C. Kehrt: Technikerfahrungen deutscher Luftwaffenpiloten

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Title
Moderne Krieger. Die Technikerfahrungen deutscher Luftwaffenpiloten 1910-1945


Author(s)
Kehrt, Christian
Series
Krieg in der Geschichte 58
Published
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Extent
496 S.
Price
€ 49,90
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Nicole Goll, Institut für Geschichte, Karl-Franzens-Universität Graz

Die vorliegende Studie ist übersichtlich und klar strukturiert. Der Autor entschied sich bewusst für einen chronologischen Aufbau, und gliederte die Arbeit in zwei Teile, deren Schwerpunkte inhaltlich in den beiden Weltkriegen liegen, sowie ein zusätzliches „Übergangskapitel“, das als Exkurs durch die Zeit der Weimarer Republik führt. Im ersten Teil geht Kehrt der Frage nach, wie sich das Militär das Flugzeug und die damit verbundene Technik bzw. den neuen „Erfahrungsraum“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts aneignete. Innerhalb dieses Kapitels wählt Kehrt im Wesentlichen eine inhaltliche Zweiteilung: So definiert er zunächst die Vorstellungswelten der Luftfahrt (unter anderem Luftkriegsvisionen) und ihre langsame militärische Aneignung, gleichsam als Kontextualisierung der Entwicklungen. Kehrt thematisiert dabei die anfängliche Skepsis des deutschen Militärs gegenüber der militärischen Nutzung des Flugzeugs, die sich jedoch bald zerstreute. Die neue Technik wurde schon bald zunehmend ideologisch und politisch instrumentalisiert, stand sie doch als Symbol für Macht und Fortschrittlichkeit einer Nation. So führten die sogenannte Nationalflugspende und die gleichzeitig einsetzende Stilisierung des Flugzeuges zu einer nationalen Angelegenheit zu einem raschen Aufbau des militärischen Flugwesens. Immer mehr junge, technikbegeisterte Männer wollten an der „Eroberung der Luft“ teilnehmen, und das Militär bot ihnen diese Möglichkeit. Neben den verinnerlichten militärischen Tugenden sollte der zukünftige Flieger auch „Schneid“ und „Diensteifer“ sowie schnelles Reaktionsvermögen und eine gute Auffassungsgabe an den Tag legen. Die Presse prägte das öffentliche Bild der Piloten entscheidend mit, und stilisierte den Flieger als Beherrscher der Technik, als „neue Helden“. Männer wie Immelmann, Boelcke oder Richthofen symbolisierten (und tun das noch heute) das (zeitgenössische) Idealbild eines Militärpiloten, der alte militärische Traditionen mit den neuen Erfahrungen verband und damit auch für viele junge Männer ein nachzueiferndes Vorbild verkörperte. Gleichzeitig dienten sie als Gegenbild zum „anonymen“ Sterben im Stellungskrieg der Jahre 1914-1918.

Im zweiten thematischen Bereich des ersten Teils fokussiert sich Kehrt auf die praktische Umsetzung der neuen Technik und die Gefahren, Risiken aber auch Möglichkeiten, die diese mit sich brachte. Die Wissenschaft spielte hier eine große Rolle: erste Sicherheitstests wurden durchgeführt, psychologische und physiologische Studien über die Wirkung des Fliegens auf die Piloten verfasst. Zudem wurde versucht, durch das Veröffentlichen erster Ratgeber bzw. durch Schutzmaßnahmen Unfallrisiken zu minimieren. Gleichzeitig wurden auch erste Tauglichkeitskriterien für die Auswahl künftiger Piloten entwickelt, die später weiterentwickelt wurden. Gerade der Einsatz des Flugzeuges als neue Waffe (Gewaltdispositiv) eröffnete neue Gewalthorizonte (der Krieg in der 3. Dimension), die im Laufe des Ersten Weltkrieges zum Einsatz kamen und später perfektioniert wurden.

