Zu den am besten erforschten Bereichen der juristischen Zeitgeschichte zählt die deutsche Justiz im Nationalsozialismus. Zahlreiche Juristen und Historiker haben zu diesem Themenkomplex veröffentlicht. Im Mittelpunkt des Interesses steht dabei nach wie vor die Strafrechtspflege vor allem der Sondergerichte, während andere Aspekte eher im Schatten stehen. Hierzu zählt auch das von Sarah Schädler behandelte Reichsjustizministerium unter Otto Georg Thierack, der das Amt vom Sommer 1942 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs bekleidete.
Der Ausgangspunkt Schädlers von Joachim Rückert betreuter juristischer Dissertation ist die „Justizkrise“ von 1941/42. Seit dem Herbst 1941 häuften sich in der gleichgeschalteten deutschen Presse Angriffe auf die Justiz. Insbesondere die SS-Zeitschrift „Das Schwarze Korps“ kritisierte die Rechtsprechung und griff vermeintlich zu milde urteilende Richter teilweise persönlich an. Den Höhepunkt der „Krise“ stellte Adolf Hitlers Reichstagsrede vom 26. April 1942 dar. Schädler begreift die „Krise“ überzeugend als „Inszenierung“, als deren Initiatoren sie vor allem Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich identifiziert. Gerade die Polizeiführung, so Schädler, hatte ein großes Interesse an einer Schwächung der Justiz, um ihr weitere Kompetenzbereiche zu entwinden. Am Ende der „Krise“ stand die Ernennung Thieracks zum Reichsjustizminister, der von Hitler mit – scheinbar – umfassenden Vollmachten zur Reformierung der Justiz ausgestattet wurde. In ihrem zweiten Kapitel befasst sich Schädler mit diesen Vollmachten und kommt zu dem plausiblen Schluss, dass diese vor allem der Kontrolle der Reformarbeiten durch die Partei- und die Reichskanzlei dienten, die jedem der Reformprojekte zustimmen mussten.
Die Reformierung der Justiz zählte zu den wichtigsten Aspekten der Ära Thierack. Schädlers Verdienst ist es, erstmals die einzelnen Reformprojekte systematisch dargestellt zu haben. Die Reformmaßnahmen umfassten unter anderem eine intensivere Anleitung der Rechtsprechung, einen Neuaufbau der Gerichtsstrukturen und eine stärkere Bindung der Rechtsanwälte an den NS-Staat durch ihre Verbeamtung. Auch wenn, wie Schädler richtig ausführt, die psychologischen Folgen der letztgenannten Maßnahme nicht unterschätzt werden sollten, ist ihre Behauptung, dass „mehrere […] wichtige […] Bestandteile“ (S. 160) der Justizreform umgesetzt worden seien, nicht recht begründbar. Denn außer den Richterbriefen, die zu den Lenkungsmaßnahmen zählten, wurde keines der zahlreichen Projekte tatsächlich verwirklicht. Insgesamt gesehen muss die Justizreform deshalb als gescheitert betrachtet werden; darüber kann auch nicht das von Schädler ins Feld geführte Argument einer Verschiebung der Reform auf die Zeit nach dem Krieg hinwegtäuschen.
In der Forschung galt die Ära Thierack bislang als die Zeit der Kapitulation der Justiz vor der Polizei. In Thieracks erstes Amtsjahr als Reichsjustizminister fiel die Auslieferung einzelner Gefangenengruppen, darunter alle Juden und „Zigeuner“, an die Polizei, die sie mit Wissen und Billigung der Justiz den Konzentrationslagern zur „Vernichtung durch Arbeit“ zuführte. Ebenfalls beschlossen wurde der generelle Verzicht einer justiziellen Verfolgung von Juden und „Zigeunern“. Ihre Straftaten wurden künftig alleine von der Polizei geahndet. In der ursprünglichen Vereinbarung zwischen Thierack und Himmler war auch die Abgabe der Strafverfolgung über Polen und Russen enthalten gewesen, doch scheiterte dies vor allem am Widerstand der Gauleiter der „eingegliederten“ Ostgebiete und Hermann Görings. Thierack erscheint dabei in der Forschung als schwacher Minister, der dem Drängen Himmlers nachgegeben habe.
