Als am 1. November 1755 ein Erdbeben den Südwesten Europas erschütterte, verloren viele zehntausend Menschen ihr Leben. Die Flutwelle, die vom Beben ausgelöst wurde, erreichte sämtliche Küsten des Kontinents. Mehrere Wochen lang kursierten Berichte über das Unglück in der Publizistik. Das Erdbeben von Lissabon ist wohl nur das bekannteste unter den grenzübergreifenden Medienereignissen, die im Mittelpunkt des anzuzeigenden Bandes stehen. Er versammelt die Ergebnisse einer Tagung, die vom Gießener Graduiertenkolleg „Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“ und dem Potsdamer Forschungszentrum „Europäische Aufklärung“ Anfang Mai 2005 veranstaltet wurde. Inhaltlich konzentrieren sich die einzelnen Beiträge auf die République des Lettres, die sich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert allmählich in Europa formierte. Ziel des Sammelbandes, so die beiden Herausgeber, sei es nicht, eine Gesamtdarstellung zur Frage zu bieten, wie sich Europa im Angesicht des Anderen selbst verortete. Es gehe vielmehr um „Bausteine für eine mögliche zukünftige Geschichte europäischer Wahrnehmungen“ (S. 7).
Was konkret unter europäischen Wahrnehmungen zu verstehen sei und wie sie mit interkultureller Kommunikation und Medienereignissen zusammenhingen, entfalten die Herausgeber auf knapp einhundert Seiten in den ersten beiden Beiträgen des Bandes. Joachim Eibach stellt hierfür zunächst mit dem Osmanischen Reich, China und der Schweiz drei Beispiele für verschiedene Typen vor, wie das Fremde vom 16. bis ins frühe 19. Jahrhundert wahrgenommen wurde. Denn die Geschichte der Selbstwahrnehmung Europas war letztlich eine Geschichte der Wahrnehmung des Anderen. Da man sich das Fremde aber nur aneignen konnte, indem man es im bereits Bekannten verortete, ergaben sich laut Eibach drei unterschiedliche Modi der Fremdwahrnehmung: die Annäherung an ein vermeintliches Vorbild, die Abgrenzung gegenüber einem als feindlich vorgestellten Anderen oder die Exotisierung eines imaginierten Wunderlands. Dass ebenfalls die Schweiz vergleichend herangezogen wird, macht das Unterfangen zwar aufschlussreicher, aber auch riskanter. Immerhin lässt sich bezweifeln, dass die alpine Bergregion tatsächlich eine prinzipielle Fremdheit gegenüber Europa als tertium comparationis mit den beiden anderen außereuropäischen, nicht-christlichen Gemeinwesen teilt. Indem er seine aufwendig entworfene Typologie auf die drei Fallbeispiele überträgt, gelingt es Eibach jedoch, eine Entwicklung hin zu einer optimistischen, weltzugewandten Erkundungshaltung an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert nachzuzeichnen. Durch diesen epistemischen Wandel wurde aus dem bedrohlichen oder vorbildlichen ‚Fremden’ schließlich das ästhetisierte ‚Andere’. Aufgrund seiner Beobachtung, die sich mit Ergebnissen der Forschung zu zahlreichen anderen Wissensgebieten zu decken scheint, plädiert Eibach dafür, die Jahrzehnte um 1700 als eine „Sattelzeit in der Geschichte der Fremdwahrnehmung“ (S. 70) zu verstehen.
Thomas Weißbrich und Horst Carl fragen daraufhin in ihrem Beitrag, auf welche Weise im 17. und 18. Jahrhundert über den Nutzen und Gebrauch von Medien nachgedacht wurde. Ausgangspunkt für ihre Betrachtungen sind Caspar Stielers Abhandlung über das Zeitungswesen und Julius Bernhard von Rohrs Zeremoniallehre. Carl und Weißbrich arbeiten heraus, dass ein Geschehen vor allem dann zu einem grenzüberschreitenden Medienereignis werden konnte, wenn seine Darstellung das Publikum außerordentlich ansprach und berührte, ja regelrecht fesselte. Als besonders geeignet erwies sich hierfür die frühneuzeitliche Bildpublizistik, die sich als Verbund aus Bild- und Textmedien beschreiben lässt. Wenn allerdings beim Publikum kein Interesse geweckt werden konnte, weil weder der Vorfall in einem Bezug zur eigenen Situation zu stehen schien, noch die Medien anschaulich davon berichteten, dann blieb es bei der bloßen Nachricht – ganz gleich, ob es sich um ein europäisches oder außereuropäisches Ereignis handelte.
