Abu Dhabi, das größte und reichste Emirat der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) befand sich lange im Schatten des kleineren Emirats Dubai. Insbesondere nach dem Tod von Sheikh Zayed bin Sultan Al Nahyan im Jahre 2004 (er stand an der Spitze der Familiendynastie von 1966 bis zu seinem Tode) änderte sich diese Wahrnehmung aber sukzessive. Abu Dhabi, gestützt durch seine immer noch stabilen Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft diversifiziert offensiv seine Ökonomie, macht durch seine von Staatsfonds getätigten Beteiligungskäufe in der OECD-Welt (z.B. Porsche und Daimler-Benz) auf sich aufmerksam und hat sich zu einer neuen ökonomischen Supermacht entwickelt. So hat Abu Dhabi aufgrund seiner immensen Rücklagen in der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise mit einem milliardenschweren Notkredit sogar das kleinere Nachbaremirat Dubai gestützt. Das Emirat Abu Dhabi steht im Mittelpunkt der aktuellen Studie von Christopher M. Davidson, die insbesondere nach dem von ihm 2008 erschienenen Buch zu Dubai (Dubai: The Vulnerability of Success) ein ähnlich akribisches und umfassendes Buch erwarten lässt. Vor seiner derzeitigen Lehr- und Forschungstätigkeit an der Durham University (UK) war der Historiker Davidson (Ph.D. in Middle Eastern Studies) als Assistant Professor an der staatlichen Sheikh Zayed University in Abu Dhabi/Dubai tätig.
Davidson beginnt in seinem ersten Kapitel mit einer anschaulichen Beschreibung der historischen Entwicklung Abu Dhabis seit Gründung des Emirats Mitte des 18. Jahrhunderts, unter besonderer Berücksichtigung der lokalen Geschichte (beispielsweise der Loslösung von Dubai), der regionalen Bedrohungen (z.B. durch den Wahhabismus im Kernland der Arabischen Halbinsel) und der imperialen Durchdringung durch Großbritannien (S. 4ff.). In Kapitel zwei führt Davidson den Leser in die internen Familienstreitigkeiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein, die die weitere Entwicklung des Emirats nachhaltig bremsten (S. 25ff.). Treffend schreibt er: »Inheriting a powerful and prosperous sheikhdom, hegemony over their neighbours, and a strong relationship with their British protectors, the children and grandchildren of Sheikh Zayed bin Khalifa Al Nahyan nonetheless dragged Abu Dhabi into a mire of internal discord, poverty, and isolation.« (S. 25). Im dritten Kapitel beschreibt Davidson schließlich die Wende von Abu Dhabi unter seinem neuen Herrscher Sheikh Zayed bin Sultan (1966 unterstützte Großbritannien eine Palastrevolte gegen seinen Bruder, Sheikh Shakhbut) und die damit verbundene große Transformation des Emirats sowie den Einsatz von Sheikh Zayed für eine Föderation der sieben Emirate nach Abzug der Briten vom Golf (Vereinigte Arabische Emirate, 1971). Überzeugend skizziert Davidson die von Sheikh Zayed eingeleitete, längst überfällige Wende des Emirats mit der Etablierung umfangreicher, sozialstaatlicher Allokationsmechanismen, der Abschaffung zahlreicher Steuern und der Etablierung einer quasistaatlichen Bürokratie (S. 44ff.). Die historische Einführung der ersten drei Kapitel geleitet den Leser auf anschauliche und verständliche Weise durch die »Wirren« des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts mit ihren vielen, von Stammesstreitigkeiten motivierten und Großbritannien beeinflussten Machtkämpfen. Dennoch stört die umständliche Benennung der Protagonisten mit ihren vollen Familiennamen den Lesefluss. Die Einfügung eines Familienstammbaums hätte hier das Verständnis deutlich erleichtert. Kapitel vier, sechs und sieben bilden das analytische Herzstück des Buches und setzen sich dabei nachhaltig von der narrativen Darstellung der historischen Entwicklung ab. Davidson konkretisiert darin das Herrschaftsmodell der Familiendynastie, ihre Legitimationsquellen (S. 122ff.), die versuchte Wende in der Wirtschaftspolitik mit der Diversifizierung der Ökonomie (S. 69ff.) und schließlich die strukturellen Probleme des Entwicklungsmodells von Abu Dhabi. Davidson schließt analog zu seinem Dubai-Buch im siebten Kapitel mit einem Blick auf die regionalen Herausforderungen (z.B. Terrorismus und Nahostkonflikt) und berücksichtigt dabei in einem letzten Unterpunkt auch die Auswirkungen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise auf die VAE. Analog zu dem etwas umfangreicheren Dubai-Buch überzeugen Aufbau und Argumentationsleitfaden innerhalb der jeweiligen Kapitel, obgleich die holprigen Übergänge zwischen den einzelnen Abschnitten sowie das abrupte Ende stören und der Leser wiederum überrascht sein dürfte, dass er die Lektüre des Buches ohne eine Zusammenfassung oder abschließende Thesen beenden muss.
