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Titel
Europa in der Karikatur. Deutsche und britische Darstellungen im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Jones, Priska
Reihe
Eigene und fremde Welten 15
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Campus Verlag
Anzahl Seiten
322 S., 123 Abb.
Preis
€ 37,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Reiß, Department of History, University of Exeter

Pressekarikaturen haben es immer noch schwer, als vollwertige Quellen wahrgenommen zu werden. Als kritische Kommentare zum Zeitgeschehen greifen sie meistens Themen auf, zu denen auch eine Fülle von Schriftquellen vorliegt. Historiker geben in der Regel den letzteren den Vorzug, nicht nur, da die Interpretation visueller Quellen selten Bestandteil ihrer Ausbildung war und methodologische sowie urheberrechtliche Probleme mit sich bringt, sondern auch, da Texte eine größere Komplexität und Tiefe aufweisen. Karikaturen vereinfachen und reduzieren Sachverhalte – oft ins Groteske – und müssen sich den Betrachtern schnell erschließen, wenn sie erfolgreich sein wollen.

In ihrer Dissertation „Europa in der Karikatur. Deutsche und britische Darstellungen im 20. Jahrhundert“ interpretiert Priska Jones diese vermeintliche Schwäche der Pressekarikatur als eine Stärke. Die Arbeit, entstanden im Kontext des Sonderforschungsbereichs 640 „Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel“ an der Humboldt-Universität zu Berlin, versteht Karikaturen als eine Möglichkeit, Zugang zu Einstellungen und Mentalitäten breiterer Bevölkerungskreise zu erhalten. Karikaturen können, so Jones, eine Ergänzung zu den weitgehend von Eliten geprägten verschriftlichten Europadiskursen bieten, die bisher im Zentrum historischer Untersuchungen gestanden haben. Da der Karikaturist mit seiner Arbeit „stets an den Erwartungshorizont der Leserschaft gebunden [ist], für die er zeichnet [...], können politische Karikaturen als Indikator gesellschaftlicher Haltungen gelten und nicht nur für die des Produzenten“ (S. 41). Umgekehrt geht Jones aber auch davon aus, dass Pressekarikaturen „einen Teil der meinungs- und bewusstseinsbildenden Faktoren ausmachen, deren Rezeption auch persönliche politische Haltungen beeinflussen kann“ (S. 43). Die Rezipienten der Karikaturen setzt Jones dabei explizit mit der deutschen und britischen Gesellschaft gleich (S. 16).

Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Frage, wie das Thema „Europa“ in britischen und deutschen Karikaturen aufgegriffen und präsentiert wurde und welche Rückschlüsse dies auf die Denkschemata zulässt, die in der breiteren Öffentlichkeit beider Länder in Bezug auf Europa vorherrschten. Die Intensität und Ausdifferenzierung der Auseinandersetzung mit europäischen Prozessen wird dabei unter Verwendung der „Steigerungstrias von Europabewusstsein, europäischem Selbstverständnis und Europaidentifikationen“ bewertet (S. 10). Jones konzentriert sich dabei auf drei Untersuchungszeiträume: vom Ende des Ersten Weltkrieges 1918 bis zur Machteroberung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933, vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Ablehnung des ersten Beitrittsgesuchs Großbritanniens 1963 und vom Europa-Gipfel in Fontainebleau 1984 bis zur BSE-Krise in Europa 1996. Insgesamt wurden 3.082 deutsche bzw. bundesdeutsche (Zeichnungen aus der DDR wurden nicht berücksichtigt) und 1.081 britische Karikaturen in die Untersuchung einbezogen. Dieses Ungleichgewicht erklärt sich zum Teil aus der Tatsache, dass deutlich mehr deutsche als britische Zeitungen ausgewertet wurden, und mindert bedauerlicherweise die Aussagekraft der durchgeführten quantitativen Analysen. Sehr positiv ist dagegen zu bewerten, dass sich 123 der untersuchten Zeichnungen zum Teil in Farbe und in bestechender Qualität über die Seiten des Buches verteilt wiederfinden.

Die ausgewählten Karikaturen analysiert Jones mit großer Sorgfalt und Stringenz. Die im ersten Kapitel vorgenommene „typologisierende historisch-ikonographische Motivanalyse“ (S. 14) nimmt mit 183 Seiten weit mehr als die Hälfte der gesamten Arbeit ein. Das zweite Kapitel beschreibt die verschiedenen Kontexte der Motive in den Zeichnungen. Das dritte Kapitel untersucht den Transfer von Karikaturen zwischen Deutschland und Großbritannien sowie die Frage, inwieweit sich die Bildmotive in beiden Ländern über die Jahre hinweg anzugleichen begannen. Den Abschluss bildet eine Analyse der in den Karikaturen vermittelten Botschaften im Hinblick auf die als Leitfaden verwendeten Kategorien von Europabewusstsein, europäischem Selbstverständnis und Europaidentifikationen.

„Europa in der Karikatur“ ist eine methodisch und theoretisch fundierte Arbeit, die sich zum Teil zwar etwas trocken liest, aber eine Reihe von interessanten Ergebnissen bietet. So hebt Jones hervor, dass Europa in den Karikaturen vorwiegend auf „seine Institutionen reduziert und weniger als kulturelle, religiöse, geographische oder historische Einheit gedacht“ worden sei (S. 312). Die Idee des Abendlandes, die in kleineren elitären Kreisen eine große Prägekraft hatte, spielte in den Karikaturen kaum eine Rolle.

Frankreich wurde sowohl in deutschen wie auch in britischen Karikaturen über lange Zeit als Störenfried oder Bedrohung für Europa dargestellt, bis diese Rolle – auch in den britischen Karikaturen – in den 1980er-Jahren an Großbritannien überging. Jones hebt die große Dominanz von europakritischen Karikaturen in beiden Ländern seit den 1920er-Jahren hervor. Europa wurde mit überraschender Kontinuität als „bedroht, schwach, chaotisch und stagnierend“ dargestellt (S. 312) – eine negative Haltung, die sich nicht allein aus der kritischen Grunddisposition von Karikaturen erklären lässt. Auf der anderen Seite wurde Europa auch vertrauter, was sich in der sinkenden Zahl von Zeichnungen niederschlug, die europäische Themen in spezifisch national-kulturellen Bildsettings präsentierten. Eine solche „‚Domestizierung’ der Europa-Themen“ (S. 315) sei in den 1990er-Jahren nicht mehr notwendig gewesen.

Insgesamt, so fasst die Autorin zusammen, zeigen die Karikaturen die Existenz einer europäischen Öffentlichkeit auf. In beiden Ländern lag bereits im ersten Untersuchungszeitraum ein ausgeprägtes Europabewusstein vor, das sich in den 1950er-Jahren weiter ausdifferenzierte. In der Bundesrepublik und in Großbritannien bildete sich in diesem Zeitraum jeweils auch ein ambivalentes europäisches Selbstverständnis heraus, welches im dritten Untersuchungszeitraum komplexere Formen annahm. Eine Europaidentifikation fand in keinem der drei Untersuchungszeiträume statt. Der Prozess der europäischen Einigung wurde von den Zeichnern stets kritisch begleitet, selbst wenn er grundsätzlich bejaht wurde. Auch wenn dieses Ergebnis kaum überrascht, so verdeutlicht Priska Jones’ Arbeit doch in gelungener Weise die Möglichkeiten, die Karikaturen bei der Erforschung mentalitätsgeschichtlicher Fragestellungen bieten. Das Buch kann daher allen empfohlen werden, die sich für die Geschichte der europäischen Einigung oder für Visual History im weiteren Sinne interessieren.