Acht Jahrzehnte nach seinem gewaltsamen Tod im Konzentrationslager Dachau scheint der Widerstandskämpfer Georg Elser rehabilitiert. Die Zerrbilder aus nazistischer Propaganda, Nachkriegslegenden und Dünkel gegen den proletarisierten Attentäter aus der schwäbischen Provinz weichen später Ehre: Eine wachsende Zahl an Straßennamen, Gedenkzeichen und Unterrichtsmaterialien zeugt davon. Daran hat die Geschichtswissenschaft wesentlichen Anteil. 1964 brachte ein zufälliger Archivfund von Lothar Gruchmann aus dem Institut für Zeitgeschichte die Protokolle von drei Tagen Gestapo-Verhör im November 1939 ans Licht. Sein IfZ-Kollege Anton Hoch konnte mit akribischer Rekonstruktion die Alleintäterschaft beim „Bürgerbräu-Attentat“ vom 8. November 1938 nachweisen.1 Einer von Anton Hochs studentischen Archiv-Mitarbeitern jener Zeit, Wolfgang Benz, legt nun seine Deutung vor.
Benz sieht sich mit einem notorischen Problem der Elser-Forschung konfrontiert: Selbstzeugnisse des Attentäters sind rar. Neben Rechnungen in Schönschrift bleiben Möbel und Werkzeuge, ergänzt um Erinnerungen von Zeitzeug:innen, die nach dem Kriege von nicht nur akademischen Historiker:innen und Geschichtswerkstätten gesammelt wurden.2 Trotz aller Mühen bleibt ein Täterdokument aus dem Berliner Gestapo-Hauptquartier die Hauptquelle der Forschung, und damit das Unbehagen, das Leben eines Widerstandskämpfers über ein Verhörprotokoll seiner Peiniger zu erzählen.
Von diesem exegetischen Zugriff will sich Wolfgang Benz mit seiner Studie Allein gegen Hitler möglichst entfernen. Der ausgewiesene Forscher zur NS-Widerstandsgeschichte kommt in diesem 224-seitigen Buch auf einen Akteur zurück, den er zuletzt in seiner Gesamtdarstellung Im Widerstand als Nazigegner eigenen Ranges charakterisiert hat – jenseits aller Oppositionsgruppen handelnd und tragisch scheiternd.3 In der Einleitung von Allein gegen Hitler gibt Benz hinzu, dass „[die] Forschungsleistung der Autoren Peter Steinbach und Johannes Tuchel in wissenschaftlicher Hinsicht das Thema Georg Elser glanzvoll zu Ende gebracht [hat]“ (S. 8). Dieser angenommene Schlussstein aus der Feder der Wissenschaftlichen Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand datiert auf das Jahr 2010.4 Ein Desiderat identifiziert Benz aber dennoch, nämlich den „Einfluss der Landschaft und ihrer Menschen auf den Entschluss des bildungsfernen Handwerkers zum Widerstand“ (S. 8). Mit diesem schwäbischen Fokus möchte Benz die Spanne der Charakterisierungen erweitern.
Allein gegen Hitler will keine reine Biographie sein, und vielmehr Kontexte ausleuchten. Gleichwohl hält das Buch an einem diachronen Aufbau fest. Die ersten Kapitel deuten Elsers Motive in einem mentalitätsgeschichtlichen Kontext, eines beschreibt die vorangegangenen Pläne, Hitler zu töten. Weitere rekonstruieren Elsers praktische Wegmarken zum ultimativen Gewaltakt gegen das NS-Regime, dann die Folgen des gescheiterten Anschlags für Georg Elser und seine Angehörigen, die noch lange nach Kriegsende unter Traumata und Verfemung litten. Schließlich wirft Benz einen konzisen Blick auf die sich von Verfemung bis zur Hochkonjunktur entwickelnde Rezeptionsgeschichte der „Lichtgestalt des Widerstands“ (S. 181–197).
