Die Geschichte der preußisch-deutschen Polenpolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert ist für die politischen „High-End“-Akteure – Regierung und politische Parteien – bestens erforscht.1 Leerstellen der Forschung bilden hingegen (mit wenigen Ausnahmen) intermediäre Akteure wie die Verwaltung auf Provinzial-, Regierungsbezirks- und Landratsebene, die Gerichte oder die Politische Polizei. Letzterer hat jetzt Witold Matwiejczyk eine umfangreiche Studie gewidmet.
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage, wie die Politische Polizei den preußischen Verwaltungsbehörden Informationen über all jene Phänomene verschaffte, die im zeitgenössischen Verwaltungsjargon unter Begriffen wie „Polenbewegung“, „Polengefahr“ oder „polnische Agitation“ gefasst wurden. Ein zweites Augenmerk legt Matwiejczyk auf die Frage, welchen Einfluss der Systemwechsel von 1918/19 auf die Struktur und die Methoden der Politischen Polizei hatte. Um die verschiedenen Ebenen der Verwaltungshierarchie abzubilden, basiert die Studie auf einer breiten Grundlage archivalischer Quellen, die sich im Bundesarchiv Berlin und dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, in den Landesarchiven Berlin und Nordrhein-Westfalen sowie den Staatsarchiven in Danzig, Kattowitz, Oppeln, Posen und Breslau befinden. Die Arbeit ist chronologisch gegliedert und legt einen deutlichen Schwerpunkt auf die Zeit des Deutschen Kaiserreiches vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
Das erste Kapitel bietet einen verwaltungshistorischen Überblick über die Entwicklung der Politischen Polizei in Preußen vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Reichsgründungsjahr 1871. In den ersten Jahrzehnten stand die Überwachung der deutschen Nationalbewegung im Vordergrund, wobei auch die Aufsicht über das Pressewesen zunehmend an Bedeutung gewann. Der Novemberaufstand 1830/31 und der Aufstand in der Provinz Posen 1848 lenkten dann besondere Aufmerksamkeit auf die polnische Nationalbewegung. Entsprechend wurde die 1852 in Posen gegründete Polizeidirektion (seit 1858 Polizeipräsidium) zum Zentrum einer regelmäßigen und schrittweise systematisierten Berichterstattung über die polnische Bewegung und polnische Druckschriften in den östlichen Provinzen ausgebaut.
Das zweite Kapitel behandelt für Posen, Oberschlesien und Westpreußen die „Zeit Bismarcks“, womit der Zeitraum von der Reichsgründung bis zu Bismarcks Entlassung 1890 gemeint ist. Allerdings waren 1871 nicht nur die maßgeblichen Strukturen der Politischen Polizei bereits vorhanden, sondern auch auf Seiten der polnischen Nationalbewegung hatten sich in den zwei Jahrzehnten zuvor ein polnisches Vereinswesen, eine organisierte Parteienvertretung sowie eine polnischsprachige Massenpresse etabliert (S. 79–84). Matwiejczyk begründet die Zäsur mit dem sich bald nach der Reichsgründung anbahnenden „Kulturkampf“, der auch der Überwachung der polnischen Minderheit eine neue Dringlichkeit verliehen habe. In diesem Zusammenhang vollzog sich in der Provinz Posen 1874 eine Reorganisation der Polizeibehörde (die Herausbildung einer eigenständigen Politischen Abteilung erfolgte erst in den 1880er-Jahren), während in der Provinz Preußen im selben Jahr mit Heinrich Rex eigens ein des Polnischen mächtiger Polizeikommissar angestellt wurde (wenn auch zunächst nur behelfsweise).
