Wer sich aus einer transnationalen Perspektive mit der Moderne befasst, der kann an Schweden nicht vorbeisehen. Zu eigentümlich ist der "Weg", den das Land (wie zum Teil auch seine skandinavischen Nachbarn) im 20. Jahrhundert gegangen ist, als das er sich analytisch in eine vereinfachende Unterscheidung zwischen autoritären und demokratischen, repressiven und pluralistischen Modernisierungsvarianten fügen ließe: Wie soll man eine Gesellschaft einordnen, die bis in die 1990er-Jahre nahezu ununterbrochen sozialdemokratisch regiert wurde – aber von einer Sozialdemokratie, die schon um die Jahrhundertwende undogmatisch und reformorientiert war, und die in den 1930er-Jahren eine klassenübergreifende Gemeinschaft, das "Volksheim", propagierte, deren Verwandtschaft mit den Volksgemeinschaftsverheißungen in Weimarer Republik und "Drittem Reich" offenkundig ist1, deren dunkle Seite wiederum – die in bis in die 1970er-Jahre praktizierte Sterilisierung sozial abweichender Menschen – leicht zu apologetischen Gleichsetzungen verleitet? "Schweden" ist nicht zuletzt deshalb so schwer zu fassen, weil der Blick auf das Land oft tagespolitisch eingefärbt ist. Immer wieder wird es "entdeckt", wenn es um "dritte" Wege geht, wobei das jeweils Begrüßte (etwa: hoher Bildungsstandard, Gerechtigkeit) je nach Problemlage rasch zum Angsttopos werden kann (fehlende Elite, Konsensdiktatur). Beim Vergleich sich modernisierender Gesellschaften jedenfalls darf der oft widersprüchlich anmutende "Funktionssozialismus" (Gunnar Adler-Karlsson) in Schweden nicht vergessen werden. Darum gilt es, die geringe Rezeption schwedischer Forschung und Quellen in der deutschen Geschichtswissenschaft zu überwinden.
Einen ersten Schritt in diese Richtung ermöglicht die Quellenanthologie "Modern Swedish Design", denn sie macht wichtige Dokumente der schwedischen Geschichte zugänglich. Der Titel des Bandes ist irreführend, hier geht es nicht nur um Design, sondern um drei kultur- und gesellschaftshistorisch bedeutsame Texte, die mit großer Umsicht ins Englische übertragen wurden: "Beauty in the Home", ein Text aus Ellen Keys Essaysammlung "Skönhet för alla" ("Schönheit für alle", 1899), Gregor Paulssons "Vackrare Vardagsvara" ("Schönerer Alltagsgegenstand", 1919) und "Acceptera" ("Akzeptiere", 1931). Allen drei Texten ist jeweils eine kurze Einführung vorangestellt; außerdem enthält das Buch eine Einleitung der Herausgeber, einen Essay des Architekturhistorikers Kenneth Frampton und eine Auswahlbibliografie.
Am Anfang steht ein Aufsatz der einflussreichen Reformpädagogin Ellen Key (1849-1926). Keys Text kreist um die Frage, wie jede Familie auch mit geringen Ausgaben ein "schönes Heim" kreieren kann, und wendet sich dabei mit Empfehlungen zur Auswahl und Positionierung von Möbeln, zur Farbgebung von Tapeten usw. insbesondere an die Frauen als "Heimschaffende". Keys Argumentation ist durchdrungen von der Überzeugung, dass die Einsicht in die Natur der Schönheit moralische und soziale Verbesserungen ermögliche, die allen Schweden zu Gute kämen. Soziale und ästhetische "Harmonie" sind dabei oft ununterscheidbar: der Propagierung von Einfachheit und Zurückhaltung, Materialtreue und Zweckmäßigkeit steht die Ablehnung alles Prätentiösen gegenüber, aller Formen von Imitation und Repräsentationssucht.
In seinem zwanzig Jahre später erschienenen, stark von Keys beeinflussten Text ruft der Kunsthistorikers Gregor Paulsson (1889-1977) dazu auf, die Industrialisierung der Produktion von Konsumwaren nicht zu verteufeln. Paulsson, der bald Leiter der "Svenska Slöjdförening" werden sollte – des schwedischen Äquivalents des Deutschen Werkbundes also – argumentierte hier, der Gegensatz von Kunst und maschineller Massenfertigung sei nur ein scheinbarer, denn beide produzierten, wenn richtig praktiziert, Wahrheit: "Thruth [...] means fitness for purpose." (S. 85) Paulsson verfolgte ein Synchronisierungsprogramm: Form und Fertigungsweise von Alltagsgegenständen hatten für ihn Ausdruck der Zeit zu sein – gegenwärtig schienen sie aber fast hoffnungslos in Verzug geraten, was zu gesellschaftlichen Verwerfungen führe. Die Verbesserung und vor allem Verbilligung der Gebrauchswaren dagegen beschleunige den ökonomischen und sozialen Fortschritt. Die Kooperation von Künstlern und Ingenieuren, so Paulsson, könne außerdem die Wettbewerbsfähigkeit schwedischer Produkte verbessern.
