Soziologen, so seufzte jüngst eine Historikerin, kennen offenbar nur noch zwei historische Epochen: Moderne und Vormoderne. Der Einwand ist für Historiker stichhaltig, für Soziologen dagegen nur bedingt. Sie verstanden sich schon seit Gründung der Disziplin als Diagnostiker jenes eigenartigen Zeitalters, in dem die sozialen Kategorien sich aus festgefügten Mustern lösten wie die Moleküle in einem höheren Aggregatzustand. Nur deshalb bedurfte es einer Disziplin, die das Soziale zum Gegenstand hat. Erst allmählich aber setzte sich für diese Epoche ein Begriff fest, um den anschließend die ganze Disziplin zu kreisen begann wie die Motten um ihre Lichtquelle: die Moderne.
Nun also ein neues Buch von einem Soziologen über die Moderne. Ein bekannter Theoretiker aus dieser Disziplin hat einmal gemeint, Komplexität abzubauen ist kognitiv notwendig, aber nur dann fruchtbar, wenn sie dem internen Aufbau neuer Komplexität dient. In diesem Sinne hält Peter Wagner an der nicht gerade komplexen Unterscheidung zwischen Moderne und Vormoderne fest, möchte aber eben dadurch den Begriff der Moderne ausdifferenzieren. Dazu bedient er sich der Methoden der historischen Soziologie, in gegenwartsdiagnostischer Absicht.
Dieses Unterfangen liegt in einem langfristigen Trend. Denn die soziologische Modernisierungstheorie hat seit ihrer Begründung – sachlich durch Condorcet und Comte, nominell durch Rostow und Parsons – eigentlich nichts anderes erfahren als weitere Ausdifferenzierungen: zuerst zwischen Stufen- und Evolutionstheorien (Prozesstheorien), dann durch den indizierten Vorsprung von Religion, Politik, Wissenschaft, Ökonomie etc. vor dem jeweils hinterherhinkenden Rest der Gesellschaft (Spartentheorien) und schließlich – in zunehmend globaler Perspektive – zwischen multiplen Formen der Modernität (Typentheorien). Spätestens hier, bei Eisenstadt etwa, konnten auch geneigte Historiker die Frage aufwerfen, ob es bei all der Differenzierung noch sinnvoll ist, an dem Begriff der Moderne festzuhalten, oder ob die gedanklichen Anstrengungen nicht produktiver auf eine Begriffsebene unterhalb dieser altersgeschwächten Generalitäten zu lenken seien.
Solche Überlegungen wollen wir an dieser Stelle nicht weiterverfolgen, sondern sie dem geschichtspolitischen Interesse künftiger chinesischer Interpreten anempfehlen. Peter Wagner dagegen legt „Eine neue Soziologie der Moderne“ vor, wie der Untertitel verheißt. – Deshalb liegt das Interesse des Rezensenten zunächst auf der Frage: Was ist dies Neue? Neu, so antwortet Peter Wagner, ist an seiner Deutung der Moderne, dass er nicht die sozialen Phänomene, sondern ihre Erfahrung und Interpretation in den Mittelpunkt der Analysen stellt.
Diese, wenn man so will, wissenssoziologische Wendung der Modernisierungstheorie klingt interessant und sehr ambitioniert für jeden, der auch nur einen kleinen Teil der europäischen Geistesgeschichte überblickt. (Ganz neu ist sie nicht, Auguste Comte hat in seinem Drei-Stadien-Gesetz schon einmal etwas Ähnliches versucht.) Aber wo beginnen, wo enden mit den multiplen „Interpretationen der Erfahrungen“? Bei Burke hinten und Tony Judt vorne? Oder ist nicht doch Rousseau in seinen „Confessions“ der Erste, der seine autonome Individualität konfrontiert mit den Erfahrungen einer fremden Außenwelt?