Die Haupttätigkeit der Polizeiverwaltungen lag weiterhin in der Sichtung und Übersetzung polnischer Druckschriften. 1876 wurden die Übersetzungen ausgewählter Artikel fest institutionalisiert und als periodische „Auszüge aus polnischen Zeitungen“ an preußische Behörden verschickt. Hinzu kam in wachsendem Maße die Überwachung öffentlicher Versammlungen. Bemerkenswert ist zum einen die über lange Zeit geringe Personaldecke (S. 427, S. 470f. u.ö.), zum anderen, dass die Überwachung nicht das Produkt eines „Masterplans“ der Berliner Zentrale war, sondern aus lokalen Initiativen und Konstellationen heraus überregional ausgedehnt wurde.
Die Organisationsstruktur und Tätigkeiten der Politischen Polizei zwischen dem Jahr 1890 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 stehen im Mittelpunkt des dritten Kapitels. Das Jahr 1890 stellte nicht nur wegen des Abgangs Otto von Bismarcks eine Zäsur dar. Viel wichtiger war der plötzliche Tod des bis dahin maßgeblich für die Überwachung der polnischen Druckschriften verantwortlichen Heinrich Rex im Jahr 1889, der eine empfindliche Lücke riss. Ab 1891 wurde die Überwachung und Übersetzung der polnischen Presse von Posen aus fortgeführt und ab 1892 als wöchentlich erscheinender „Gesammtüberblick über die polnische Tagesliteratur“ an Dienststellen verteilt. Gegenstand waren nicht nur politische Artikel im engeren Sinne, sondern auch Nachrichten aus dem gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und religiösen Leben, sodass die „polnische Bewegung“ in ihrer gesamten Bandbreite abgebildet werden sollte. Um 1900 wurden 35 polnischsprachige Zeitungen aus dem In- und Ausland überwacht. Für Oberschlesien und Westfalen, später auch Brandenburg, wurden lokale Übersetzungsstellen gebildet, die eigene Periodika anfertigten und zugleich dem „Gesammtüberblick“ zuarbeiteten.
Matwiejczyk unterscheidet zwei Funktionen des „Gesammtüberblicks“, nämlich (1) die Informationsfunktion für die preußischen Zentral-, Regional- und Lokalbehörden, von denen etwa im Jahr 1896 rund 140 Stellen die regelmäßige Übersicht bezogen, sowie (2) die Konstruktion einer Drohkulisse, die die vermeintlich kohärente polnische Nationalbewegung auf gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher, religiöser und kultureller Ebene als Bedrohung für den preußischen Staat erscheinen ließ. Dies deckt sich mit Albert S. Kotowskis Hinweis auf den Effekt der selektiven Wahrnehmung, wonach sich durch die Lektüre von Artikeln mit ausschließlich „staatsgefährdendem“ Inhalt das Bild einer politisch unversöhnlichen Minderheit verfestigen musste.2 Von der Überwachung anderer Gruppen wie Kommunisten und Anarchisten, die programmatisch auf die Überwindung der bestehenden Ordnung abzielten, unterschied sich die polizeiliche Kontrolle der polnischen Minderheit insofern, als hier auch die staatsloyalen polnischen Bevölkerungsteile miterfasst wurden.
Neben der Auswertung der polnischen Presse bildete die engmaschige Beobachtung der Aktivitäten der organisierten Nationalbewegung das zweite Standbein der Polizeiaktivität. Im Kontext der Intensivierung der antipolnischen Politik und der verstärkten Germanisierungsbemühungen, die sich unter anderem in einer restriktiveren Handhabung von Sprachregelungen und Versammlungsrecht niederschlugen, erfuhr die Politische Polizei in der zweiten Hälfte der 1890er-Jahre einen regionalen und personellen Ausbau. 1909/10 wurden die Zuständigkeiten der Posener Zentrale und der übrigen Überwachungsstellen (Bochum, Berlin, Beuthen) neu geregelt. Zudem begann man nun, polizeiliche Erkenntnisse an vertrauenswürdige Teile der deutschen Presse weiterzuleiten und eine Kartei unliebsamer Personen aufzubauen. Wie Matwiejczyk resümiert, wurde die Politische Polizei am Ende Opfer ihrer eigenen Bürokratie: Der stete Aufgabenaufwuchs führte zu einem immer größeren Berichts- und Kontrollbedarf, der die Behörde schließlich paralysierte. Letztlich scheiterte die Politische Polizei an ihrem allzu weit gefassten Begriff der „polnischen Agitation“, der in dem unerfüllbaren Anspruch mündete, jegliche vermeintlich staatsgefährdende Unternehmung bis hin zu Freizeitaktivitäten zu überwachen (S. 468f.).