Benz verbindet zunächst eine Reihe von Rebellentum im Ostschwäbischen seit der Frühen Neuzeit lose mit der biographischen Entwicklung Elsers. Seine Beispiele legen nahe, dass die entschlossene Einzeltat von einem traditionellen, klassen- und lagerübergreifenden Eigensinn in rauer Umwelt begünstigt wurde. Für einen zwingenden Konnex zwischen schwäbischer „Neigung zum Protest“ (S. 20) und dem Attentat auf Hitler argumentiert Benz nicht, was auch nicht gelingen kann, zumal es die andererseits breite Zustimmung für das NS-Regime in Elsers Heimatregion weiter verrätselte. Ausführliche Überlegungen zur Sozialisation Elsers im östlichen Schwaben hat Hellmut G. Haasis in seiner Biographie von 2009 einfließen lassen, dessen Quellenfunde und streitbaren Interpretationen Benz leider nicht würdigt.5
Die kritische Diskussion von Haasis‘ Biografie wäre auch deswegen lohnend gewesen, weil dieser die politische Sozialisation Georg Elsers in seinen sieben Jahren am Bodensee (1925–1932) deutlich stärker berücksichtigt. In diesen wirtschaftlich und privat wechselhaften Jahren schloss sich Elser unter anderem dem Holzarbeiterverband des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes und dem kommunistischen Roten Frontkämpferbund (RFB) an, der wenig später verboten wurde. Die Prägung Elsers durch das KP-Milieu ist undurchsichtig, aber deswegen nicht unbedingt so nebensächlich, wie Benz sie interpretiert. Beim Blick auf eine andere unklare Verbindung reproduziert Benz leider ein Gerücht: Für die behauptete Mitgliedschaft Elsers bei den sozialistischen Naturfreunden, die „heute als internationale Vereinigung der ‚roten Grünen‘ aktiv“ (S. 31) sind, gibt es keinen Beleg, wie Peter Koblank 2010 unter Berufung auf Peter Steinbach und Johannes Tuchel klarstellte.6 Benz weiß selbst zu berichten, dass Elser seine Familie vom Bodensee aus vor der NSDAP warnte, bevor er 1932 mit einer klaren antinazistischen Gesinnung nach Königsbronn zurückkehrte. Doch allzu oft nähren Benz‘ Ausführungen den Gedanken, Elser sei „im landläufigen Sinne kein politischer Mensch“ (S. 46) gewesen. Vielmehr greift er auf einen bis in die jüngste Vergangenheit virulenten schwäbischen Volksgeist auf, der auf „Eigensinn und Sparsamkeit, direkte Rede, Hartnäckigkeit und Recht-haben-Wollen“ (S. 19) fuße.
Ähnlich zurückhaltend wie die linke Orientierung gewichtet Benz auch die religiösen Motive des Attentats, die im Verhörprotokoll niedergelegt sind, obwohl das Beten eine Kraft- und Legitimationsquelle Elsers in einsamer Vorbereitung war. In Benz‘ Augen orientierte sich Elser primär an „seiner Wahrnehmung und seinem Gefühl“ (S. 70) – im Kontrast zu jenen bürgerlichen Oppositionellen, die später „aufgrund rationaler Reflexion zur gleichen Einsicht [gelangten]“ (S. 73). Diese Gegenüberstellung von akademischer Reflexion und volkstümlichem Gefühl trifft kaum. Denn die Elser im Verhör gewaltsam abgerungenen Fragmente sozialpolitischer, außenpolitischer und christlich geprägter Urteile lassen mitnichten ein affektives Denken erkennen, und vielmehr ein von politischem Bewusstsein getragenes strategisches Kalkül. Das Handeln eines angeblich „bildungsfernen Handwerkers“ (S. 8) konsequent auf schwäbischen Eigensinn und obsessive Neigungen zurückzuführen, versucht Benz nicht, und sieht Elser summarisch „ohne intellektuellen Anspruch aus moralischem Antrieb (…) als freiheits- und friedliebender Bürger“ (S. 163), „als moralisch empfindendes politisches Wesen“ (S. 8) handeln – was dem geschichtspolitischen Mainstream entspricht, von radikalen Motiven des „Bürgerbräu-Attentats“ zu abstrahieren, um den Widerstandskämpfer für heutige liberal-demokratische Maßstäbe besser rezipierbar zu machen.