Die Ereignisse innerhalb der Zeitspanne von 1918 bis 1933 führt Kehrt sodann in einem (vielleicht zu kurz geratenen) Exkurs aus. Er thematisiert dabei die Bestimmungen des Friedensvertrages von Versailles, der die vorangegangenen Entwicklungen vorerst zum Erliegen brachten. Zwar wurden die fliegerischen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges ausgewertet, an eine militärische Nutzung des Flugzeuges war aufgrund der Vertragsbestimmungen jedoch nicht zu denken. Viele ehemalige Flieger wanderten so in die im Aufschwung begriffene zivile Luftfahrt ab. Die Technikbegeisterung, medial gesteuert, stieg gleichzeitig weiter an und stellte so die Weichen für den personellen Wiederaufbau einer modernen militärischen Luftmacht in Deutschland.

Auch der zweite Hauptteil hat dann eine zweigliedrige Struktur. Auch hier wechselt sich die Analyse von Vorstellungswelten, die von der Flugbegeisterung und einer ideologischen Steuerung während des Nationalsozialismus geprägt sind, mit auf die fliegerische Praxis bezogenen Ausführungen ab. Kehrt führt dabei aus, wie durch das Einspannen der Hitlerjugend und des Nationalsozialistischen Fliegerkorps (zum Beispiel im Bereich des Modellbaus) die Flugbegeisterung bewusst gesteuert und ein neuer Habitus des Militärpiloten erzeugt wurde. Denn, so hieß es, „Deutschland muss ein Volk von Fliegern werden“ (zitiert S. 221, Anm. 1). Kehrt kontrastiert dies mit der technischen Praxis eines zunehmend entgrenzten Luftkrieges. Die technischen Weiterentwicklungen (Höhen- und Hochgeschwindigkeitsflug) schufen höhere Anforderungen an den Piloten, machten gleichzeitig auch bessere Schutzmaßnahmen notwendig. Auch die Flugpraxis wurde mit der Leistungssteigerung des Flugzeuges komplexer; der Pilot musste mehrere Instrumente bedienen, was wiederum eine Ausdehnung bzw. Spezialisierung der Ausbildungsdauer im Vergleich zum Ersten Weltkrieg bedeutete. Die höhere Geschwindigkeit, der Nachtflug oder die erhöhte Reichweite der Maschinen sowie neue Luftkampfanforderungen schufen eine zunehmende Belastung der Flieger und erhöhten damit auch das Unfallrisiko. Dem wollte man zum einen durch ein effektives Training im Flugsimulator oder Trockenübungen entgegenwirken. Kehrt führt im letzten Kapitel Vorstellungswelt und Praxis zusammen und führt sie gleichzeitig ad absurdum, in dem er die Situation zu Kriegsende und die damit verbundene technische Unterlegenheit thematisiert, die durch ideologische Maßnahmen (Stichwort „Wunderwaffen“) ausgeglichen werden sollten.

Wie Christian Kehrt richtig bemerkt, steckt die wissenschaftliche Aufarbeitung der militärischen Luftfahrt in Deutschland noch in ihren Kinderschuhen. Zwar haben Arbeiten unter anderem von Dietmar Süß gezeigt, dass durchaus Interesse von wissenschaftlicher Seite besteht, dennoch ist die noch immer vorherrschende Diskrepanz zwischen einer populären, von der Faszination an unterschiedlichen Kriegstechniken geprägten Beschäftigung und einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der unterschiedlichsten Aspekte der Geschichte der Luftfahrt nicht zu übersehen. Daneben ist auch eine starke Zentrierung auf einzelne Piloten und deren Memoiren zu bemerken, die jedoch nur vereinzelt die Erfahrungen der Piloten mit der neuen Technik streifen. Auch die Praxis des Fliegens als technische Erfahrungsdimension und die Rolle des Piloten findet kaum Berücksichtigung. Genau diesem Manko widmet sich Kehrt erstmalig in seiner Arbeit. Denn wie Otto Lilienthal bemerkte: „Kenntnisse in der Fliegerpraxis lassen sich nur sammeln, wenn man im wirklichen Flug sich befindet.“ (S. 444, Anm. 2) Diese Aussage bildet die Grundlage der Ausführungen Christian Kehrts. Er untersucht erstmals deutsche Militärpiloten und ihre Technikerfahrung im Zeitraum von 1910–1945 im Kontext technisierter Handlungszusammenhänge. Technik fasst Kehrt dabei als Ermöglichungsbedingung von Praxis, als Habitat, als strukturierte, objektive Struktur auf, die neue Erfahrungsräume öffnet (S. 26).