Sarah Schädler korrigiert dieses Bild auf überzeugende Weise. Thierack – das ist eines der Ergebnisse von Schädlers Buch – beherrschte das Intrigenspiel innerhalb der Parteigranden. Dies zeigte sich schon vor seiner Ernennung zum Reichsjustizminister, die keine alternativlose Selbstverständlichkeit war. Mit Hans Frank und Roland Freisler gab es ernsthafte Konkurrenten im Kampf um das Amt, das seit Franz Gürtners Tod im Januar 1941 von Franz Schlegelberger geschäftsführend verwaltet wurde. Thierack verschaffte sich in diesem Machtkampf die Unterstützung Himmlers, dem er die Überlassung der Staatsanwaltschaft an die Polizei in Aussicht stellte. Nachdem er Justizminister geworden war, verweigerte er jedoch mit Unterstützung Martin Bormanns erfolgreich die Abgabe dieser Kernkompetenz seines Ressorts. Auch die Abgabe der Strafverfolgung über die „Fremdvölkischen“ sei, so Schädler, nicht aufgrund von Druck erfolgt, sondern weil sich Thierack und Himmler darüber einig waren.
Leider enthält die erste Hälfte von Schädlers Studie, in der sie die „Justizkrise“, die Neubesetzung des Ministeriums und die Biographie von Thierack und seinen beiden Staatssekretären Curt Rothenberger und Herbert Klemm behandelt, zahlreiche Redundanzen. Teilweise ist dies auf die separate Darstellung der Biographie von Thierack und Rothenberger zurückzuführen. Doch nicht alle Wiederholungen sind damit erklärbar. So legt Schädler manchen Sachverhalt auf nur wenigen Seiten mehrfach dar, auch manches Zitat bringt sie öfter als einmal.
Enttäuschend ist Schädlers Darstellung der Strafrechtspflege, die im Gegensatz zur Analyse der Justizreform und der Gesetzgebungsprojekte unter Thierack sehr knapp abgehandelt wird. Hier macht sich besonders die dünne Literaturgrundlage bemerkbar, auf die Schädler ihre Studie stellt. Vor allem Nikolaus Wachsmanns Arbeit über die Gefängnisse unter dem Nationalsozialismus hat sie nicht wahrgenommen, obwohl der Strafvollzug zu den Zentralbereichen justiziellen Handelns zählt.1 In Schädlers Arbeit wird er auf nur zwei Seiten abgehandelt, wobei sie sich im Wesentlichen auf Äußerungen Thieracks beschränkt. Doch behandelt sie weder die Verwirklichung der Vorstellungen des Ministers durch die Strafvollzugsabteilung des Reichsjustizministeriums noch die Folgen für die Häftlinge in den Anstalten. Lediglich das in seiner Bedeutung und seinen Folgen für den Vollzug und die Gefangenen nicht zu unterschätzende Abkommen zwischen Himmler und Thierack, in dem die Überstellung von ganzen Gefangenengruppen an die Polizei zur „Vernichtung durch Arbeit“ vereinbart wurde, behandelt Schädler ausführlich; insbesondere die hinlänglich bekannten Verhandlungen zwischen den beiden stellt sie dar. Doch auf die praktische Umsetzung durch die eigens dafür geschaffene geheime Abteilung XV geht sie nicht ein.
Eine breitere Literaturgrundlage hätte auch geholfen, manchen Schnitzer zu vermeiden. So schreibt Schädler, dass die Justiz 1942 noch „den Prinzipien eines Rechtsstaates entsprechend“ (S. 21) gehandelt habe. Schädler meint damit wohl „justizförmiges Handeln“, das die Gerichte des „Dritten Reiches“ bis Mai 1945 pflegten. Doch besteht zwischen der justizförmigen Praxis der NS-Justiz und einer rechtstaatlichen Gerichtsbarkeit ein großer Unterschied. Schlicht falsch ist Schädlers Behauptung, dass erst durch den Reichstagsbeschluss vom 26. April 1942 die Gewaltenteilung aufgehoben worden sei – dies war bereits 1933 durch das Ermächtigungsgesetz geschehen. Schädler überschätzt auch die Ernennung Hitlers zum „obersten Gerichtsherrn“, die mit eben jenem Reichstagsbeschluss sanktioniert wurde. Sie hatte vor allem symbolischen Charakter und kaum praktische Auswirkungen. Schon zuvor hatte Hitler die Möglichkeit, Urteile „korrigieren“ zu lassen. Schädler ist aber voll und ganz zuzustimmen, dass das Hitler übertragene Recht, Richter jederzeit absetzen zu können, in ihrer psychologischen Wirkung auf die Richterschaft enorm war.
So fällt das Urteil zu Schädlers zweifellos wichtigem Buch gemischt aus: Einerseits korrigiert es plausibel das Urteil über Thierack und die Rolle der Justiz insgesamt in der zweiten Kriegshälfte, andererseits vermag die Studie in einigen zentralen Aspekten – insbesondere in der Darstellung des Strafvollzugs und der Strafrechtspflege – nicht zu überzeugen.
Anmerkung:
1 Nikolaus Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, München 2006. Vgl. Thomas Roth: Rezension zu: Wachsmann, Nikolaus: Hitler's Prisons. Legal Terror in Nazi Germany. New Haven 2004, in: H-Soz-u-Kult, 04.08.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-3-075>.