Die Zionismusforschung hat in den letzten Jahren Personen und Akteure sowie deren Engagement für und Einfluss auf die zionistische Bewegung in den Blick genommen, die bisher wenig Beachtung gefunden haben. Dazu gehören Studien über das Engagement von Frauen in der zionistischen Bewegung oder auch die Biografien über David Wolfssohn (1850er-Jahre bis 1914) und Theodor Zlocisti (1874–1943).1 Lisa Sophie Gebhard reiht sich in diese Forschungslandschaft ein und legt mit ihrer Dissertationsschrift erstmals eine Biografie zu Davis Trietsch (1870–1935) vor, die das Bild der im Frühzionismus wirkenden Personen um einen weiteren Akteur erweitert.
Mit der vorliegenden Studie verbindet die Autorin die Intention, „die wichtigsten Fäden zusammenhängend zu fassen, die das facettenreiche Lebenswerk von Trietsch gesponnen hat“ (S. 10) und damit das Werk und Leben von Trietsch verbindend zu interpretieren. Die Studie gliedert sich dabei in acht Kapitel, in denen die Autorin Trietschs zionistische Projekte und seine dahinterstehenden Palästina-Visionen sowie die Zusammenarbeit und Konflikte mit Akteuren der zionistischen Bewegung im In- und Ausland unter Einbezug verschiedener, zeitgenössischer Debatten untersucht. Die Autorin verbindet im Großteil des Buches nachvollziehbar biografische und systematische Analysen miteinander. Allerdings verzichtet sie in ihrer Einleitung auf die Nennung ihres Quellenkorpus, was angesichts der großen Zahl an von Trietsch verfassten und von ihr in die Interpretation eingebundenen Schriften – neben der Auflistung im Quellen- und Literaturverzeichnis – eine hilfreiche Ergänzung für die Leser:innen gewesen wäre.
Die Studie beginnt mit den Erfahrungen von Trietsch in den USA, wo er als junger Mann lebte und infolgedessen die prekären Lebensverhältnisse osteuropäischer Jüd:innen in New York beobachtete und aufzeichnete. Die Einwanderungsrestriktionen wie auch der in den USA zunehmende Antisemitismus führten zu seiner Überzeugung, dass Jüd:innen nur in Palästina sicher leben könnten und bildeten den Grundstein für sein zionistisches Engagement, das sich in den darauffolgenden Jahren in einer Vielzahl an Vorträgen und Publikationen sowie in der Planung und Durchführung verschiedener Projekte zur Ansiedlung von Jüd:innen in Palästina abbildete, die in erster Linie der Rettung von osteuropäischen Jüd:innen dienen sollten. In diesem Kontext warb er unter anderem für das Konzept eines „Greater Palestine“ (S. 15), das die territoriale Erweiterung Palästinas um angrenzende Gebiete vorsah. Im Zentrum seines Konzeptes stand die Insel Zypern, sodass er immer wieder auf Zionistenkongressen und in Fachartikeln für eine Ansiedlung von Jüd:innen auf der Mittelmeerinsel warb. Infolge der ungewohnten klimatischen Bedingungen sowie der schwierigen Wohn- und Arbeitssituation und einer daraus resultierenden Unzufriedenheit kam es zum Abbruch des Projektes.
Im Rahmen weiterer von Trietsch initiierter Projekte schildert die Autorin nicht nur seine Visionen, sondern auch die Auseinandersetzungen mit anderen Führungspersönlichkeiten der Zionistischen Organisation (ZO). So geriet Trietsch beispielsweise im Verlauf des sechsten Zionistenkongresses, der 1903 in Basel stattfand, wegen unterschiedlicher Siedlungsvorstellungen mit Theodor Herzl in Konflikt. Des Weiteren zeigt die Autorin auf, dass im Unterschied zum Großteil der Akteure der Zionistischen Bewegung Trietsch über keine akademische Ausbildung und folglich über keinen akademischen Titel verfügte. Die im Rahmen der studentischen Kooperationen geknüpften Beziehungen bildeten jedoch ein wichtiges Netzwerk für die Arbeit in der Zionistischen Bewegung: so waren die im Rahmen der Studentenverbindungen durchlaufene Sozialisation und die daraus resultierenden Kontakte wichtige Voraussetzungen für das eigene Ansehen und den eigenen Erfolg in der Zionistischen Bewegung. Trietsch, dem eine solche Sozialisation in akademischen Kreisen fehlte und damit zusammenhängende Verhaltensnormen ablehnte, fand sich infolgedessen häufig in Auseinandersetzungen mit Autoritäten wieder. Unter Bezugnahme auf seine Kindheit – insbesondere auf die autoritäre Erziehung in einem „Internat für bedürftige Jungen“ (S. 134), in dem er nach dem frühen Tod seiner Mutter aufwuchs – lässt der Lebenslauf von Trietsch, so die Autorin, Rückschlüsse auf seine Verhaltensmuster und seine Agitation im Rahmen der zionistischen Bewegung zu. Hierbei wäre es hilfreich gewesen, die Informationen zu Trietschs Kindheit und Jugend früher einzuführen, um sie noch aktiver in die Interpretation einzubinden.
Im zweiten Teil der Studie beschäftigt sich Lisa Sophie Gebhard mit dem Einfluss der USA auf die zionistische Aufbauarbeit in Palästina, in dem sie den Wissenstransfer aus den USA anhand des Engagements von Trietsch für die Übernahme neuer Techniken in verschiedenen landwirtschaftlichen Bereichen rekonstruiert. Während Experten aus der ZO erst Anfang der 1920er-Jahre Studienreisen in die USA unternahmen und infolgedessen Erfahrungen aus den USA systematisch in ihre Pläne für den Aufbau Palästinas miteinbezogen, hatte sich Trietsch bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts intensiv mit technischen Innovationen aus den USA beschäftigt. Hintergrund seiner Beschäftigung mit moderner Technik aus den USA war seine Vorstellung, dass es für die Emigration einer möglichst großen Zahl an Jüd:innen nach Palästina essenziell sei, die begrenzten Anbauflächen in Palästina effizient zu nutzen und die Landwirtschaft mit industriellen Methoden zu fördern. Beispielsweise investierte er in die „Fortuna-Pflanzensetzmaschiene“ (S. 240), die eine maschinelle Umpflanzung von Getreide ermöglichen sollte.
Zu seiner Auseinandersetzung mit amerikanischer Technik gehörten auch die Reisen in die USA, die wichtig wurden, um persönliche Kontakte zu Experten aufzunehmen und sich vor Ort über neue Techniken im Getreideanbau oder in der Seidenrauben- und Geflügelzucht zu informieren. In Trietschs konkreter Auseinandersetzung mit technischen Neuerungen offenbaren sich auch seine Vorstellungen für die Ansiedlungen in Palästina: im Gegensatz zur Erschließung des Landes durch Chaluzim (hebr. Pioniere) – wie es den Vorstellungen der zionistischen Organisation entsprach – befürwortete er auch die Ansiedlung „älterer“ Menschen, die durch den Einsatz moderner Techniken in Palästina keine körperliche, anstrengende Arbeit mehr zu leisten hätten. In diesem Kontext plädierte er unter anderem für gartenstädtische Siedlungen als eine Verbindung von städtischer und ländlicher Lebensweise, die den Bewohner:innen ein Leben und Arbeiten in kleinindustriellen Betrieben ermöglichen sollten. Zudem setzte Trietsch sich für die Gründung landwirtschaftlicher Siedlungen in der Nähe von Städten ein, deren Lebensgrundlage die Hühnerzucht bilden sollte.
Diese Vision wurde mit der Gründung von Ramot HaShavim verwirklicht, denn in der nach Plänen von Trietsch gegründeten Siedlung stellte die Hühnerzucht die Haupteinnahmequelle dar, was sie von anderen Siedlungen unterschied, die auf dem Prinzip der Mischwirtschaft basierten. Die moderne Hühnerzucht in Palästina, wie sie in Ramot HaShavim umgesetzt wurde, basierte auf den aus den USA importierten Hühnerrassen, der Einweisung in die Hühnerzucht durch einen amerikanischen Experten und der Verwendung von US-Geräten wie Brutkästen und Käfigen, die aber nicht 1:1 imitiert, sondern an die Bedingungen in Palästina angepasst wurden. Am Beispiel von Ramot HaShavim gelingt es der Autorin aufzuzeigen, wie sich die Vision einer Hühnerzucht als Tätigkeitsfeld für „ältere“ Menschen realisieren ließ, da die Bewohner:innen dieser Siedlung in der Mehrheit zwischen 36 und 55 Jahren alt waren und aus bürgerlich-akademischen Verhältnissen kamen.
Ramot HaShavim fungiert als ein gelungenes Beispiel für die praktische Umsetzung einer zionistischen Vision von Trietsch, die unabhängig von der Zionistischen Organisation realisiert wurde. Infolgedessen ist als ein Erkenntnisgewinn der Studie zu benennen, dass die Autorin am Beispiel von Trietschs Engagement für Ramot HaShavim die Heterogenität des zionistischen Aufbauwerks aufzeigt und damit die verschiedenen Initiativen einzelner Zionisten vor Ort und ihre jeweils eigenen Vorstellungen vom Aufbau Palästinas sichtbar macht. In der Gesamtheit ihrer Darstellung gelingt es Lisa Sophie Gebhard, eine überzeugende, argumentativ schlüssige Studie vorzulegen, mit der sie das Bild der Akteure des Frühzionismus um das Wirken eines bislang vergessenen Zionisten und seiner vielfältigen zionistischen Projekte erweitert. Zugleich generiert ihre Studie neue Erkenntnisse über den transnationalen Wissenstransfer im Kontext zionistischer Netzwerke, besonders über die Anfänge der industriellen Hühnerzucht in Palästina und deren Auswirkungen auf das heutige Israel.
Anmerkung:
1 Vgl. Tine Bovermann, Zionistinnen. Gegenwartsarbeit als frauenpolitisches Konzept in der zionistischen Bewegung in Deutschland, Berlin 2022; Ivonne Meybohm, David Wolfssohn. Aufsteiger, Grenzgänger, Mediator. Eine biographische Annäherung an die Geschichte der frühen Zionistischen Organisation (1897–1914), Göttingen 2013; Albrecht Spranger, Theodor Zlocisti. Die multiplen Zugehörigkeiten eines Zionisten, Berlin 2020.