Sein kulturhistorischer Ansatz erlaubt es Kehrt, auch nach den Motiven der militärischen Aneignung technischer Innovationen zu fragen. Der technisch-taktische Wandel der Kriegsführung im Ersten Weltkrieg vor allem im Luftkrieg machte eine ständige Verbesserung der Waffentechnik, aber auch der Taktik und des Angriffsverfahrens notwendig. Interessant dabei ist, dass viele dieser Veränderungen als Reaktion auf die Realität des Krieges entstanden sind. Für Kehrt steht der Soldat als „Bediener“ oder „Nutzer“ der Technik, seine Erfahrungen im Umgang mit den neuen Waffen und Geräten im Kriegsalltag, die „Kontrolle des Fluges sowie der Schieß- und Zielvorgang als technisch vermittelte, Akteurs zentrierte Gewalthandlungen“ im Zentrum. Dabei wirft der Autor die Frage nach der Bedeutung der Technik für den „Nutzer“, nämlich den Piloten auf, und inwieweit die zunehmende Technisierung die Erfahrung des Krieges gestaltet. Kehrt geht von der These aus, dass „jeder Technisierungsschritt neue Handlungskompetenzen und Habitualisierungsprozesse impliziert und dabei an ältere, militärische Deutungsmuster gebunden bleibt.“ (S. 24) Anders gewendet, die Technisierungsprozesse blieben zwar in den gültigen Hierarchien verhaftet, die Soldaten mussten aber den Umgang mit der neuen Technik erlernen und sie, wenn notwendig, an die im Kriegsfall vorherrschenden Gegebenheiten anpassen. Ihre Erfahrungen wurden wiederum in den Konstruktionsprozess eingebaut und halfen so die Technik laufend zu verbessern. Diese wurde wiederum an die Bedürfnisse der Piloten im Einsatz angepasst.1 Ziel seiner Arbeit ist es, die technischen Aspekte der Flugerfahrung mit kultur- und sozialgeschichtlichen Methoden zu untersuchen und den Zusammenhang zwischen der Kriegserfahrung der einzelnen Piloten (mit ihren neuen Handlungsmöglichkeiten) und den unterschiedlichen Prozessen der Technikentwicklung (das Flugzeug als Gewaltdispositiv) näher zu beleuchten. Und das ist Kehrt auch gelungen. Trotz einer schlechten Quellenlage, mit der der Luftfahrthistoriker zu kämpfen hat, ist es Christian Kehrt gelungen, die Kriegserfahrung deutscher Piloten aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Quellen zu beleuchten. Dazu dienten ihm unter anderem Erfahrungsberichte, Denkschriften, Dienstvorschriften, Tagebücher, Interviews (jedoch nur drei Zeitzeugeninterviews), Pilotennachlässe etc. aus bundesdeutschen Archiven. Eventuell wäre als Abrundung ein Blick in britische und US-amerikanische Archive lohnenswert gewesen.

Trotz der problematischen Quellenlage schafft es Kehrt mit der vorliegenden Arbeit, einen innovativen, wissenschaftlichen Ansatz in den luftfahrtgeschichtlichen Diskurs einzubringen. Seine Studie zeichnet sich besonders durch die klaren Fragestellungen, in sich schlüssigen methodischen Zugänge und den übersichtlich strukturierten Aufbau aus. Alles in allem eine ausgewogene, genau recherchierte Arbeit mit viel Herzblut, die mit Recht mit dem Nachwuchspreis der Georg-Agricola-Gesellschaft, dem Herbert Schumann-Preis der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt und dem Werner-Hahlweg-Preis für Militärgeschichte ausgezeichnet wurde.

Anmerkung:
1 Vgl. Kurt Möser, Schlachtflieger 1918 – ein technisches Waffensystem im Kontext, in: Technikgeschichte, 77,3 (2010), S. 185-231, 192f.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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