Cover
Titel
Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland


Autor(en)
Figes, Orlando
Erschienen
Berlin 2008: Berlin Verlag
Anzahl Seiten
1036 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sandra Dahlke, Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg

In seinem vielgelobten Werk erhebt Orlando Figes den Anspruch, zum ersten Mal die Geschichte des Privatlebens in der Stalinzeit zu erzählen und dabei “die Innenwelt ganz normaler Sowjetbürger unter Stalins Tyrannei”, den Einfluss des Terrors auf ihr Familienleben sowie das, was die Menschen wirklich dachten und fühlten, auszuloten. Dafür haben Figes und einige Mitarbeiter der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial Hunderte von Familienarchiven zusammengetragen und etwa 450 Zeitzeugen befragt.

Immerhin geht es in Figes’ Buch um drei Generationen: die “Kinder von 1917”, ihre Nachkommen sowie ihre zumeist kommunistischen Eltern. Letztere waren angetreten, eine neue Welt aufzubauen und die sozialen Beziehungen grundlegend zu verändern. Zwischen privatem und gesellschaftlichem Leben sollte kein Unterschied mehr bestehen, alles hinter das allgemeine Wohl zurücktreten und die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern objektiviert werden. Dieses Projekt, so Figes, sei jedoch gescheitert, da die Intimität des Privatlebens ein Grundbedürfnis des Menschen sei. Der Anspruch auf deren Abschaffung sei dennoch nicht aufgegeben worden. Das habe dazu geführt, dass die Menschen sich verstellten und sich gegenseitig überwachten. Sie hätten begonnen, hinter verschlossener Tür zu flüstern und in der Öffentlichkeit eine Maske zu tragen, um ihre wahren Gedanken und Gefühle zu verbergen.

Figes Erzählung von Masken tragenden Flüsterern zeichnet die Wellen außerordentlicher Gewalt nach, die Stalin und seine Clique über die sowjetische Bevölkerung brachten: Der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, der rücksichtslosen Industrialisierung und dem Großen Terror der Jahre 1937/38. Die sowjetische Gesellschaft wurde buchstäblich mehrmals auf den Kopf gestellt: Ehemals Privilegierte wurden zu Ausgestoßenen, Arbeiter stiegen in Führungspositionen auf. Bürgerliche Fachleute wurden schikaniert und Repressalien ausgesetzt, leistungsfähige Bauern als Kulaken verbannt oder getötet. Bauern flohen oder gingen in die Städte und wurden zu Arbeitern. Diejenigen mit einer “falschen” Klassenzughörigkeit oder einer “beschädigten Biographie” versuchten, diese geheim zu halten. Kinder sagten sich von ihren Eltern los oder verrieten sie an die Staatssicherheitsorgane. Überzeugte Kommunisten wurden von ihren eigenen Genossen der Vernichtung preisgegeben. Mehrere Millionen wurden entweder hingerichtet, oder in Gulags und Sondersiedlungen verschleppt. Nach dem deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion wurden etwa zehn Prozent der repatriierten sowjetischen Kriegsgefangenen interniert, weil man sie verdächtigte, mit dem Feind kooperiert zu haben. Figes erzählt auch, wie diese Gewaltwellen insbesondere in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit von Phasen der Hoffnung auf Liberalisierung abgelöst wurden.

Seine Deutungen bergen für diejenigen, die mit der Historiographie über die Stalinzeit vertraut sind, keine großen Überraschungen: Sie bilden eine Synthese von den Arbeiten Sheila Fitzpatricks zu sozialer Mobilität, Alltag und der Praxis der Denunziation sowie Jochen Hellbecks Analyse sowjetischer Tagebücher, anhand derer er die Art und Weise beleuchtet, wie Zeitgenossen sich an ihre terroristische Umgebung anpassten. Neben Oleg Chlewnjuks Forschungen über den Zusammenhang zwischen Terror und Krieg und Elena Zubkovas Pionierwerk über die enttäuschten Hoffnungen der Nachkriegszeit 1 haben auch populärere Geschichtswerke von Catherine Merridale über Gewaltverarbeitung, Tod und Krieg in der Sowjetunion und Anne Applebaum über den Gulag ein breites Panorama der Sowjetgesellschaft abgeliefert 2.

