2008 war ein schwarzes Jahr für die Geschichtsschreibung der osteuropäischen Juden. Mit Jonathan Frankel starb einer der bedeutendsten Historiker der russisch-jüdischen Geschichte, der dieser Disziplin weit über ihre Grenzen hinaus Ausstrahlung verliehen hatte. Mit ihm, seinem Kollegen John D. Klier, der bereits 2007 überraschend verstarb, und Avraham Greenbaum sind damit herausragende Persönlichkeiten einer Generation von Wissenschaftlern von uns gegangen, die mit ihren Arbeiten unsere Kenntnis der komplexen Geschichte der russischen Judenheit geprägt haben. Frankels Buch repräsentiert diese, Veidlingers die folgende Generation der historischen Wissenschaft des osteuropäischen Judentums.
Mit „Crisis, Revolution and the Russian Jews“ werden eine Reihe von Aufsätzen Frankels der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, die alle bereits an anderen Stellen im Laufe der letzten 25 Jahre erschienen sind. Sie beziehen sich vor allem auf die russisch-jüdische Geschichte im Zeitraum von 1855 bis 1921, also von der Thronbesteigung des Reformzaren Alexanders II. bis zum Ende des Bürgerkrieges in der Sowjetunion. Jüdische Politik, proto-politische Organisationen, bedeutende Persönlichkeiten in Zeiten von Revolution, Krieg und Krise, sowie Ideologie und Geschichtsschreibung sind die Themen, anhand derer die russisch jüdische Erfahrung im späten Zarenreich sowie in der Emigration nachgezeichnet wird. Frankel selbst hatte diese Texte für die Veröffentlichung überarbeitet und mit einer Einleitung versehen, mit der er zugleich nochmals Position im historiographischen Diskurs seiner Zeit bezieht. Das veröffentlichte Buch selbst sollte er jedoch nicht mehr in Händen halten.
Frankel weist auf vier Kernthemen hin, welche diesen Aufsätzen und gleichzeitig seinem historiographischen Schaffen innere Kohärenz verleihen. Drei dieser Themen waren Gegenstand historiographischer Debatten, die Frankel kurz nachzeichnet. Zugrunde liegt seinem Schaffen zunächst die Überlegung, dass sich der jüdische Aufbruch in die Moderne, der sich in der westlichen Welt auf den Beginn des 19. Jahrhunderts datieren lässt, im Russischen Reich mit einer gewissen Verspätung um die 1880er-Jahre ereignete. Die russischen Juden modernisierten sich allerdings auf eine Art und Weise, die sich „radikal“ (S. 1) von ihren westlichen Glaubensbrüdern unterschied. Als eine Konsequenz dieser spezifischen russisch-jüdischen Modernisierung macht Frankel die entscheidende Rolle aus, welche die Juden in der russischen revolutionären Bewegung gespielt haben.
Zweitens besteht Frankel, entgegen zahlreicher Anwürfe, auf seiner Lesart, dass vor allem die russisch-jüdische Intelligenzija diesen Aufbruch in die Moderne vorangetrieben hat. Auch wenn Sozialhistoriker darauf hingewiesen haben, dass die Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung stärker von sozial-ökonomischem Wandel als von intellektuellen Debatten oder parteipolitischen Konflikten geprägt war, hat Frankel immer wieder das Leben und Wirken jüdischer Intellektueller und Politiker porträtiert.
Drittens kommt Frankel auf seine zentrale These zu sprechen, dass es vor allem Krisen waren, welche die Modernisierung der russischen Juden ausgelöst haben. Diese Überzeugung gab nicht nur dem vorliegenden Buch seinen Titel, sondern liegt auch seinen beiden epochalen Werken „Prophecy and Politics: Socialism, Nationalism and the Russian Jews 1862-1917“ (erschienen 1981) und „The Damascus Affair: „Ritual Murder“, Politics and the Jews in 1840“ (1997) zugrunde. Im vorliegenden Buch wird sie gleich im ersten Aufsatz allen anderen Themen vorangestellt. Für die russischen Juden, so hat Frankel wiederholt argumentiert, sei die Pogromerfahrung von 1881-1882 ein Wendepunkt gewesen, der die gesamte jüdische Geschichte verändert habe. Die Krise habe die Akkulturationsbestrebungen der jüdischen Intellektuellen in eine Opposition zum Zarenreich verwandelt und damit ihre Politisierung ausgelöst. Durch diese Erfahrung sei ein jüdischer Nationalismus ebenso ausgelöst worden wie die Beteiligung von Juden an der sozialistischen revolutionären Bewegung und die massenhafte Emigration in die USA und nach Palästina.
