„Ist die Frage nach Geschlecht im Nationalsozialismus inzwischen nicht erschöpfend erforscht?“ Der Kollege, der mich jüngst mit dieser Frage konfrontierte, verwies auf einige Bücher und Filme, die in den vergangenen Jahren erschienen sind. Tatsächlich sind die neueren Publikationen zu Geschlecht und Sexualität im Nationalsozialismus zahlreich. Gleichwohl vermittelt der Rückschluss, das Feld sei umfangreich erforscht, ein verzerrtes Bild. Zum einen sind gerade die breiter rezipierten Publikationen oft auf herausgehobene Persönlichkeiten, wie Ehefrauen oder Musen der männlichen NS-Führung, konzentriert und nicht selten durchsetzt von Klischees über Frauen als Verführte, passive Opfer oder Einzeltäterinnen. Die Publikationen, die die Handlungsräume von Frauen ausdeuten und die Ambivalenzen zum Thema machen, werden dem gegenüber weniger zur Kenntnis genommen. Zum anderen wird unter dem Oberbegriff Geschlechterforschung bis heute vor allem der Umgang mit bzw. die Rolle von Frauen im Nationalsozialismus zum Thema gemacht. Der Blick auf Männlichkeit, männliche Körpererfahrungen und Handlungsmuster wird dagegen deutlich seltener untersucht.
Der vorliegende Band hat beide Probleme im Blick. Die 21 Aufsätze sind drei Themenbereichen zugeordnet: Geschlechterforschungen zum Nationalsozialismus, Geschlechterdifferenzen im „Dritten Reich“ und Soziales Gedächtnis und Identitätspolitik nach 1945. Der Anspruch des Bandes ist weit gesteckt: Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder sollen nicht nur in ihren historischen Ausprägungen und den jeweiligen Handlungsräumen von Männern und Frauen vorgestellt, sondern auch die damit zusammenhängenden Bilder, Diskussionen und Bedeutungsverschiebungen angesprochen werden – und zwar sowohl im historischen Kontext als auch aktuell. Die im Titel angekündigten Grundbegriffe „Körper, ‚Rasse’ und Sexualität“ werden allerdings an keiner Stelle erörtert, wodurch der Eindruck entsteht, es handele sich um klar umrissene Themenfelder. Der hohe Anspruch wird damit nur teilweise eingelöst. Letztlich bleiben die meisten Beiträge disparat nebeneinander stehen und der Leser muss sich allein auf die Suche nach roten Fäden machen, die an einer Vielzahl von Stellen beginnen und sich im Laufe der Lektüre zu einem interessanten, aber verwirrenden Knäuel entwickeln.
In ihrer Einführung konzentrieren sich die Herausgeberinnen auf die klischeehaften Bilder von Frauen als Täterinnen oder Opfer. Sie sprechen dabei von einer „Kontinuität im Bruch“ vor und nach 1945: Der Nationalsozialismus habe Frauen zu neuem Ansehen verholfen, sie aber auch auf ihre symbolische Rolle als Reproduzentinnen festgeschrieben. NS-Politik sei insofern nicht frauenfeindlich, aber antifeministisch gewesen. Dass man in der BRD später von der „Misogynie des Nationalsozialismus“ sprach, zeige zwar den Bruch mit der Geschichte, offenbare aber auch essentialisierende Klischees, nach denen Frauen friedfertig und von den Nationalsozialisten missbraucht worden seien. In ihrer Darstellung der Frauen- und Geschlechterforschung zum NS berufen sich Herkommer und Frietsch auf das bekannte Phasenmodell (ab Ende der 1970er-Jahre Erforschung der Unterdrückungsverhältnisse; ab Mitte der 1980er-Jahre Arbeiten zur Beteiligung von Frauen am Erhalt der NS-Strukturen; seit Anfang der 1990er-Jahre Erforschung weiblicher Handlungsspielräume; und seit Ende der 1990er-Jahre eine zunehmende Auseinandersetzung mit Frauen als NS-Täterinnen). Leider versäumen die Herausgeberinnen, neuere Forschungsarbeiten zu Handlungsräumen und Gewaltausübung von Akteurinnen in den Blick zu nehmen. Zwar gelingt es durch die Beiträge von Lavern Wolfram zur (keineswegs obligatorischen) Parteimitgliedschaft von KZ-Aufseherinnen, von Viola Schubert-Lehnhardt zu durch Frauen verübten Verbrechen im NS-Gesundheitswesen und von Claudia Schoppmann zur Situation der jüdischen Bevölkerung im Untergrund Schlaglichter auf die Handlungsräume von Frauen in unterschiedlichen Situationen zu werfen. Da diese aber weder begrifflich grundiert noch in Korrespondenz miteinander gebracht werden, bleiben es letztlich Einzeldarstellungen.
Aufschlussreich zur aktuellen Auseinandersetzung über Handlungsräume von Frauen ist der Beitrag von Johanna Gehmacher, die sich mit der Konjunktur von Biografien über Frauen aus der NS-Elite befasst. Sie geht davon aus, dass die Herausforderung weniger darin bestehe, die vermeintliche Abwesenheit von Frauen im Bild des Nationalsozialismus „auszugleichen“, sondern im Gegenteil der ubiquitären Anwesenheit von weiblichen Klischees differenzierte Darstellungen entgegenzusetzen. Der Kern des populärwissenschaftlichen Diskurses über die „Frauen der Nazis“ bestehe darin, dass er „unter dem Deckmantel der Aufklärung“ ein Mitfühlen mit den Tätern erzeugt und es erlaubt, „die narrative Vermischung von Gewalt und Sexualität zu genießen, ohne dies zugeben zu müssen“ (S. 64).
