Die Geschichte der Zeit, von Zeitordnungen und Zukunftsvorstellungen hat in den letzten Jahren vermehrt historiographische Aufmerksamkeit gefunden. Ein zentrales Feld in diesem Forschungsbereich sind die Arbeitswelten, denn sie strukturieren gesellschaftliche Zeitordnungen in einem hohen Maße. Die industrielle Moderne war geprägt durch Normierungen von Arbeitszeitregimen, aber auch durch den Eigensinn (Alf Lüdtke) der Betroffenen. Seit den 1970er-Jahren, so ist vielerorts zu lesen, haben die Entgrenzungen des gesellschaftlichen Zeitregimes ebenso zugenommen wie diejenigen der Arbeitszeiten.
Der vom Sozialanthropologen Ger Duijzings und von der Historikerin Lucie Dušková herausgegebene Sammelband nimmt mit der Nacht eine besondere Zeitzone in den Blick, denn diese wurde erst durch die Industrialisierung auch zur Produktionszeit. Die vorher deutlichere Trennung von Tag und Nacht im gesellschaftlichen Zeitregime, auch im moralischen Sinne, schien zurückzugehen – bis hin zu eher dystopischen Beobachtungen eines gegenwärtigen „24/7“-Kapitalismus.1 Die beiden Herausgeber:innen betonen gleich zu Beginn, dass der Band Anregungen geben soll und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Dies wäre bei einem solch weitgestreckten Themenfeld auch mit größeren Forschungsgruppen kaum zu leisten. Duijzings und Dušková plädieren in ihrer konzisen Einleitung aber dafür, Nachtarbeit stärker in der Labour History zu berücksichtigen, und vermerken etwas irritiert, dass in neueren Darstellungen zur globalen Arbeit dieser Bereich nur wenig Berücksichtigung gefunden habe, wie auch die Night(life) Studies vor allem auf Vergnügen und soziale Spannungen, weniger auf Arbeitswelten gerichtet seien. Der Gewinn ihres eigenen Ansatzes liege in der Zusammenführung dieser zwei Forschungsrichtungen. Nachtarbeit bietet für eine Gesellschaftsgeschichte wichtige Zugänge. Zum einen ist Nachtarbeit kein rein industrielles Phänomen, sondern war schon lange für Pflege- und Sicherheitsdienstleistungen ebenso notwendig wie für Vergnügungsarbeit. Zum anderen gibt es eine deutliche soziale Schieflage. Nachtarbeit war meist die Arbeit der Zugewanderten mit geringer formaler Qualifikation – von der früheren ländlichen Bewegung in die Stadt bis zur Nachtarbeit der Gegenwart, die vor allem durch migrantische Beschäftigte geleistet wird. Daher ist „the nocturnal city […] a mirror of social divisions and contradictions“ (S. 4). Zudem ist die Ausweitung von nächtlicher Arbeit nicht nur ein Thema im Kapitalismus, sondern war auch in den sozialistischen Industriegesellschaften zu beobachten.
Statistische Erhebungen über heutige Nachtarbeit schwanken stark. In der EU sind nach den Kriterien einer Arbeitszeit zwischen 22.00 und 5.00 Uhr wohl 12 bis 19 Prozent der Beschäftigten in regelmäßiger oder gelegentlicher Nachtarbeit tätig – wobei für einige Länder die Quote offenbar noch deutlich höher liegt (S. 3). Aber das Phänomen selbst bleibt bei solchen aggregierten Schätzungen unbestimmt. Duijzings und Dušková plädieren überzeugend für fluide Grenzen. Denn die Art und das Ausmaß der Nachtarbeit können regional von Helligkeit und Dunkelheit abhängen, und häufig liegen gerade informelle Tätigkeiten wie Reinigung oder Wachdienste in den späten Abend- oder frühen Morgenstunden. Die Beiträge des Bandes sind zwar historisch orientiert, aber sie entstammen neben der Geschichtswissenschaft auch der Sozialanthropologie, der Soziologie, den Religions- und Kulturwissenschaften.
Die Texte umspannen Entwicklungen vom späten 19. Jahrhundert bis fast an die Gegenwart heran. Regional beziehen sie sich auf Europa, Asien und Afrika und sind überwiegend chronologisch geordnet. Der erste Beitrag, mit „Prologue“ überschrieben, fällt insofern aus dem Rahmen, als es um den 1. Paulusbrief an die Thessalonicher geht, in dem Paulus schreibt, er habe „Nacht und Tag“ gearbeitet. Der Gräzist Antoine Paris deutet in einer dichten Textinterpretation diese Bibelpassage als Indiz dafür, dass die Trennung von Tag und Nacht nicht erst in den letzten 200 Jahren verringert worden sei.
Im nächsten Abschnitt befassen sich Arun Kumar und Rosa Maria Fina mit agrarischen bzw. frühindustriellen Gesellschaften um 1900. Kumar schreibt über Nachtarbeiter:innen in der Textilproduktion in Bombay und über Auseinandersetzungen, wem die Nacht gehöre. Mit dem Wachsen der Arbeiterschaft wurden Konflikte um die Dauer der Arbeitszeit geführt, die oft zwischen 12 und 14 Stunden lag. Aber nicht die langsame Zurückdrängung der Nacht steht in Kumars Fokus, sondern der Besuch von Abendschulen, die seit den 1870er-Jahren für (männliche) Textilarbeiter eingerichtet wurden. Arbeitszeitkonflikte waren für die Arbeiter notwendig, um die Abendstunden für Bildungsarbeit nutzen zu können. Fina belegt für Lissabon um 1900, dass die Grenzen zwischen Tag und Nacht in den großen Städten schon um diese Zeit verschwammen. Dies zeigt sie zum einen an Regulierungen in der Textilindustrie, die aber erst durch die junge Republik 1911 erfolgten und wie in Indien meist ein Nachtarbeitsverbot für Frauen und Kinder umfassten. Zum anderen erläutert sie am Beispiel privat bezahlter Nachtwächter, wie sich aus Sicherheitsbedürfnissen neue nächtliche Tätigkeiten etablierten.
Der folgende Abschnitt befasst sich in drei Beiträgen mit „Liberal Market Economies“. Hier geht es um Nachtarbeit während der Zwischenkriegszeit in der Tschechoslowakei, um Schichtarbeit in der Bundesrepublik Deutschland sowie um die Darstellung von Krankenschwestern in Comics seit den 1970er-Jahren. Einer der ersten Beschlüsse der International Labour Organization in Genf war 1919 das Nachtarbeitsverbot für Frauen. Jakub Rákosník diskutiert am Beispiel der stark industrialisierten und sozial fortschrittlichen Tschechoslowakei Konflikte um Regulierungen der Arbeitszeiten. Die junge Republik beschloss nicht nur ein generelles Nachtarbeitsverbot (mit vielen Ausnahmemöglichkeiten für männliche Industriearbeit), sondern auch den Acht-Stunden-Tag. Neben Arbeitgebern, die sich auf Wettbewerbsfähigkeit beriefen, waren es häufiger auch Beschäftigte selbst, die sich gegen Einschränkungen richteten. Hintergründe waren Einkommensverluste, aber auch Geschlechterstereotypen. So arbeiteten in einigen Zuckerfabriken neben legal beschäftigten Männern auch Frauen in der Nacht, die vor allem Reinigungsarbeiten durchführten. Die Männer verweigerten diese Tätigkeiten, aber die Behörden akzeptierten die Begründungen nicht und verboten die weibliche Nachtarbeit. Malte Müller blickt sodann auf die Schichtarbeit in der westdeutschen Metallindustrie. Während der 1950er-Jahre etablierte sich das Dreischicht-System, und arbeitswissenschaftliche Studien belegten eindrücklich die gesundheitlichen und sozialen Folgen – wie den Ausschluss aus der auf abendliche Aktivitäten gerichteten Gesellschaft. Zwar gelang es der IG Metall, Freischichten und vorausschauende Schichtplanungen zu etablieren, aber Schichtarbeit wuchs seit den 1970er-Jahren weiter, trotz aller bekannten Gefahren. Der Text von Anja Katharina Peters fällt erneut etwas aus dem Rahmen; sie untersucht Darstellungen von Nachtkrankenschwestern in zwei amerikanischen Comics der 1970er- und 1980er-Jahre. Während der eine ein Marvel-Comic für Jugendliche ist und der andere ein pornographischer Erwachsenen-Comic, bedienen sie ähnliche Stereotypen: die engelsgleiche Helferin und das Sexual-Objekt, wobei die Nacht jeweils nur ein Verstärker dieser Stereotypen ist.
