren Produktionsumfeldern zählt allerdings zu den Stärken der Arbeit. Mit dem Buch liegt eine überzeugende empirische Studie von Distinktions- und Aushandlungsprozessen im alternativen Tourismus der westdeutschen Gesellschaft vor. Die schleichende Konventionalisierung der alternativen Reiseführer und das „Scheitern“ alternativer Reiseansprüche lässt sich dabei nicht nur wie in Diana Wendlands Fazit als Normierung touristischer Orientierungen, sondern auch als ein Beispiel der Angleichung alternativer Milieus an den vermeintlichen Mainstream westlicher Gesellschaften insgesamt verstehen.

Offen bleibt in der Arbeit die Bedeutung alternativer (Reise-)Milieus aus dem Ausland bei der Produktion, Gestaltung und Ausrichtung von Reiseführern in der Bundesrepublik. Die Arbeit wirft jedoch nicht nur Fragen nach Austausch, Kooperation und Konkurrenz in transnationalen Netzwerken auf, sondern regt auch dazu an, zu fragen, welche Rolle lokale Akteur:innen bei der Produktion der alternativen Reiseführer an den Zielorten spielten und wie sie dem ethnological gaze begegneten. Der durch die Reiseführer festgeschriebene Vorzug außereuropäischer Regionen als Reiseziele des alternativen und „richtigen“ Reisens eröffnet zudem den Blick auf Modernitätsdiskurse, Eurozentrismus und Diskussionen um die (Neo-)Kolonialität des Tourismus insgesamt. Eine globalhistorische Erweiterung der Tourismusgeschichte kann diesen Desideraten Abhilfe verschaffen und dabei nun auf die gelungene Studie von Diana Wendland zurückgreifen.4

Anmerkungen:
1 Eine der wenigen Arbeiten stammt von Isabel Richter, Alternativer Tourismus in den 1960er und 1970er Jahren. Transkulturelle Flows und Resonanzen im 20. Jahrhundert, in: Alexander Gallus / Axel Schildt / Detlef Sigfried (Hrsg.), Deutsche Zeitgeschichte – transnational (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd. 53), Göttingen 2015, S. 155–178.
2 Hasso Spode, Wie die Deutschen ‚Reiseweltmeister‘ wurden. Eine Einführung in die Tourismusgeschichte, Erfurt 2003, S. 53.
3 Dean MacCannel, The Tourist. A New Theory of the Leisure Class, London 1976.
4 Moritz Glaser / Gabriele Lingelbach, Tourismusgeschichte in globalhistorischer Erweiterung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 69 (2018), S. 125–139.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch