Die Handschrift 673 der Stiftsbibliothek Sankt Gallen, die erstmals von Carlos Larrainzar in die kanonistische Forschungsdiskussion eingebracht worden ist1, hat in den anhaltenden Debatten um die Entstehung des zentralen Referenzcorpus für die Herausbildung wissenschaftlicher Kanonistik, des Decretum Gratiani, besondere Aufmerksamkeit gefunden. Denn der Text des Dekrets, den der Codex überliefert, lässt sich nicht eindeutig einer der beiden in der grundlegenden Untersuchung von Anders Winroth2 unterschiedenen Versionen des Dekrets zuordnen, sondern hält zu beiden in unterschiedlicher Weise Distanz. Die Beiträge der vorliegenden Publikation, die zum größeren Teil auf eine im Jahr 2018 in Sankt Gallen abgehaltene Tagung zurückgehen, wollen diesem Befund gerecht werden, indem sie den Überlieferungsträger selbst in den Vordergrund stellen und dabei nicht nur dessen Materialität, sondern auch den überlieferten Text als individuelles Zeugnis ernst nehmen. Aus dem großen Spektrum methodischer Zugänge, die dafür genutzt werden, dürften nicht nur die methodisch vorbildlichen Analysen zu Kodikologie, Paläographie und Annotationstechnik hochmittelalterlicher Rechtshandschriften auch über die Forschung zu Gratian hinaus Interesse finden. Die vielfältigen Beobachtungen zur Rezeption des römischen Rechts, zur Ausbildung und Vermittlung von Rechtswissen oder zu Entwicklung und Praxis der Rechtsschulen und der frühen Dekretisten, die Gratians Werk nutzten und kommentierten, eröffnen vielmehr ganz konkrete Einblicke in eine intellektuell überaus rege Epoche des Aufbaus und der Vermittlung neuer Wissensbestände.
Die rechts-, bildungs- und kulturgeschichtlich keinesfalls zweitrangige, aber doch vor allem die Spezialist:innen hochmittelalterlicher Kanonistik beschäftigende Frage nach der Entstehung von Gratians folgenreichem Dekret wird aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Dabei nimmt nur der Beitrag von Anders Winroth eine konsequente textgeschichtliche Position ein. Er versteht den Text der Handschrift als eine von verschiedenen Kurzfassungen des Dekrets, die im 12. Jahrhundert auf der Grundlage beider Rezensionen entstanden seien. Zwar biete keine der zum Vergleich herangezogenen Kurzfassungen den gleichen Text wie der Sangallensis, doch ließen sich für dessen einzelne Charakteristika jeweils Entsprechungen in anderen Handschriften finden. Als Grundkonsens der meisten Beiträge zeichnet sich demgegenüber ab, die Handschrift nicht für eine der beiden textlich fixierten Rezensionen in Anspruch zu nehmen, sondern einen „fluiden“ Textstatus zu konstatieren, als Niederschlag eines längeren, nicht konsequent linear zu verstehenden Entstehungsprozesses des Dekrets. Indizien dafür findet der einführende Beitrag von Mitherausgeber Andreas Thier in der Rezeption des römischen Rechts, die in den ältesten Zusätzen wirksam ist. Melodie H. Eichbauer versteht die Prima Causa der Handschrift, die sich im Unterschied zu den teilweise repetitiven Distinktionen der ersten Rezension des Dekrets stringent ausgearbeitet zeige, als Produkt einer Zeit, in der das Dekret noch formbar („malleable“, S. 94) war und neuere kanonistische Wissensbestände, speziell zum päpstlichen Primat, noch nicht allgemein rezipiert wurden.
Im Blick auf das Keuschheitsgelübde der Kleriker zeigt die Causa Prima allerdings, wie der Mitherausgeber Stephan Dusil im abschließenden, Zusammenfassung und weitergehende Problematisierung verbindenden Beitrag anmerkt, „a more refined terminology and legal understanding than Gratian“ (S. 250). Demgegenüber sieht Enrique de León im Eheverständnis der Textversion der Handschrift ein nach doktrinären Grundlagen und Terminologie eher älteres Stadium kanonistischer Lehre wirksam.
Solche Widersprüchlichkeiten lassen sich möglicherweise erklären, wenn man die Handschrift mit der Mehrheit der Beiträge als Produkt und Medium des durch Mündlichkeit charakterisierten Schulbetriebs versteht. Linguistische Besonderheiten des Latein, die Titus Lenherr detalliert auswertet, verweisen dabei vielleicht auf die Niederschrift eines Studenten als Vorlage der aufwendig ausgestatteten Handschrift. Damit ist zugleich die Möglichkeit eröffnet, im Dekrettext mit Kenneth Pennington noch Spuren eines frühen Stadiums kanonistischer Lehre zu finden, das der Entstehung der Handschrift vorausgegangen wäre. Für diese kann die grundlegende kodikologisch-paläographische Analyse von Philipp Lenz den Zeitraum zwischen 1146 und 1160/65 plausibel machen; kunsthistorische Vergleiche sprechen für Modena als Entstehungsort, was allerdings die von den kanonistischen Beiträgen zumeist vorausgesetzte Nähe zu Gratian und Bologna nicht obsolet macht.
In den gleichen Zeithorizont weist die Analyse der verschiedenen Zusätze und Glossen durch José Miguel Viejo-Ximénez. Für die älteste Schicht („1. Marginalienhand“) schlägt er eine Datierung „around the end of the 40s or at the beginning of the 50s of the twelfth century“ (S. 197) vor; spätere Ergänzungen und Glossen sieht er durch Glossierungen des Dekrets aus den 1150er- und frühen 1160er-Jahren beeinflusst. Insgesamt zeigt sich darin eine lang andauernde Nutzung der Handschrift, die über ein möglicherweise ursprüngliches, mündliches Milieu der Lehre hinausweist. In diesem Sinn interpretiert auch Atria A. Larson die zahlreichen Nota- und vergleichbare Symbole am Rand als Anleitungen für den Leser, die häufig auf entscheidende Wendungen der Argumentation und letztlich auf wesentliche Elemente der Didaktik und Methode Gratians hätten hinweisen sollen. Ein weit weniger elaboriertes juristisches Niveau attestiert John C. Wei einer auf pp. 204–205 des Codex überlieferten und den Dekretalen eines Papstes mit dem Namen Bonifacius inskribierten Wundererzählung. Deren Autor könne jedenfalls nicht mit Gratian identifiziert werden.
Insgesamt zeigen sich in den Beiträgen also neben Ansätzen zu einem zukünftigen Konsens viele unterschiedliche Akzentuierungen oder auch widersprüchliche Befunde: Anregungen für die weitere Diskussion.
Anmerkungen:
1 Carlos Larrainzar, El borrador de la ‚Concordia‘ de Gratiano: Sankt Gallen, Stiftsbibliothek MS 673 (=Sg), in: Ius ecclesiae 11 (1999), S. 593–666.
2 Anders Winroth, The Making of Gratian’s Decretum, Cambridge 2000.