Im Abschnitt „Authoritarianism“ werden Beispiele aus Südafrika und der Tschechoslowakei behandelt. Bridget Kenny beschäftigt sich mit Ladenöffnungszeiten in Johannesburg von 1908 bis in die 1960er-Jahre. Regulierungen sollten insbesondere die weiblichen, weißen Beschäftigten schützen und die Dunkelheit bzw. Nacht stärker vom Tag trennen. Diese „colonial urban modernity“ zielte auf strikte Separierung der klassifizierten Ethnien, wobei sich die „white labour“ in diesen und anderen Debatten erst konstituierte. Die von der National Party, nach jahrzehntelangen Debatten, 1949 beschlossenen Ladenschließzeiten am Samstagnachmittag wurden als Ausdruck von Familienwerten und als Schutz der vor allem weiblichen, weißen Beschäftigten im Einzelhandel verstanden. Die Debatten um Ladenöffnungszeiten wertet die Autorin als Bemühen, für die weiße Bevölkerungsgruppe an Regulierungen in westlichen Ländern anzuknüpfen und Arbeit versus Freizeit strikt zu trennen. Lucie Dušková schaut im folgenden Beitrag auf ein vermeintliches Paradox: Mit der kommunistischen Machtübernahme in der Tschechoslowakei 1948 mussten für die vorher bekämpfte Nachtarbeit neue Begründungen gefunden werden. Anhand von Filmen der frühen 1950er-Jahre kann Dušková zeigen, dass Legitimationen wie patriotische Pflicht, notwendige Arbeit für das utopische Ziel und auch weibliche Emanzipation im Vordergrund standen. Denn neben technischen Gründen wie dauerhaft laufenden Maschinen wurde Nachtarbeit notwendig, um Stromversorgungsengpässe durch Arbeit in den nächtlichen Stunden auszugleichen und Planziele kurzfristig noch zu erreichen. Daher bewirkte die kommunistische Herrschaft, so das Resümee der Autorin, nicht den versprochenen Rückgang, sondern vielmehr den Anstieg nächtlicher Arbeit.
Schließlich führen zwei Texte aus soziologischer Sicht in die Gegenwart. Asya Karaseva und Maria Momzikova untersuchen die Belastungen, die sich aus den elf verschiedenen Zeitzonen in Russland und einem zentral auf die Moskauer Zeitzone ausgerichteten gesellschaftlichen Leben ergeben. Die digitale Echtzeitkommunikation verstärkt negative Effekte. Dies führt in der betrachteten Region Magadan im Fernen Osten für viele zu einer Zeitordnung, die von der Moskauer Zeitzone bestimmt wird und nicht nur die Nacht, sondern auch den Tagesablauf prägt. In einem weiteren Aufsatz blickt Simiran Lalvani auf die digitale Plattformarbeit im urbanen Indien. Für die Lieferökonomie kann sie mehrere Dimensionen zeigen – so sind Frauen meistens von der nächtlichen Auslieferung ausgeschlossen, und die männlichen Fahrer sind mit Hunden und Betrunkenen stärker den „creatures of the night“ ausgesetzt. Dabei gibt es eine spezifische „slowness“ in der nächtlichen Plattformarbeit, die Annahmen über deren Effizienz konterkarieren.
Den Band beschließt ein Beitrag von Hannah Ahlheim, die bereits auf der dem Buch vorausgegangenen Tagung im November 2019 die Keynote gehalten hatte. Ihr konzeptioneller Text nimmt Bezug auf die Artikel und referiert anhand verschiedener Beispiele aus dem 20. Jahrhundert die Bemühungen, die Grenzen des Schlafes und der Nacht aufzuheben. Extreme Versuche mit Schlaflosigkeit würden aber seit dem Aufkommen der Idee einer „biologischen Uhr“ wieder zurückgehen – der Traum des immer wachen, stets effizienten Menschen habe sich nicht erfüllt. Vor diesem Hintergrund fasst Ahlheim zusammen, dass die Geschichte der Nachtarbeit immer auch eine „history of limits“ (S. 270) sei.
Der Sammelband, dessen Beiträge meist gut lesbar verfasst sind, liefert anregende Beispiele, um weiter über die Geschichte von Zeitordnungen, Temporalität und Arbeitszeiten nachzudenken. Seit dem 19. Jahrhundert wurde um die Ausweitung nächtlicher Arbeit ebenso gerungen wie um deren Regulierung, und dies in einem globalen Maßstab. Die Nacht – vor allem ihre Randbereiche mit Abend- und frühen Morgenstunden – wurde daher im 20. Jahrhundert von einer Zeitzone der Amoralität und Aufopferung zu einer zwar oft rechtlich regulierten, aber durchaus verbreiteten Zeitzone von Arbeit. Der interdisziplinäre Sammelband zeigt, dass ein Methoden- und Quellenmix hilfreich ist, um die vielen Facetten dieser Entwicklung auszuleuchten.
Anmerkung:
1 Als Streitschrift Jonathan Crary, 24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus, Berlin 2014; Schlafforschung und Arbeitszeiten grundlegend bei: Hannah Ahlheim, Der Traum vom Schlaf im 20. Jahrhundert. Wissen, Optimierungsphantasien und Widerständigkeit, Göttingen 2018. Siehe auch Ahlheims Rezension zu Crarys Buch, in: H-Soz-Kult, 13.01.2015, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-21649 (11.08.2023).