Dass die Pogromerfahrung von 1881 eine Zäsur darstellt, ist ein Paradigma der russisch-jüdischen Geschichtsschreibung. Gerade dieses Paradigma ist aber auch besonders häufig kritisiert worden, unterliegt ihm doch die Vorstellung, dass es vor allem die antisemitische Politik der russländischen Obrigkeit war, welche die jüdische Modernisierung ausgelöst hat. Demgegenüber ist von jüdischen Kulturhistorikern argumentiert worden, dass die Gründe für das nationale und politische Erwachen innerhalb der jüdischen Gemeinschaften selbst gelegen haben.
Das vierte Thema, das die Frankelschen Arbeiten wie ein roter Faden durchzieht, sind die Wechselwirkungen zwischen den russischen Juden und den Zentren der jüdischen Emigration. Entgegen der Kritik, dass die inneren Verwerfungen die Juden im russischen Ansiedlungsrayon und im Königreich Polen ausreichend in Atem hielten und dass jüdische Intellektuelle aus den USA oder aus Palästina nur einen sehr marginalen Einfluss auf die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse dort hatten, stellte Frankel immer wieder persönliche Verbindungen und Netzwerke, die diese Wechselwirkungen belegen, in den Vordergrund. Diesem Thema sind gleich zwei Aufsätze innerhalb des Bandes gewidmet.
Frankels historisches Denken, dass in der russisch-jüdischen Geschichtsschreibung einschlägig und schulbildend geworden ist, folgt dem Primat des Politischen. Diese Perspektive leitet er aus seiner persönlichen Erfahrung als Zeitgenosse von Zweitem Weltkrieg und Holocaust und Zeitzeuge der Gründung des Staates Israel und seiner Kriege ab.
Mit diesem Ansatz hat Frankel unsere Vorstellung der jüdischen Erfahrung im späten Zarenreich geprägt. Es war sein besonderes Verdienst, die Juden, eine marginalisierte und diskriminierte Gruppe im Russischen Reich, als handelnde Akteure in den Mittelpunkt einer politisch interessierten Geschichtsschreibung des späten Zarenreiches zur rücken. So schrieb er die Geschichte der russischen sozialistischen Bewegung gleichsam aus der Perspektive der revolutionär orientierten Juden um und zeigte, dass diese ohne die Juden nicht zu verstehen ist. Dazu bediente er sich als einer der ersten der reichen russischen und russisch-jüdischen Presselandschaft als Quelle.
Jeffrey Veidlingers Erkenntnisinteresse gilt ähnlichen Themen, nur nähert er sich diesen auf andere Weise. Er legt mit seiner zweiten Monographie eine kulturhistorisch inspirierte Arbeit vor, die sich eben für jene inneren Entwicklungen in den jüdischen Gemeinschaften interessiert, die bei Frankel zugunsten der Krise außen vor bleiben. Hiermit repräsentiert er die aktuelle Erforschung der jüdischen Geschichte im östlichen Europa, die stark vom Cultural Turn profitiert hat. „Public Culture“ bedeutet bei Veidlinger die Kultur des öffentlichen Lebens. Er bezieht sich auf „social imaginaries“ im Sinne Taylors, also auf die Wahrnehmung und Vorstellung, welche die Menschen von ihrer Welt haben. Er überbrückt somit sowohl die Trennung von Hoch- und Alltagskultur, als auch die von kulturschaffender Elite und Konsumenten. Diese theoretischen Vorüberlegungen setzt er anhand seiner Quellen und empirischen Betrachtungen überzeugend um und schreibt damit ein starkes und sehr gut lesbares Buch mit spannenden Details und der lebhaften Schilderung einzelner Ereignisse und Persönlichkeiten.
Seine Überlegungen gehen ebenfalls von einem Aufbruch der russländischen Juden in die Moderne im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aus. Er beschreibt die Entstehung der Gruppe der „weltlichen Juden“. Für diese war nicht mehr allein die jüdische Religion prägend, sondern sie begannen, sich für Kultur, Politik und jüdische Belange abseits der Religion zu interessieren.
