A. Krätzner-Ebert: Dimensionen des Verrats

Cover
Titel
Dimensionen des Verrats. Politische Denunziation in der DDR


Autor(en)
Krätzner-Ebert, Anita
Reihe
Analysen und Dokumente
Erschienen
Göttingen 2023: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Udo Grashoff, Zeitgeschichte, Universität Leipzig

Welche Rolle spielten Denunziationen in der DDR? Während SPIEGEL-Journalist Peter Wensierski behauptete, die DDR sei ein Staat von Denunzianten und Spitzeln gewesen1, gewinnt Anita Krätzner-Ebert in ihrer Untersuchung einen etwas anderen Eindruck: „Obwohl der SED-Staat das Denunzieren vielfach förderte und ermutigte und auch wenn ein engmaschiges Berichtssystem die Gesellschaft durchzog, blieb die Denunziation dennoch überwiegend verpönt.“ (S. 266) Eine definitive Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Denunziantentums in der SED-Diktatur kann auch sie nicht geben, dafür wäre eine Statistik der Denunziationshäufigkeit in der DDR nötig, deren Erstellung Krätzner-Ebert aufgrund der lückenhaften und diffusen Quellenlage für unmöglich hält. Statt Quantifizierung bietet ihr Buch „qualitative Betrachtungen“ (S. 13) wie die eben zitierte.

Impliziter Referenzpunkt der Studie ist die NS-Denunziationsforschung, von der sich die Autorin in mehrfacher Hinsicht abgrenzt. Während die NS-Forschung die Tätigkeit von V-Leuten der Gestapo zumeist nicht als Denunziation wertet, macht Krätzner-Ebert die Tätigkeit der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zu einem zentralen Thema. Politische Denunziation versteht sie als kommunikative Handlung, bei der ein Individuum vermeintliche oder tatsächliche Verstöße Anderer gegen politische Normen gegenüber staatlichen Stellen zur Sprache bringt. Im DDR-Kontext gelte allein schon das „Anzeigen von politischen oder quasipolitischen Vergehen“ als Denunziation, was Krätzner-Ebert damit begründet, dass dieses „gemeinhin“ so gewertet werde (S. 29). Tiefergehende Reflexionen darüber, warum das so war und ist, stellt sie nicht an.

Zugleich schiebt sie mit diesem Begriffsverständnis zwei wichtige Komponenten beiseite, die in der NS-Denunziationsforschung zentral waren und sind, nämlich das Handeln aus persönlichen, niedrigen Beweggründen und die Spontaneität. Die Ausklammerung der Motive ist dem Umstand geschuldet, dass die überlieferten Quellen nur Rechtfertigungen der Denunzianten für ihr Verhalten, nicht aber deren tatsächliche Motive böten, so die Autorin. Das ist nachvollziehbar, es wäre jedoch wünschenswert gewesen, dass die Studie, wenn schon nicht die genauen Motive ermittelt werden können, den intentionalen Aspekt, also die Frage der Eigeninitiative der IM systematischer berücksichtigt hätte.

Dass Denunziationen in dieser Arbeit sehr oft in institutionalisierter Form erscheinen, begründet die Autorin damit, dass sie Spuren von denunziatorischem Verhalten hauptsächlich in den Akten des MfS auffinden konnte; in anderen Aktenbeständen sei die Recherche weitgehend ergebnislos verlaufen. Zudem würde „auch jenseits der IM-Akten ein Großteil der dokumentierten Denunziationen auf Inoffizielle Mitarbeiter“ (S. 13) zurückgehen. Damit scheint implizit der von der NS-Forscherin Gisela Diewald-Kerkmann nahegelegte Unterschied zwischen vorwiegend spontanen Denunziationen im „Dritten Reich“ und vorwiegend institutionalisierter, und damit nur partiell intentionaler Zuträgerschaft in der DDR bestätigt zu sein.2 Krätzner-Ebert kann sich jedoch angesichts der lückenhaften Überlieferung nicht zu einer Bestätigung dieser These durchringen.

Erklärtes Ziel der Studie ist es, eine „Phänomenologie der politischen Denunziation in der DDR“ (S. 9) zu entwickeln. Drei äußere „Dimensionen des Verrats“ werden abgehandelt. Zunächst beschreibt die Autorin das „Denunziationsangebot“ (S. 44) des SED-Staates, der insbesondere durch die Kriminalisierung von Republikflucht(absichten) ein weites Feld für potenzielle Denunzianten schuf. Als zweite Dimension werden die mit verschiedenen technischen Mitteln durchgeführten Formen der denunziatorischen Kommunikation abgehandelt, also Denunziation per Brief, Telefon, als persönliches Gespräch oder institutionalisierte Informantentätigkeit. Drittens wird der soziale Kontext von „Verrat“ analysiert. Hier zeigt sich, dass Denunziationen dort leichter möglich waren, wo soziale Bindungen relativ schwach waren. Damit widerlegt Krätzner-Ebert die oft ohne empirischen Beleg geäußerte Behauptung, dass es durch die Eingriffe der SED-Diktatur in den privaten Bereich zu „Aufweichungen der Familienzusammenhänge“ (S. 261) oder Freundesverrat in nennenswertem Umfang gekommen sei. Typisch waren vielmehr Denunziationen im beruflichen Umfeld und vor allem in der Nachbarschaft.

Die Stärke des Buches besteht vor allem in der differenzierten Herangehensweise an die Thematik der institutionalisierten Denunziation. Krätzner-Ebert weist bisherige Versuche, IMs pauschal als Denunzianten zu bezeichnen, entschieden zurück und skizziert stattdessen ein Spektrum, das von starkem Widerwillen gegen Denunziationen bis zu großer Denunziationsbereitschaft reicht. Mit der Bildung von insgesamt zehn „Fallgruppen“ verbindet sie ein Plädoyer für einen reflektierten Umgang mit individuellen Fällen von IM-Tätigkeit. Konkrete Anmerkungen zu prominenten Fällen wie Monika Häger und Sascha Anderson deuten an, in welche Richtung eine differenzierte Aufarbeitung gehen könnte.

Mit dem Schwerpunkt auf IM-Tätigkeit, bei der nur partiell eine denunziatorische Komponente nachweisbar ist, mit der Ausklammerung der Motive für Denunziationshandeln sowie der Folgen für die Denunzierten kann die Untersuchung, bei aller systematischer Ordnungsarbeit im Außenbereich, das Thema systematisch einkreisen, dringt aber kaum in den Kernbereich vor. Es bleibt zu wünschen, dass sich trotz der zweifellos vorhandenen Quellenprobleme und Fallstricke der Denunziationsforschung Mutige finden werden für weitere, auch quantitative Abschätzungen einschließende Versuche, Licht in das Dunkel dieses menschlichen Abgrunds zu bringen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Peter Wensierski, Deutsche Denunzianten Republik, in: Der Spiegel 28/2015, S. 40–42.
2 Vgl. Gisela Diewald-Kerkmann, Denunziant ist nicht gleich Denunziant, in: Klaus Behnke / Jürgen Wolf (Hrsg.), Stasi auf dem Schulhof. Der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch das Ministerium für Staatssicherheit, Berlin 1998, S. 46–59.

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