M. Jorio: Die Schweiz und ihre Neutralität

Cover
Titel
Die Schweiz und ihre Neutralität. Eine 400-jährige Geschichte


Autor(en)
Jorio, Marco
Anzahl Seiten
520 S.
Preis
CHF 49.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis, Europainstitut, Universität Basel

Die neuerdings zur Verfügung stehende, breit angelegte Neutralitätsgeschichte kann als Handreichung für die zurzeit intensiver geführte Debatte um gegebene oder nicht gegebene Handlungsspielräume eines neutralen Kleinstaates verstanden werden. Ihr Autor hat einen ersten Impuls für die Erarbeitung dieser Gesamtdarstellung allerdings vor acht Jahren erhalten, als er 2015 von der Diplomatischen Akademie Wien (übrigens zusammen mit dem Autor dieser Zeilen) eingeladen wurde, an einer Tagung zum Gedenken an die Konstituierung der österreichischen Neutralität von 1955 über die schweizerische Neutralität zu referieren.

Marco Jorio, ehemaliger Chefredaktor des Historischen Lexikons der Schweiz (HLS) und aus dieser Funktion guter Kenner der gesamten Schweizer Geschichte und konditioniert, Geschichte gleichsam als große lexikographischen strukturierte Strecke weiterzugeben, unterteilt den Stoff in zehn Hauptkapitel und 80 Unterkapitel, deren Zwischentitel hilfreiche Orientierung geben und zum Weiterlesen animieren. Zusätzliche Einblicke verschaffen ein paar eingestreute und typographisch anders abgesetzte Paratexte mit zusätzlichen Erläuterungen und Quellentexten, die im Inhaltsverzeichnis jedoch nicht wie die sechs kommentierten Illustrationen ausgewiesen werden. Entstanden ist eine solide Gesamtdarstellung auf Grund der Einarbeitung der reichhaltigen monographischen Sekundärliteratur (allerdings ohne eigene Archivrecherchen). Größeren Raum als die Ausführungen zur tatsächlich praktizierten Politik nehmen die unzähligen theoretischen und abstrakten Äußerungen zur Neutralität ein, wobei meistens offenbleibt, welche Relevanz diese Erklärungen aus Politik und Wissenschaft jeweils hatten. Zu Recht wird die 1991 von Alois Riklin vorgelegte Analyse der fünf Neutralitätsfunktionen als „grandioser Wurf“ gewürdigt (S. 429).

Einleitend wird gesagt, dass sich die lange Geschichte der schweizerischen Neutralität in zweimal 200 Jahre als je markante Zeitabschnitte teile. Als je eigene Zeitabschnitte werden die alteidgenössische Phase bis 1798 und die moderne Phase danach ausgewiesen. Mit der Bemessung der ersten, um 1600 einsetzenden 200 Jahre ist eine indirekte Distanzierung von der Vorstellung verbunden, dass 1515 bezüglich Neutralität eine Zäsur bedeutete. Wie sich die beiden Teile tatsächlich zueinander verhalten, wird allerdings nicht erörtert. Was muss man vom ersten Teil kennen, um den zweiten Teil zu verstehen? Und kommt es im zweiten, gegenwartsnäheren Teil nicht zu weiteren, keineswegs weniger wichtigen Zäsuren oder Übergängen: etwa gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als sich die Schweiz von benachbarten Großmächten bedrängt sah, oder um 1920 mit dem Beginn der Völkerbundära oder um 1989/90 mit dem Ende der Ära des Kalten Krieges? Dann und wann taucht, ohne dass die Metapher erläutert wird, der Etappenbegriff des Meilensteins auf.