Im vierten Kapitel zeigt Matwiejczyk, wie sich während des Ersten Weltkrieges wegen der Eroberung und Verwaltung des russischen Teilungsgebietes durch die beiden Mittelmächte für die preußisch-deutsche Regierung ein erhöhter Bedarf zur Kooperation mit der polnischen Bevölkerung ergab. Diese neue Situation führte zu einigen symbolischen Lockerungen der Polenpolitik, veränderte aber wenig an dem vorherrschenden grundsätzlichen Misstrauen. Da das Innenministerium der Beobachtung der „polnischen Agitation“ weiterhin höchste Bedeutung beimaß (S. 478f.), wurden die bestehenden Überwachungsstrukturen beibehalten. Zensurmaßnahmen wurden durch die Ausrufung des Kriegszustands sogar erleichtert. Dabei ging es jetzt nicht mehr bloß um die Kontrolle der polnischen Presse und Nationalbewegung, sondern auch darum, die polnische öffentliche Meinung zu lenken und den Aufbau der deutschen Verwaltung in den eroberten Gebieten zu unterstützen (S. 489).
Das fünfte Kapitel ist der Zeit der Weimarer Republik gewidmet. Mit der Wiedergründung des polnischen Staates, die mit einer Abtretung weiter Teile der östlichen Provinzen Preußens und einer starken Abwanderung der polnischen Minderheit aus den westlichen Provinzen einherging, nahm das Interesse der Polizeibehörden an der polnischen Nationalbewegung ab (S. 546f.). Die Ausnahmegesetzgebung wurde aufgehoben. Auch wenn die „polnische Frage“ nunmehr eine außenpolitische geworden war, mochten die preußischen Behörden aber nicht auf weitere Beobachtung verzichten. Arbeitsweise und Personal wiesen dabei hochgradige Kontinuitäten auf. Die Überwachungsstellen in Bochum und Berlin blieben bestehen, die periodische Übersetzung der Presse wurde fortgeführt und auch im Verwaltungsaufbau des preußischen Innenministeriums blieb die „polnische Gefahr“ weiterhin präsent.
Insgesamt schließt die vorliegende Studie eine wichtige Forschungslücke in der Geschichte der preußisch-deutschen Polenpolitik. Sie ist gleichermaßen für ihre interregionale Perspektive wie für die biographische Detailforschung zu würdigen, die Auskunft über Karrierewege und die Vergütung der zuständigen Beamten gibt. Wenig erfährt der Leser hingegen darüber, wie auf polnischer Seite mit Überwachung und Kontrolle umgegangen wurde. Folgeuntersuchungen, die auf den Ergebnissen der vorliegenden Studie aufbauen können, wären deshalb höchst wünschenswert.
Anmerkungen:
1 Kursorisch: Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, Frankfurt am Main 1972; zuletzt Hans-Erich Volkmann, Die Polenpolitik des Kaiserreichs. Prolog zum Zeitalter der Weltkriege, Paderborn 2016.
2 Vgl. Albert S. Kotowski, Zwischen Staatsräson und Vaterlandsliebe. Die Polnische Fraktion im Deutschen Reichstag 1871–1918, Düsseldorf 2007, S. 150f.; ferner: Kurt von Schmeling, Meine Lebenserinnerungen, Potsdam 1929, S. 193f.