In Anbetracht dieser komplexen theoretischen Ansätze verwundert es nicht, dass die zehn Fallstudien im zweiten Teil des Bandes jeweils Schwerpunkte setzen und verstärkt interkulturelle Kommunikationen, Medienereignisse oder europäische Wahrnehmungen in den Blick nehmen. So untersucht beispielsweise Hillard von Thiessen in seinem Beitrag die interkulturelle Kommunikation zwischen den lutherischen und katholischen Bevölkerungsteilen im Fürstbistum Hildesheim. Dabei interessieren ihn insbesondere die Grenzen katholischer Identität. In Auseinandersetzung mit dem klassischen Konfessionalisierungsparadigma und in Analogie zur composite monarchy entwickelt er das Konzept von composite confessional churches. Hierdurch sei es ihm unter anderem möglich, anachronistische Beschreibungen zu vermeiden und nicht „die frühneuzeitlichen Konfessionskirchen als nahezu totalitäre, alle Lebensbereiche der Gläubigen bestimmende Einheit zu denken“ (S. 128). Denn Angehörige beider Konfessionen waren bereit, wie Thiessen souverän zeigt, konfessionelle Schranken zu überschreiten oder auf magische Mittel zurückzugreifen, wenn es darum ging, konkrete Ziele zu erreichen. Jenseits einer öffentlich-rituellen Sphäre war es also durchaus üblich, im Alltag konfessionell hybride Verhaltensweisen an den Tag zu legen.
Die drei folgenden Beiträge von Stephan Theilig, James Lee und Matthias Georgi beschäftigen sich auf ganz ähnliche Weise mit interkultureller Kommunikation und Phänomenen der Identitätsbildung. Kirill Abrosimov wendet sich demgegenüber in seinem Aufsatz über „Französische Aufklärer auf der Suche nach einer ‚Weltliteratur’“ dem Verhältnis von Eigenem und Fremdem am Beispiel zweier Periodika zu, die in der bisherigen medien- und literaturgeschichtlichen Forschung noch nicht hinreichend gewürdigt worden sind. Sowohl das Journal étranger als auch die Correspondance littéraire informierten ihr jeweiliges Publikum über literarische Veröffentlichungen in Europa. Abrosimovs luzide Untersuchung versteht es geschickt aufzuzeigen, wie sich die beiden Zeitschriften bei der Inaugurierung eines neuen pluralistischen Literaturkanons ergänzten. Das von ihnen propagierte Konzept der Weltliteratur orientiert sich allerdings vornehmlich an der Genieästhetik, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte und den philosophes nicht zuletzt als argumentative Waffe diente, um eine einflussreiche Position im kulturellen Feld zu erobern.
Auch Sven Trakulhun und Joachim Rees widmen sich dem Einfluss der Medien und der Art und Weise, wie sie Wissen über das Fremde schaffen, der eine mit Blick auf das Persische Reich, der andere am Beispiel der sogenannten „zweiten Entdeckung“ Brasiliens. Europäische Wahrnehmungen hingegen thematisiert der Beitrag von Rainer Liedtke. Anhand der Familie Rothschild zeigt er exemplarisch Formen der Selbst- und Fremdwahrnehmung in der jüdischen Wirtschaftselite Europas während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zugleich wendet sich Liedtke damit der jüdischen Transnationalität zu, deren Erforschung ein Desiderat darstellt. Seine Auswertung der Briefkorrespondenz der fünf Rothschild-Brüder lässt erkennen, dass ein länderübergreifendes Selbstverständnis kein Hinderungsgrund für nationale Bindungen und Loyalitäten war. Die Wahl des Wohn- und Geschäftsortes bestimmte maßgeblich, welche nationalen Interessen vertreten wurden, ungeachtet eines transnationalen Familienzusammenhalts.
Europäische Wahrnehmungshorizonte beleuchten ebenfalls die beiden letzten Aufsätze des Bandes. Susanne Lachenicht untersucht zunächst das Hambacher Fest von 1832 als „nationales Ereignis in transnationaler Perspektive“. Dabei macht sie deutlich, dass die wichtigste und größte liberal-republikanische Massenveranstaltung Deutschlands vor 1848 als „Produkt nachhaltig wirkender transkultureller Kommunikationsprozesse“ (S. 337) verstanden werden muss. Daraufhin nimmt Rolf Reichardt die Darstellung der Barrikadenkämpfe während der Revolution von 1848 in den Blick. Er weist nach, wie insbesondere weit verbreitete und stark typisierte Nachrichtenbilder die Revolution zu einem grenzüberschreitenden Medienereignis werden ließen. Insbesondere Reichardts Beitrag profitiert dabei von den zahlreichen Abbildungen und qualitätsvollen Bildtafeln, die in den Sammelband aufgenommen wurden.
Der Sammelband unterstreicht eindrucksvoll, dass nicht nur der sprichwörtliche Blick über den Tellerrand, sondern auch der Blick in die Vergangenheit für unser Selbstverständnis lehrreich sein kann. Die Stärke des Buches besteht jedoch weniger darin, ein Forschungsgebiet in seinen unterschiedlichen Facetten und aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Dafür wäre die Konzentration auf eines der drei Themenfelder des Bandes hinreichend gewesen. Stattdessen ist es das Verdienst der einzelnen Beiträge, den jeweiligen Zusammenhang zwischen interkultureller Kommunikation, Medienereignissen und europäischen Wahrnehmungen in den Mittelpunkt zu rücken und für die eigene Forschung produktiv zu machen. Auf diese Weise erscheint selbst ein so vielfach bearbeitetes Thema wie das Erdbeben von Lissabon in einem neuen Licht.