Aus diesen chronologischen Verwicklungen befreit sich Peter Wagner durch einen Akt systematischer Dezision: „Modern zu sein bedeutet, sich selbst als autonom zu begreifen; es bedeutet, jede Quelle außerhalb seiner selbst als Richtschnur für das eigene Handeln abzulehnen.“ (S. 8) Und weiter: „Überall dort, wo Menschen sich selbst als autonome Wesen begreifen, ist ,Moderne’. Die antiken griechischen Demokratien waren beispielsweise in vielerlei Hinsicht hochmodern.“ (S. 17)
Nun hat der Begriff der Autonomie sicher seine eigenen Tücken, gerade wenn man ihn im Wechselspiel mit Interdependenzen entwickelt. Rollentheoretisch gesehen ist die steigende Vernetzung etwa durch Arbeitsteilung geradezu Voraussetzung von Autonomie jenes Restes der Person, der nach Abzug aller Rollen irgendwie dann noch übrigbleibt oder wenigstens hypostasiert wird. Man könnte den Begriff der Moderne also mit gleichem Recht von der steigenden Abhängigkeit durch Vernetzungen aller Art her deklinieren. Und wer kann behaupten, „jede Quelle außerhalb seiner selbst als Richtschnur für das eigene Handeln abzulehnen“ (S. 8), wenn er einmal die Bedürftigkeit des Menschen nach Sozialisation verstanden hat? Wer sich aber von Beginn an auf Bewusstseinsphänome beschränkt, für den hat die Konzentration auf „Autonomie“ von Personen (und nicht etwa von sozialen Systemen) eine hohe Plausibilität, klammert man einmal die Ideologiefrage aus.
Wagner bündelt nun die Erfahrungen von Autonomie, ihr Gelingen oder Scheitern und ihre Interpretationen in drei Bereiche (und das macht ihn dann doch wieder zum Spartentheoretiker): Der erste Teil des Buches gehört der Frage nach dem gemeinsamen Leben oder der politischen Problematik, der zweite den Bedürfnissen oder der ökonomischen Problematik, der dritte der Frage nach den gültigen Erkenntnissen oder der epistemischen Problematik. Auch bei dieser Entscheidung bleibt die Frage nach ihrer substantiellen oder exemplarischen Begründung undiskutiert. Warum nicht Kunst, warum nicht Religion, warum nicht Recht? Die Frage beantwortet sich vielleicht aus der Entstehungsgeschichte des Buches: Fast alle Kapitel sind „in einer ersten Fassung“ schon einmal irgendwo erschienen, es handelt sich also um einen thematisch gebündelten Sammelband mit seinen eigenen Kontingenzen.
In den materialen Teilen ist von der „Ausweitung der raum-zeitlichen Perspektive“ dieses systematisch angelegten Modernitätsbegriffes dann leider wenig zu sehen: Odysseus und die Sophisten fehlen, die frühneuzeitlichen Wurzeln des modernen Individualismus werden nicht diskutiert. Auch der Streit zwischen der Schule der Usulis und der der Akhbaris im Safawidenreich über die religiöse Selbstermächtigung des Gläubigen gegenüber den Rechtsautoritäten bleibt unbehandelt. Dafür findet man eine ausführliche Reinterpretation gängiger Postulate und Schriften der europäischen politischen Philosophie: Tocqueville, Mill, Isaiah Berlin, Adorno und Dewey sind die Namen, die behandelt werden, die vier „Grunderzählungen“ der (europäischen) Moderne über Freiheit, Staat, Demokratie und Revolution (warum nicht Solidarität, Nation, Gesellschaft und Entwicklung?), die Topoi, die im Licht der historischen Erfahrungen durchdekliniert werden.
Insofern schreibt Peter Wagner eine klassische europazentrierte Modernisierungsgeschichte im Spiegel der politischen Philosophie. Differenzierungsphase eins (Prozess) und zwei (Sparten) der Modernisierungstheorie sind ausreichend enthalten, ein wenig mehr von Phase drei (Typen) würde man sich wünschen, geht Wagner doch stets und irgendwie von einer gemeineuropäischen Entwicklung aus, hinter der die nationalen, regionalen, religiösen und geistesgeschichtlichen Fragmentierungen verschwinden. „Im Großen und Ganzen markiert das Datum ,1848’ als Kulminationspunkt der nationalliberalen Bestrebungen einen Moment des Scheiterns in der europäischen Geschichte.“ (S. 82) In Frankreich scheiterten 1848 nicht die Nationalliberalen, sondern die Arbeiter; die anderen arrangierten sich gerne mit dem neuen Napoleon. Und in England wurde der 10-Stunden-Tag eingeführt, was in der langen Periode unter Viktoria die sozialen Spannungen entscheidend verminderte. – Irland aber hungerte aus, auch die Nationalliberalen, aber das gehört irgendwie nicht zur europäischen Geschichte. Für Deutschland aber stimmt der Satz.
„Moderne“, nicht ganz neu interpretiert als Wechselspiel zwischen challenge und response (Toynbee) – was bringt dieser Ansatz? Am Ende ist der Rezensent ein wenig ratlos. Er kann über dieses Buch nichts Schlechtes sagen, aber auch nichts wirklich Gutes. So bleibt nur eine persönliche Bilanz: Nach der „Konstruktion“ verbietet der Rezensent seinen Doktoranden künftig auch den Begriff der „Moderne“. Er trägt nichts mehr aus.