Martin Greschat, einer der besten Kenner der Geschichte des Protestantismus, schließt mit diesem Band zeitlich und konzeptionell an seine Publikation von 2002 über „Weichenstellungen in der Nachkriegszeit“ an.1 Daher beginnt er, anders als der Titel suggeriert, eigentlich erst mit der Gründung der beiden deutschen Staaten. Warum das Jahr 1963 als Endpunkt gewählt wurde, wird leider nicht näher begründet. Wie im Vorgängerband ist es Greschats ausdrückliche Intention, die kirchlichen Entwicklungen in die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einzuordnen.
Die Skizzierung der politischen Etappen der „heißen Jahre des Kalten Krieges“ bildet den Einstieg. Dazu passt das Foto auf dem Cover, das Martin Niemöller bei einem Protestmarsch gegen die Atomrüstung zeigt. Für die politischen Auseinandersetzungen des westdeutschen Protestantismus mit Adenauers Politik war Niemöller ohne Frage eine Schlüsselfigur. Im zweiten Kapitel werden die politischen und kirchlichen Konflikte bis zur Blockintegration 1955 nachgezeichnet. Das dritte Kapitel lenkt den Blick nochmals zurück auf die „weltpolitischen Turbulenzen“ bis zur Beilegung der Kubakrise.
Diese Turbulenzen liefern den historischen Hintergrund für das wichtige folgende Kapitel „Kirche und Gesellschaft in zwei deutschen Staaten“. Hinter der Teilüberschrift „Paradigmenwechsel“ verbirgt sich zwar noch nicht die Anerkennung des Status quo, aber doch die Enttäuschung darüber, dass sich die Einheit Deutschlands, an der die Kirche nachdrücklich festhielt, immer mehr verflüchtigte. Der Zwang zum Arrangement mit den politischen Gegebenheiten wurde auf beiden Seiten stärker. Die Kirchen mussten ihre Positionen überdenken, nachdem die politische Entscheidung in Bonn über den Beitritt zur Nato und zu Gunsten der Wiederbewaffnung gefallen war. Nicht zuletzt der Militärseelsorgevertrag, den die SED zum casus belli für ihren Angriff auf die östlichen Landeskirchen nahm, brachte das zum Ausdruck. In der DDR verabschiedeten sich die Landeskirchen sukzessive von einer Fundamentalopposition, wie sie Bischof Otto Dibelius vertrat, und suchten Wege zum Arrangement mit dem SED-Staat. Greschat zeichnet diesen mühsamen Weg der Verhandlungen zwischen Staat und Kirche bis zum grundlegenden Kommuniqué von 1958 minutiös nach. Er verdeutlicht aber auch die erhebliche innerkirchliche Opposition gegen diese vorsichtige Respektierung des sozialistischen Staates. Ähnlich verlief der Konflikt um die Jugendweihe: Die anfangs dezidierte Position der Kirchenführer ließ sich offensichtlich nicht dauerhaft durchhalten.
Aufschlussreich sind die heftigen internen Kontroversen, die auf Provinzial- oder EKD-Synoden auf der Basis ausführlicher Gutachten ausgetragen wurden.2 Sie zeigten die tiefe Spaltung in unterschiedliche politische, aber mit einigem Aufwand theologisch begründete Positionen. Bischof Dibelius vertrat mit Verve die Ansicht, dass die DDR keine legitime Obrigkeit nach paulinischem Verständnis (im Brief an die Römer, Kapitel 13) sei, auch wenn man den staatlichen Anordnungen zu folgen habe, um das Chaos zu verhindern. Seine Obrigkeitsschrift von 1959 spaltete die Protestanten in beiden Teilen des Landes. Bruderrätliche, das heißt aus der Tradition der „Bekennenden Kirche“ stammende Gruppen, setzten sich scharf von Dibelius ab und gingen bis zur Forderung nach einer Anerkennung der DDR-Regierung (S. 240).
Die ausführlich referierten Gutachtentexte und die protokollierten Redebeiträge muten heute, selbst wenn man mit dem Jargon vertraut ist, häufig wie Haarspaltereien an. Letztlich endeten solche Debatten meist in formelhaften Erklärungen, deren Wert für die praktische Gemeindearbeit schwer erkennbar ist und hier leider auch nicht weiter untersucht wird. Ein Beispiel an der Grenze zum Skurrilen ist der Schlusspassus des Gutachtens eines EKD-Ausschusses von 1959, in dem es um die existenzielle Frage nach Mitarbeit oder Distanzierung der Kirche im atheistischen Staat ging, also hier in der DDR: „Die Unmöglichkeit einer glatten Lösung, aber einer getrösteten Existenz unter der Vergebung inmitten der Gebrochenheit unserer Situation lässt sich auf die Formel bringen: Wir sitzen zwischen den Stühlen – unter dem Schirm des Höchsten.“ (S. 232)
Zu den für mich interessantesten Abschnitten gehören die Ausführungen über die Formen der Frömmigkeit und über die Ökumene im letzten Kapitel. Die „bibelzentrierte Frömmigkeit“, die sich durch die Erfahrungen des NS-Zeit und des allzu hochstilisierten „Kirchenkampfes“ bestätigt und neu motiviert sah, markierte zunächst in beiden Teilen Deutschlands die Signatur der kirchlichen Nachkriegszeit. Die theologische Unterfütterung dazu lieferte Karl Barth, insbesondere mit dem 1950 erschienenen dritten Band seiner Dogmatik. Gegen Rudolf Bultmanns im Ansatz schon 1941 entwickeltes Entmythologisierungsprogramm zogen in den frühen 1950er-Jahren verschiedene Theologen und Gruppen aus dem Spektrum der früheren „Bekennenden Kirche“ heftig zu Felde. Zur gleichen Zeit hatten die Kirchen in der DDR mit den wüsten Attacken der SED zu kämpfen, insbesondere gegen die „Junge Gemeinde“. Primär auf die Bibel ausgerichtete Frömmigkeit hatte hier also nolens volens eine ganz andere Funktion und blieb länger dominant.