Jorio sieht davon ab, eine Gesamtentwicklung im schweizerischen Umgang mit der Neutralität zu suggerieren. Für die Zeit nach 1945 entsteht ein Bild von sich wiederholenden Wechseln, von dogmatischen hin zu flexiblen und wiederum gleichsam zurück zu dogmatischeren und erneut zu flexibleren Neutralitätsverständnissen. Alles in allem sagt Jorio von der Ära des Kalten Krieges, dass sie dem Diktat einer „doktrinären und ängstlichen“ und „veralteten“ Neutralitätskonzeption unterworfen gewesen sei (S. 418). Die Ausführungen folgen keiner leitenden Fragestellung, sie dokumentieren Geschehenes und sehen weitgehend davon ab, das Referierte zu beurteilen. Die abschließenden Kapitel zum Krieg in der Ukraine fallen dann vergleichsweise ausführlicher aus und sind, wenig überraschend, mit markanten Urteilen zu Gunsten eines liberalen Neutralitätsverständnisses versehen (S. 448–462). Auch die in der Schweiz von rechtsnationaler Seite gegenwärtig vorbereitete Unterschriftensammlung zum Ausbau der Neutralitätsverpflichtungen lehnt der Historiker als nutzlos und höchst fragwürdige „Pro-Putin-Initiative“ entschieden ab (S. 464).

Die neue Neutralitätsgeschichte hat die Qualität eines Nachschlagewerks, das erste Orientierung bietet und selbst dem und der mit der schweizerischen Außenpolitik vertrauten Leser:in manche Episode entweder in Erinnerung ruft oder neu vermittelt (z.B. die Anerkennung des neu gegründeten Staates Israel 1948 oder der Haltung im Falklandkrieg 1982). Die dichte Schilderung des Geschehens bietet allerdings kaum Raum für Diskussion bzw. zusätzlicher Reflexion zu den geschilderten Verhältnissen und Vorgängen. Schlussfolgerungen werden weitgehend den Leser:innen überlassen. Ein wenig Diskussion bzw. Referat zu einer Diskussion gibt es um die „Anfänge“ der dauernden Neutralität und natürlich auch zu „Marignano“ (S. 37ff., 47ff.). Diskutiert wird sodann auch die in den Rückblicken auf den Aktivdienst erörterte Frage, warum die Schweiz in den Jahren 1939–1945 nicht angegriffen wurde. Gemäß Jorio erklärt sich dies für die ersten Kriegsmonate sehr wohl mit der Neutralität und mit strategischen Interessen der Kriegsparteien. In späteren Phasen habe nicht die wirtschaftliche Bedeutung der Schweiz für NS-Deutschland vor einem Angriff bewahrt, beim potenziellen Angreifer seien globalstrategische Überlegungen ausschlaggebend gewesen (S. 344–356).

Wie sich in den weiteren Ausführungen zeigt, traten nach 1945 im Laufe der Jahre substanzielle Verschiebungen in der Neutralitätshandhabung ein; diese müssen sich die Leser:innen aus der Schilderung der laufenden Begebenheiten jedoch selbst herausdestillieren. Das betrifft etwa die folgenden Entwicklungslinien: die mit der Zeit kooperativer eingestellte Haltung gegenüber internationalen Organisationen (z.B. in der OECD, im Europarat, Gatt, IWF, etc.); oder die wachsende Bereitschaft, sich an Wirtschaftssanktionen zu beteiligen, statt sich mit der Einhaltung des „courant normal“ zu begnügen; oder die sachte Öffnung gegenüber dem Multilateralismus, der lange gegenüber dem Bilateralismus zurückgestellt blieb; oder die mit der Zeit weniger zwingend erachtete Rücksichtnahme auf die Neutralität des IKRK und schließlich die mit 1990 einsetzende Bereitschaft zur Kooperation mit der NATO, nachdem Sicherheitspolitik zuvor lange im Alleingang betrieben worden war (S. 384). Eine diachrone Betrachtung könnte auch fassbarer machen, in welchem Maß schweizerisches Nichtengagement konstant (oft aber unzutreffend) mit den Bestimmungen der Haager Konventionen von 1907 gerechtfertigt und so eingenommene Haltungen zur Entlastung der eigenen Verantwortung als fremdbestimmt durch das Völkerrecht präsentiert wurde.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die in Gesamtdarstellungen bisher wenig beachteten Ausführungen zur „bewaffneten Neutralität“, deren Aufgabe es ist zu vermeiden, dass sich Konfliktparteien einen Vorteil durch die Besetzung des schweizerischen Territoriums verschaffen. Der in der Buchanzeige auch als Militärhistoriker vorgestellte Autor macht auf den diesbezüglich erstmals unternommenen Schritt dahin aufmerksam, das heißt hin zur präventiven Schaffung einer gesamteidgenössischen Defensivorganisation von 1647 und eines konfessionell gemischten Kriegsrats zum Schutz der Nordgrenze am Ende des 30-jährigen Krieges (S. 56). Im Nachgang zur völkerrechtlichen Anerkennung der Neutralität von 1815 stärkte die Schweiz ihre militärische Verteidigungsfähigkeit, ohne dies mit dem Neutralitätsschutz zu begründen. Erst 1923 bemerkt die Schweizer Kriegsgeschichte (Heft 12 von Paul E. Martin) zu diesem Vorgang: „Die eidgenössische Armee ist zur Aufrechterhaltung der Neutralität bestimmt.“ In der Literatur und auch in Jorios Schrift ist nicht davon die Rede, dass 1870/71 angesichts des französisch-deutschen Kriegs die Parole von der „bewaffneten Neutralität“ zur Rechtfertigung der militärischen Anstrengungen wichtig geworden wäre. In Edgar Bonjours Neutralitätsgeschichte taucht die Formel der „bewaffneten Neutralität“ erst mit dem Ersten Weltkrieg auf. Punktuell Beachtung erhalten die wiederkehrenden Angaben zum privaten Waffenexport, der trotz Haager Konventionen durchaus möglich war (z.B. S. 294, 377ff., 456, 470). Wenn Neutralität als Status verstanden wurde und wird, der tatsächlich oder scheinbar die Unabhängigkeit der Schweiz sichere, zeigen Jorios Darlegungen, wie groß die Abhängigkeit der Schweiz von den Außenwirtschaftsbeziehungen war und bleibt.