Wenn man diesen Ansatz auf das Thema des Buches bezieht, müsste die Forschung in Zukunft ein genaueres Augenmerk auf den Zusammenhang von Sexualität und Gewaltausübung legen, wie es Elizabeth Heineman bereits 2002 vorgeschlagen hat.1 Dabei gilt es, auch die Scheu zum Thema zu machen, die bis heute in der Frauen- und Geschlechterforschung besteht, sich en detail mit dem Konnex von Gewalt, Sexualität und Lust auseinanderzusetzen. Der vorliegende Band versucht, sich diesem Zusammenhang durch vier Artikel zu nähern. Im Beitrag „Sexualisierte Gewalt gegen Frauen während der NS-Verfolgung“ differenziert Brigitte Halbmayr Formen sexualisierter Gewalt in den Konzentrationslagern. Sie zeigt, dass es sich um sehr unterschiedliche Verbrechen handelte. Dabei unterscheidet sie in sexualisiert-frauenfeindliche Gewalt, sexualisiert-rassistische-antisemitische Gewalt und sexualisiert-eugenische Gewalt, je nachdem ob das Opfer als Frau, als „rassisch Andere“ oder als Reproduzentin eines als „unerwünscht“ geltenden Kollektivs adressiert wurde. Im Zuge dieser Schematisierung geraten der Kontext, der Ablauf und die symbolischen Bedeutungen der Gewalttaten allerdings aus dem Blick. Zu betrachten wäre meines Erachtens, was den sexuellen bzw. sexualisierten Aspekt dieser Taten im Vergleich zu anderen Formen von Gewalt ausmacht.
Ebenfalls mit sexueller Gewalt im Konzentrationslager befasst sich der Beitrag von Robert Sommer, genauer gesagt: mit den KZ-Bordellen, die die SS einrichtete, um privilegierte Häftlinge zu höheren Arbeitsleistungen anzuspornen. Sommer wendet sich einem bisher kaum beachteten Phänomen zu, nämlich den Motiven und Selbstdeutungen der „Bordellbesucher“. Das von ihm präsentierte Material ist aufschlussreich, nicht zuletzt da er selbst Interviews mit ehemaligen Häftlingen geführt hat. Gleichwohl gelingt es ihm letztlich nicht, die ambivalente Position der Männer einzufangen. Sommer stellt dar, dass sie sich – vor allem um sich ihrer Virilität zu versichern – auf die von der SS bereitgestellte Institution Bordell einließen, damit aber letztlich in eine Position gerieten, in der sie zu „Tätern“ wurden und Frauen sexuell ausbeuteten. Die von Gaby Zipfel aufgeworfene Frage, ob die Männer in dieser Konstellation nicht selbst eine Verletzung ihrer sexuellen Integrität erfuhren, indem die SS sich ihrer Libidinösität bediente, berührt Sommer dabei ebenso wenig wie die generelle Rolle der SS.2
Insgesamt betrachtet fehlt dem ganzen Abschnitt zu „Sexualisierungen“ der Blick auf nicht-verfolgte deutsche Männer und Frauen: Die Sexualität der deutschen Soldaten und SS-Männer an der Front und in den besetzten Gebieten bleibt ebenso unthematisiert wie intime Verhältnisse, Prostitution und sexuelle Gewalt innerhalb der Reichsgrenzen. Da die Herausgeberinnen entsprechende Auseinandersetzungen in ihrer Einleitung explizit einfordern, ist es dieses Manko umso verwunderlicher.
Vielschichtiger ist dagegen die Auseinandersetzung mit der Perzeption von Geschlecht und Sexualität nach 1945. So führt etwa die geschlechtsspezifische Lesart der Filme „Schindlers Liste“ und „Der Untergang“, die Annette Dietrich und Andrea Nachtigall vornehmen, beispielhaft vor, von welchen Geschlechtervorstellungen die Filme durchdrungen sind. Strategien der Vergeschlechtlichung, Sexualisierung und Pornografisierung im populären Film dienen, so die Autorinnen, einem „allgemein geteilten Alltagswissen der Zweigeschlechtlichkeit“, mittels derer sich „die historischen Geschehnisse ordnen und die eigene Zuordnung auf der Seite der guten“ ermöglicht wird (S. 392). Tatsächlich besteht ein großer Gewinn des Bandes darin, dass er die Leserin an unterschiedlichsten Stellen zum Hinterfragen der eigenen Ausgangspunkte und Zuschreibungen auffordert. Allerdings muss man Geduld mitbringen, um entsprechende Fäden auszumachen und zu verbinden.
Anmerkungen:
1 Elizabeth D. Heineman, Sexuality and Nazism: The Doubly Unspeakable?, in: Journal of the History of Sexuality 11 (2002), Heft 1/2, S. 22–66.
2 Gaby Zipfel, Ausnahmezustand Krieg? Anmerkungen zu soldatischer Männlichkeit, sexueller Gewalt und militärischer Einhegung, in: Insa Eschebach / Regina Mühlhäuser (Hrsg.), Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern, Berlin 2008, S. 55-74, hier S. 72.