Der letzte Teil des Buchs ist der bedrückendste. Hier schildert Figes auf der Höhe der Forschung sehr eindringlich die Schwierigkeiten der Rehabilitierung der Opfer staatlicher Gewalt nach Stalins Tod, die Rückkehr der Häftlinge aus den Lagern und Sondersiedlungen in ihre ehemaligen Heimatorte. Viele konnten sich kaum in das zivile Leben eingliedern. Sie litten, unter schweren physischen und psychischen Traumata und wurden häufig zur Belastung für ihre Angehörigen.3

Auch wenn vieles von dem, was Figes präsentiert, schon bekannt ist, ist seine Erzählkunst von nachhaltiger emotionaler Eindringlichkeit. Denn es gelingt ihm, die erschreckenden Opferzahlen in individuellen Lebensgeschichten anschaulich machen. Zugleich hinterlässt das Buch einen schwer fassbaren ambivalenten Eindruck. Denn Figes differenziert nicht immer zwischen seinen eigenen Prämissen, historischem Geschehen und rückblickender Erinnerung. Er konstruiert einen Gegensatz zwischen dem Privatleben, das sehr positiv als Sphäre der Moral und Authentizität gezeichnet wird, und einem skrupellosen, verbrecherischen Staat, der versucht, dieses Privatleben zu vereinnahmen. Gegen eine solche Konstruktion sind mehrere Einwände vorzubringen. Zum einen entsteht bei der Lektüre bisweilen der Eindruck, die Familien der Befragten hätten, bevor die Bolschewiki sie in Kommunalwohnungen pferchten, unter Bedingungen gelebt, die ihnen ein ungestörtes Privatleben erlaubten. Das trifft nur für die Privilegierten zu, nicht aber für die Arbeiter, kleinen Händler, Handwerker und Angestellten und noch weniger für die bäuerliche Bevölkerung. Für sie waren Mangel und beengte Wohnverhältnisse schon vor Revolution und Bürgerkrieg Alltag.

Der zweite Einwand betrifft die mangelnde Historisierung der Konzepte, die den Zeitgenossen zur Verfügung standen. Figes beschreibt zwar im ersten Kapitel, welches Konzept kommunistische Intellektuelle von Privatleben hatten, unterstellt ihnen aber implizit, sie hätten sich geirrt. Welche Vorstellungen die anderen Bevölkerungsgruppen, deren Vertreter in den Flüsterern zu Wort kommen, von der Sphäre des Privaten hatten und ob ihnen überhaupt ein solches Konzept zur Verfügung stand, wird nicht thematisiert. Privatheit wird implizit als natürliches menschliches Bedürfnis ausgegeben und nicht als historische Kategorie. Es erscheint in diesem Zusammenhang besonders merkwürdig, dass Figes gerade die Bauern als Bastion des Individualismus bezeichnet, die fest auf den Prinzipien des Privateigentums fußte.

Und: Figes schreibt eine Opfer-Geschichte. Angst, Scham oder opportunistischer Aufstiegswille erscheinen als die einzigen Motive, die die Zeitgenossen das stalinistische Regime ertragen ließen. Figes analytische Fixierung auf deren Opfer-Status steht mitunter in einem merkwürdigen Missverhältnis zu den Geschichten, die seine Protagonisten erzählen. Nicht wenige geben an, trotz des ihnen widerfahrenen Unrechts den sehnlichen Wunsch gehegt zu haben, von der sowjetischen Gemeinschaft angenommen zu werden, auf ihre Arbeit stolz gewesen zu sein und einen wichtigen Beitrag zum Aufbau des Sozialismus geleistet zu haben. Figes erzählt auch die Geschichten derer, die hohe Parteiposten innehatten, wie z.B. Osip Pjatnizkii oder Konstantin Simonow, die an das sowjetische Experiment glaubten, die andere menschliche Beziehungen etablieren wollten und sich selbst umerzogen, aber auch von der Existenz von Klassenantagonismen überzeugt waren. Pjatnizkii wurde während des Terrors erschossen. Was war er? Opfer, Täter oder beides? Wodurch wurde der schreckliche Mechanismus einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich gegenseitig in Schach hielten, in Gang gesetzt? Hierzu äußert sich Figes nicht. Er lässt die Protagonisten selbst sprechen. Implizit unterstellt er ihnen jedoch, sie seien letztlich Opfer der eigenen ideologischen Verblendung geworden.