Ausführliche Umschreibungen der internationalen Gegebenheiten zeigen, wie sehr die schweizerischen Haltungen jeweils von diesen Kontexten abhängig waren. Die Titel der Hauptkapitel gehen aber alle davon aus, dass die Schweiz, obwohl in der Regel reagierend, eine selbstständig handelnde Größe sei: Sie ist es, die entdeckt, erfindet, wahrt, genießt, verliert, entwickelt, pendelt, hält einigermaßen durch, wahrt, übertreibt und (ver-)zweifelt. Im Gegensatz zu diesen pauschalisierenden Titeln zeigen die darauf folgenden Ausführungen, dass die einzelnen „Orte“ (Kantone) der Eidgenossenschaft bis 1848 zum Teil recht unterschiedliche Außenpolitiken verfolgten. Für die Zeit um 1500 etwa unterscheidet Jorio richtigerweise Kantone mit Süd- oder mit Westorientierung (S. 27). Der Staat erscheint gegen außen als kompakter Akteur, obwohl in ihm unterschiedliche und zum Teil sogar gegenläufige Kräfte auf die Politik Einfluss nehmen. Mehrfach und durchaus einleuchtend weist Jorio darauf hin, dass die Neutralität ein wichtiges Element der schweizerischen Identität (oder des Selbstverständnisses) ist. Die Innenseite der Außenpolitik zeigt sich aber immer wieder als in zwei Lager gespalten. Diese werden – zwangläufig vereinfachend – als bürgerlich oder links charakterisiert. Zuweilen heißt es aber auch, dass das außenpolitische Handeln durch die restriktive Einstellung des „Volks“ oder „weiter Volkskreise“ eng begrenzt sei.

Das wichtigste Fazit, das sich beim Gang durch diese Geschichte aufdrängt, kann darin bestehen, dass das Neutralitätsverständnis einem steten Wandel unterworfen war und die aktuelle Debatte um eine allfällige Justierung der außenpolitischen Haltung dem entspricht. Marco Jorio skizziert in abschließenden acht Punkten, wie die künftige Neutralität aussehen könnte. Es mag erstaunen, zeugt aber von entspanntem Umgang mit der Vergangenheit, wie ihn gerade viele Historiker und Historikerinnen praktizieren können, dass er zum Beispiel bezüglich der gerne und „obsessiv“ (S. 467) als noch immer maßgeblich verstandenen Haager Konvention von 1907 sagt, die Landesregierung müsse den Mut haben, „historischen Ballast über Bord (zu) werfen“ (S. 470).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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