Auf die Kultur des öffentlichen Lebens greift Veidlinger über die säkularen kulturellen Institutionen zu, die sich auf privater Basis unter den Bedingungen des späten Zarenreiches organisiert haben. Dabei steckt er mit den politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen den Kontext ab, in dem diese privaten Initiativen entstanden sind. Gleichzeitig schreibt er sich damit in bestehende Narrative, wie etwa Frankels politische Geschichte, ein. Zunächst beschäftigt er sich mit den Lesegewohnheiten der jüdischen Bevölkerung im Ansiedlungsrayon. Er untersucht Bibliotheken, die am weitesten verbreitete kulturelle Institution. Darüber hinaus beschäftigt er sich mit den beliebtesten Büchern und stellt Überlegungen dazu an, wie diese gelesen worden sind. Zweitens untersucht er die Literarischen Gesellschaften sowohl der Metropolen, als auch der „Schtetl“ des Ansiedlungsrayons. Er zeichnet Debatten über die jüdischen Sprachen und die Kooperation und Konflikte mit der staatlichen Obrigkeit nach. Darüber hinaus untersucht Veidlinger die öffentlichen Lesungen, die von den Literarischen Gesellschaften organisiert worden sind, und geht der Frage nach, wie diese auf die gesprochene Sprache der Juden im Ansiedlungsrayon gewirkt haben.
Drittens knüpft Veidlinger thematisch an sein erstes Buch „The Moscow State Yiddish Theater. Jewish Culture on the Soviet Stage“ an, indem er die Entstehung und Entwicklung von Theatern und Orchestern beschreibt. Dabei blickt er nicht nur auf die professionellen Theater und Orchester der Metropolen, sondern auch auf Laien- und Wandertheater, sowie Musikergruppen im Ansiedlungsrayon. Auch hier untersucht er sowohl Institutionen, als auch Individuen. So interessiert er sich etwa dafür, wie sich Laienschauspiel auf „moderne“ Kompetenzen von Individuen wie Selbstbewusstsein oder Fähigkeit zur öffentlichen Rede auswirkte und wie Theateraufführungen soziale Hierarchien innerhalb der traditionellen jüdischen Welt in Frage stellen konnte. Schließlich wendet er sich der Jüdischen Historisch-Ethnographischen Gesellschaft zu, einer der bedeutendsten jüdischen kulturellen Institutionen im Russischen Reich. Hier imaginierten bedeutende jüdische Intellektuelle, wie der Historiker Simon Dubnow oder der Ethnograph S. An-ski, die jüdische säkulare Nation in einem multinationalen Staat.
Eindrucksvoll beschreibt Veidlinger so, wie in den traditionellen jüdischen Lebenswelten der „Schtetl“ des Ansiedlungsrayon und in den Metropolen des Russischen Reiches ein jüdisches Kollektiv entstand, das sich nicht mehr allein durch Religion definierte. Durch die Gründung von kulturellen Institutionen, mit denen sie die Lage der Juden spirituell und materiell verbessern wollten, trieben jüdische Intellektuelle sozialen Wandel voran. Dadurch entstand ein säkulares jüdisches Zugehörigkeitsgefühl. Die Lesereisen jüdischer Dichter, die Vorführung eines jiddischen Theaterstücks, die Eröffnung einer Bibliothek oder der Tod eines berühmten jüdischen Schriftstellers wurden zu lokalen Ereignissen, die weit in die traditionellen jüdischen Gemeinden hinein reichten, aber ein neues Gefühl von jüdischer Gemeinschaft erschufen.
Wo der Politikhistoriker Frankel also den Aufbruch der russischen Juden in die Moderne anhand jüdischer politischer Aktivitäten und letztlich auch anhand der Politik gegenüber den Juden, wie sie sich in den Krisen von 1881-1882 äußerte, nachzeichnet, sucht der Kulturhistoriker Veidlinger nach den Ursachen für diesen Aufbruch in den jüdischen Gemeinschaften selbst. Jedes einzelne dieser beiden Bücher überzeugt für sich, aber zusammen genommen ergeben sie ein eindrucksvolles Bild der jüdischen modernen Erfahrung im späten Zarenreich.