Zeitzeugeninterviews, die in einem erheblichen zeitlichen Abstand zum Erlebten geführt wurden, betrachtet Figes hier als Quelle, die aussagefähiger ist als unmittelbare Zeitdokumente wie Tagebücher und Briefe. Letztere enthüllten, so Figes, “ohne aufdringliche Interpretation” (hiermit sind offensichtlich die Arbeiten Jochen Hellbecks gemeint, von deren Ergebnissen Figes ganz wesentlich profitiert) kaum etwas Verlässliches über die Gefühle und Ansichten der Verfasser. Figes führt diese mangelnde Aussagekraft auf Selbstzensur aus Angst zurück (S. 32). Im sehr interessanten Schlusskapitel wird der Leser schließlich darüber aufgeklärt, dass erst mit der Entstalinisierung, in deren Verlauf immer mehr Opfergruppen benannt wurden, die Lagerliteratur sowie die dominanten Kriegsnarrative in Literatur, Film und Historiographie begannen, die Erinnerung der Zeitgenossen zu formen. Sie halfen ihnen, das Erlebte zu verarbeiten, und ihre früheren Überzeugungen kritisch zu sehen oder sich gar dafür zu schämen. Vielleicht steht in den zeitnahen Tagebüchern und Briefen deswegen so wenig über das Privat- und Familienleben der Verfasser, weil sie diesem, im Gegensatz zu Figes, keine besondere Bedeutung beimaßen, weil sie die Abwertung der Familie ernst nahmen und weil sie davon überzeugt waren, in einer außergewöhnlichen Zeit zu leben, in der persönliche Bedürfnisse zurücktreten mussten 4? Es bleibt letztlich unklar, ob “Die Flüsterer” eine Geschichte des unmittelbar Erlebten oder eine Geschichte der Verarbeitung dieses Erlebten sein soll und an wessen Maßstab Figes die Zeitgenossen misst, an ihrem oder an seinem eigenen.

Trotz dieser Einwände haben Figes und seine Mitarbeiter von Memorial ein eindrückliches Dokument des stalinistischen Terrors vorgelegt. Es ist ein besonderer Verdienst, die Erinnerungen der Zeitzeugen gesammelt und aufgearbeitet zu haben. Figes Erzählkunst ermöglicht es auch dem allgemein interessierten Leser, nachzuvollziehen, was es bedeutete, in der uns heute sehr fremden Welt der stalinistischen Diktatur zu leben.

Anmerkungen:
1 Sheila Fitzpatrick, Education and Social Mobility in the Soviet Union. 1921-1934, Cambridge 2002; dies., Tear of the Masks! Identity and Imposture in Twetieth-Century Russia, Princeton 2005; dies., Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times, Oxford 1999; Jochen Hellbeck, Revolution on my Mind. Writing a Diary under Stalin, Cambridge 2006; Oleg Chlevnjuk, The Objectives of the Great Terror. 1937-38, in: Julian Cooper / Maureen Perrie / E.A. Rees (Hrsg.), Soviet History. 1917-53. Essays in Honour of R.W. Davies, Basingstoke 1995, S. 158-176; Elena Zubkova, Russia after the War. Hopes, Illusions and Disappointments. 1945-1957, Armonk 1998.
2 Catherine Merridale, Steinerne Nächte. Leiden und Sterben in Russland, München 2001; dies., Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939 bis 1945, Frankfurt am Main 2006; Anne Applebaum, Der Gulag, Berlin 2005.
3 zuletzt dazu Miriam Dobson, Khrushchev's Cold Summer. Gulag Returnees, Crime, and the Fate of Reform after Stalin, London 2009; Nanci Adler, The Gulag Survivor. Beyond the Soviet System, New Brunswick 2002.
4 Siehe hierzu: Sheila Fitzpatrick / Jurij Slezkine (Hrsg.), In the Shadow of the Revolution. Life Stories from Russian Women from 1917 to the Second World War, Princeton 2000, S. 4.

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