Das Buch "Acceptera" schließlich, 1931 von einem Autorenkollektiv verfasst, entstand in der Folge der zeitgenössisch heftig debattierten funktionalistischen Gewerbeausstellung "Stockholmsutställningen 1930". Deren Fokus auf die industrielle Fertigung hatten "konservative" Gestalter kritisiert, weil damit die einheimische Handwerkstradition vernachlässigt werde. Paulsson hatte die Ausstellung geleitetet, ihr Hauptarchitekt war Gunnar Asplund (1885-1940), beide waren (neben drei weiteren Architekten) Mitautoren von "Acceptera", das als Versuch zu verstehen ist, die Deutungshoheit über die "Stockholmsutställning" zu gewinnen. In dem Buch forderten sie, die Einsparungsmöglichkeiten zu nutzen, die die Massenfertigung insbesondere im Wohnungsbau biete. "Acceptera" propagiert tayloristische Effizienzideale, bis hin zum technokratischen Phantasma, alle gesellschaftlichen Teilbereiche ließen sich wie eine Maschine verschalten und lenken. Im Buch koppeln sich antiästhetisches Denken, Technikemphase und soziales Pathos. Zugleich weist es voraus auf den dezidiert sachlichen, teils fast szientistischen Politikstil der Sozialdemokraten nach ihrer Regierungsübernahme 1932. Tatsächlich hatten einige Autoren des Buchs – insbesondere der Stadtplaner Uno Åhrén (1897-1977) – bis in die 1960er-Jahre großen Einfluss als Politikberater.
Alle drei Texte stehen zwar in einem transnationalen Kontext – Key war geprägt vom englischen "Arts and Crafts Movement", in Paulssons Essay finden sich Verweise auf den Werkbund, "Acceptera" enthält viele Abbildungen von Bauten des "international style" – und doch weisen sie Besonderheiten auf. Allen Autor/innen gemein sind ihr Sendungsbewusstsein und damit verbundene Differenzierungen zwischen "falsch" und "richtig"; die Objektivität des eigenen Expertenwissens wird nicht in Frage gestellt. Vor allem aber durchzieht sie ein didaktischer Ton, sie schwanken stilistisch regelrecht zwischen Pamphlet und Ratgeberliteratur. Darin zeichnet sich nun eine Antwort auf die Frage ab, woher die von Außenstehenden so oft beobachtete Vereinbarkeit von Gegensätzen in Schweden rührt – von Freiheit und Integrationserfolgen, Persönlichkeitsentfaltung und Gemeinschaftsdenken usw. So verschiedenartig die Lebensreformideen Keys, der Pragmatismus Paulssons und die technokratisch-kollektivistische Utopie "Accepteras" anmuten: Alle drei Texte können als Schlüsseldokumente des social engineering interpretiert werden, wenn man dieses als Versuch versteht, auf das Alltagsleben der Menschen Einfluss zu nehmen, und zwar einerseits mittels Modellierung der materiellen, der räumlichen Bedingungen, unter denen sich dieses Leben vollziehen sollte, und andererseits durch die pädagogische Förderung der individuellen Arbeit am "guten", das heißt produktiven und gemeinschaftsdienlichen Dasein. Die Texte engagieren sich in der Erziehung zur Selbsterziehung, sie setzen auf die Steigerung der persönlichen Bereitschaft, die Selbstoptimierung als Bestandteil eines nationalen Verbesserungsprojekts anzugehen.2 Dieser Ansatz lässt sich im Schweden des 20. Jahrhunderts auf den verschiedensten Feldern beobachten: Bildung, Ernährung, Wohnen, Konsum, Freizeitgestaltung. Wir haben es mit einer sehr erfolgreichen "Normalisierung" zu tun, wie auch der deutsch-schwedische Vergleich zeigt.3 In Schweden wurde bewusst auf die Mündigkeit des Einzelnen gesetzt, dieser war aber zugleich einer intensiven Erziehungskultur ausgesetzt. Ziel war eine rationale, zugleich demokratisch legitimierte und gemeinschaftsbezogene Steuerung der Gesellschaft. Es ist diese nur auf den ersten Blick paradox anmutende Praxis, die bewährte, oft modernisierungstheoretisch geprägte Kategorisierungen durchkreuzt. Die Quellentexte repräsentieren die spezifisch schwedische Variante jenes komplexen, Länder übergreifenden Aufeinandertreffens historischer Entwicklungen, das gemeinhin "Moderne" genannt wird – und das sich besser verstehen lässt, wenn man die nordeuropäische Geschichte stärker würdigt.
Anmerkungen:
1 Vgl. Thomas Etzemüller, Total, aber nicht totalitär. Die schwedische "Volksgemeinschaft", in: Frank Bajohr / Michael Wildt (Hrsg.), Volksgemeinschaft. Neuere Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2009, S. 41-59; Norbert Götz, Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim, Baden-Baden 2001.
2 Das schwedische Erziehungsprogramm war auch ein Bildprogramm. So sollte die Bildeinbindung in "acceptera" die Möglichkeiten der industriellen Fertigung exemplifizieren – das lässt sich in "Modern Swedish Design" gut nachvollziehen, weil sich das Layout der Übersetzungen erfreulicherweise an die schwedischen Originale anlehnt.
3 Vgl. David Kuchenbuch, Geordnete Gemeinschaft. Architekten als Sozialingenieure – Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2010.