Zu den großen Stärken des Buches gehört die profunde Beschreibung des fehlgeschlagenen Anschlags von München und des langen Leidenswegs für die gesamte Familie Elser, der daraus folgte. Konzise rekonstruiert Benz die Festnahme und die Ermittlungen im nationalsozialistischen Unrechtsstaat, kommentiert überzeugend die Quellen über die Haft in den KZ Sachsenhausen und Dachau, ordnet die Isolation des Attentäters mit aussagekräftigen Details in das komplexe System der „persönlichen Gefangenen des Führers“ ein und zeichnet einfühlsam nach, wie der politische Mord am 9. April 1945 dem angsterfüllten Leben des KZ-Häftlings ein Ende setzte. Seine souveräne Quellenkritik der bekannten Dokumente und Zeitzeugenquellen kommt besonders gut zum Tragen, wo er von Feindschaft, Opportunismus, Trauma und Verdrängung in Elsers Lebensmittelpunkt Königsbronn erzählt. Plastisch lässt Benz, der unweit von Elsers Zuhause aufgewachsen ist, die repressive Enge einer Provinz auferstehen, welche den leidgeprüften Angehörigen Elser noch lange nach Kriegsende zusetzte. In dieser schriftstellerischen Qualität geht Benz‘ Allein gegen Hitler über die bisherigen Lebensbilder hinaus.
Die in Allein gegen Hitler vielfach bemühte These eines schwäbischen Freiheitsdrangs, der sich in Elsers Attentat manifestierte, überzeugt nicht. Abgesehen davon hat Wolfgang Benz ein hervorragend lesbares Buch vorgelegt, das Georg Elsers Rang als großen Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus prägnant belegt. Gedenkpolitisch scheint ihm dieser Rang derzeit vor allem über eine Entpolitisierung eingeräumt zu werden. Dabei geraten kommunistische und christliche Motive aus dem Blick. Es wäre die Aufgabe der Geschichtswissenschaft, sich von solchen strategischen Rücksichten zu befreien und die radikalen Züge des „Bürgerbräu-Attentats“ in das Lebensbild zu integrieren.
Anmerkungen:
1 Vgl. Anton Hoch, Das Attentat auf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller 1939, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 4 (1969), S. 383–413; Lothar Gruchmann, Johann Georg Elser. Autobiographie eines Attentäters. Der Anschlag auf Hitler im Bürgerbräu 1939, Stuttgart 1989.
2 Vgl. exemplarisch Ulrich Renz, Georg Elser. Allein gegen Hitler, Stuttgart 2014; Georg-Elser-Arbeitskreis (Hrsg.), Gegen Hitler – gegen den Krieg! Georg Elser. Der Einzelgänger, der frei und ohne Ideologie, auf sich selbst gestellt, bereit war zum Eingriff in die Geschichte, Heidenheim 1989.
3 Vgl. Wolfgang Benz, Im Widerstand. Größe und Scheitern der Opposition gegen Hitler, München 2019, S. 129–155.
4 Vgl. Peter Steinbach / Johannes Tuchel, Georg Elser, Berlin 2010; dies., „Ich habe den Krieg verhindern wollen.“ Georg Elser und das Attentat vom 8. November 1939. Eine Dokumentation. Katalog zur Ausstellung, Berlin 1997.
5 Vgl. Hellmut Haasis, Den Hitler jag‘ ich in die Luft. Der Attentäter Georg Elser, Hamburg 2009.
6 Vgl. Peter Koblank, War Georg Elser Mitglied bei den Naturfreunden?, in: Mythos Elser, http://www.mythoselser.de/naturfreunde.htm (15.06.2023).