In den analytischen Passagen diskutiert Davidson zunächst in Kapitel vier die im Vergleich zu anderen Golfmonarchien sehr erfolgreiche Diversifizierung der Ökonomie Abu Dhabis. Vor allem das Jahr 2004 mit dem Wechsel an der Spitze des Emirats – nach dem Tod von Sheikh Zayed folgte Kronprinz Sheikh Khalifa – verstärkte den offensiven Entwicklungsschub. Getragen wurde dieser durch eine Verstärkung der Erschließung weiterer Rohstoffquellen, die Förderung von Industriezweigen (z.B. Petrochemie und Zuliefererbetriebe für den europäischen Konzern EADS) zur Erhöhung der Nichtölexporte und die offensive Anlagestrategie der Staatsfonds im Ausland. Interessant ist dabei auch die vergleichende Beobachtung von Davidson, dass Abu Dhabi diesen Entwicklungsweg sehr viel strategischer und planvoller beschritt als das Nachbaremirat Dubai, das schon wesentlich früher mit dem Versiegen seiner Rohstoffvorkommen konfrontiert wurde (S. 77ff.). In Kapitel sechs geht der Autor einen Schritt weiter und analysiert das Herrschaftsmodell und die Legitimationsquellen der Familiendynastie Al Nahyan. Neben den klassischen Legitimationsquellen, wie ein umfangreicher Sozial- und Subventionsstaat, die Verbindung von traditionellen und neopatrimonialen Herrschaftsmustern und die Konstruktion eines nationalen Narratives über die Religion, Kultur und Geschichte des Emirats, ist es vor allem die Beschreibung eines institutionellen Funktionalismus (in der Tradition der Forschungsrichtung des Funktionalismus: »form follows function«), welche neue Erkenntnisse für die Betrachtung dieses Herrschaftsmodells liefert (S. 122ff.). Doch auch in Abu Dhabi mit seinen nur 250.000 Bürgern und seinen im Vergleich zu Dubai noch lange nicht erschöpften Rohstoffvorräten, stößt dieses Entwicklungsmodell an seine Grenzen. Basierend auf einem informellen Gesellschaftsvertrag, der über eine generöse Vollversorgung politische Exklusion erkauft und mögliche Opposition über Instrumente der Patronage verhindert, ergeben sich Grenzen der Herrschaft. Dieses Problem erörtert Davidson in Kapitel sieben, verbindet es aber unverständlicher Weise mit den externen Bedrohungen. Die zentralen Entwicklungsblockaden – resultierend aus den etablierten rentierstaatlichen Strukturen – zeigen sich vor allem im Bildungssektor und werden zusätzlich durch das schnelle demographische Wachstum der Staatsbürgerschaft verstärkt. Diese letzteren Aspekte sowie die weiterhin eingeschränkten Medienfreiheiten und die fehlende Transparenz des politischen Entscheidungsprozesses hätten einer tiefgründigeren Analyse bedurft. Gerade durch eine Diskussion der Grenzen des Herrschaftsmodells, das er treffend als »hybrid polity of informal and formal institutions« (S. 153) bezeichnet, hätte Davidson eine stärkere analytische Konsequenz seiner vorherigen Erkenntnisse liefern und gerade diesbezüglich dem im Buch zu Dubai (2008) bewährten Modus folgen können bzw. müssen.
Trotz der sehr guten historischen Aufarbeitung der Entwicklung von Abu Dhabi seit den Anfängen stören in dem Buch von Davidson wiederholt methodisch-analytische Ungereimtheiten. Ein durchgehend normativer Bias ist dabei auffallend, in dem Davidson wiederholt die politische Stabilität des Emirats seit den 1960er-Jahren als einen bedeutsamen Erkenntnisgewinn präsentiert. Sind autoritäre Systeme per se instabil? Der empirische Befund einer hohen »politischen Halbwertszeit« autoritärer Regime in der Arabischen Welt zeigt vielmehr, dass diese als ein Systemtypus sui generis und nicht lediglich als ein instabiles Übergangsmodell angesehen werden müssen. Das vorliegende Buch Davidsons zeichnet sich – wenngleich sehr viel weniger als sein Dubai-Buch – durch eigene qualitative Erhebungen aus: Unbestritten ist, dass vor allem in autoritären Herrschaftssystemen Forschende seitens der Interviewpartner häufig mit dem Wunsch konfrontiert werden, das Gespräch vertraulich zu behandeln. Die folglich von Davidson gewählte Variante, von wenigen Ausnahmen abgesehen nur Ort und Zeit des Interviews in den jeweiligen Endnoten anzugeben (S. 177ff.), greift hier dennoch zu kurz und genügt nicht dem Mindestmaß wissenschaftlichen Arbeitens. Beruflicher Hintergrund oder institutionelle Anbindung wären – wie er es in einigen Fällen auch macht (S. 211; Fußnote 50) – mindestens zu nennen gewesen.
Zusammenfassend handelt es sich bei dem Werk von Davidson trotz einiger skizzierter Defizite um ein empfehlenswertes Buch, das durch die kritische Auseinandersetzung mit dem Entwicklungsmodell des größten Emirats der VAE zahlreiche Tabuthemen aufgreift, dabei einen Erkenntnisgewinn in der Erforschung des für Golfmonarchien typischen Herrschaftssystems liefert und sein im Jahr 2008 erschienenes Buch zu Dubai sinnvoll ergänzt.