Veränderungen wurden vor allem in den aufblühenden Evangelischen Akademien, bei den Kirchentagen sowie in den verschiedenen Foren kirchlicher Öffentlichkeit sichtbar. Greschat konstatiert am Beispiel der Evangelischen Akademien daher treffend eine „deutliche Akzentverschiebung“, die ein wichtiger Indikator für allmähliche Wandlungen im Protestantismus war: „Die traditionelle nationalprotestantische Einstellung ging nicht mehr Hand in Hand mit der Ablehnung der parlamentarischen Demokratie. Die paternalistische Denkweise im Blick auf soziale Zusammenhänge wandelte sich zu einer größeren Offenheit in einem mild konservativ-liberalen Sinn.“ (S. 351)
Der leider nur noch knapp ausgefallene abschließende Teil über die Ökumene macht die Einbindung der Kirche in den Ost-West-Konflikt vor allem in Gestalt der konkurrierenden internationalen Zusammenschlüsse gut deutlich. Die den Regimes des Warschauer Pakts allzu wohlgesonnene „Christliche Friedenskonferenz“ mit dem tschechischen Theologen Joseph Hromádka als Leitfigur fand mehr Resonanz, als es konservativen und nüchternen theologischen Beobachtern im Westen lieb sein konnte; sie polarisierte auch in Westdeutschland. Andererseits wurde der in Genf ansässige „Ökumenische Rat der Kirchen im Osten“ vielfach als „amerikanischer Vorposten in Europa“ angesehen (S. 379).
Überraschenderweise fehlt bei Greschat jeder Hinweis auf die versäumte Auseinandersetzung des Protestantismus mit der (nach 1945 zunächst weiterhin so bezeichneten) „Judenfrage“. Die fatale Verspätung in der kirchlichen und theologischen Diskussion dieses Problems, dessen Kern die „Judenmission“ und der christliche Antijudaismus war, betraf West und Ost gleichermaßen. Das (ohnehin problematische) „Darmstädter Wort zu Judenfrage“ von 1948 wird ebenso wenig behandelt wie die Erklärung der EKD-Synode in Weißensee von 1950 zur „Schuld an Israel“.
Im Ausblick verweist Greschat einerseits auf das von acht prominenten protestantischen Laien formulierte „Tübinger Manifest“ von 1962 (mit einer kritischen Bestandsaufnahme der Bonner Ostpolitik) und andererseits auf die von einem Gremium der DDR-Landeskirchen vorgelegten „Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche“ aus dem gleichen Jahr. Beide Texte lassen sich gewiss als symptomatisch für die inneren und äußeren Veränderungen in den formell noch zusammenhängenden, aber faktisch getrennten Teilen des deutschen Protestantismus verstehen, gehören jedoch in allzu unterschiedliche Kontexte. Dieser Ausblick kann zudem das fehlende Resümee nicht ersetzen, das nach dem Dickicht synodaler Debatten und theologischer Diskurse die größeren Linien für den Leser hätte zusammenfassen müssen.
Mein Gesamteindruck des relativ umfänglichen Buchs ist gespalten: Viele Passagen sind aufschlussreich, bleiben auf weite Strecken aber eine Darstellung für Insider. Die zu ausführlich geschilderten allgemeinpolitischen Entwicklungen wirken oft wenig verklammert mit den kirchlichen, so dass der Autor seine primäre Intention gerade nicht einlöst. Statt ausgiebiger Referate synodaler Texte und öffentlicher „Worte“ hätte ich mir mehr Synthese gewünscht. Die theologischen Sprachfloskeln wirken in hohem Maße selbstreferentiell und sind heute nur noch schwer vermittelbar. Eine kritische kirchliche Zeitgeschichte sollte sich um mehr Distanz und eine weniger quellennahe Sprache bemühen.
Anmerkungen:
1 Martin Greschat, Die evangelische Christenheit und die deutsche Geschichte nach 1945. Weichenstellungen in der Nachkriegszeit, Stuttgart 2002.
2 EKD = Evangelische Kirche in Deutschland.