Mikkel Dacks als Dissertation in Calgary entstandene Studie ist Teil einer breiteren Neubewertung der frühen Nachkriegszeit und der Entnazifizierung in der jüngeren Forschung.1 Dack fasst den Begriff der Entnazifizierung weit und interpretiert sie aus Sicht der Gegenwart, in der die Geschichte der deutschen Demokratisierung und der Bundesrepublik insgesamt weithin als Erfolg verstanden wird. Der Entnazifizierung weist er dabei eine tragende Rolle zu. Dack konzentriert sich auf den Fragebogen als Instrument nicht nur der Informationsgewinnung und Klassifikation aufseiten der Entnazifizierungsbeauftragten, sondern auch der Identitätsstiftung für diejenigen, die ihn ausfüllten.
Als Quellen dienen dem Verfasser Fragebögen aus den vier Besatzungszonen mitsamt Anhängen (zum Beispiel Lebensläufe, eidesstattliche Erklärungen, Leumundszeugnisse, Briefe), Material aus administrativen und militärischen Zusammenhängen, Tagebücher, Kommissionsberichte, Kirchen- und Parteiregister, Zeitungen sowie vier Interviews, die Dack 2013/14 mit Deutschen geführt hat, die als Jugendliche das Kriegsende erlebten und zum Teil auch einen Fragebogen ausfüllten. Zwar lautet der Anspruch, alle Besatzungszonen in den Blick zu nehmen, doch im Mittelpunkt stehen die britische und die US-amerikanische Zone.
Das erste Kapitel befasst sich mit der Entnazifizierungsplanung auf amerikanischer und britischer Seite während des Krieges, mit Schwerpunkt auf der Entwicklung des Fragebogens durch zivile Expert:innen, in der Central European Section (Office of Strategic Services, OSS) und der German Country Unit (Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force, SHAEF). Der Fragebogen wurde von den anderen beiden Armeen übernommen und angepasst. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit Aufbau und Inhalt des im Mai 1944 erstellten Originalfragebogens, der 72 Fragen enthielt, und damit, wie er sich in den verschiedenen Besatzungszonen veränderte. Eine im Mai 1945 überarbeitete Version, die aber erst später in Umlauf kam, enthielt in der US-Zone nun 131 Fragen und legte mehr Gewicht auf Schul- und Hochschulbildung, Landbesitz, Arbeit und Einkommen sowie Militärdienst und Mitgliedschaft in NS-Organisationen. Außerdem enthielt das Dokument Fragen zur Judenverfolgung, etwa nach der „Arisierung“, und verlangte von den Befragten, Familienmitglieder zu nennen, die in NS-Organisationen oder in höherer Funktion tätig gewesen waren. In der britischen Zone wiederum wurde ab dem 1. Januar 1946 ein Fragebogen mit 133 Fragen verwendet, in dem auch Namen von Leumundszeug:innen angegeben werden mussten (S. 96f.). Dack hebt hervor, wie gewagt es war, auf einen Fragebogen, der von den Deutschen selbst auszufüllen war, als Hauptinstrument im „Screening“ zu setzen (S. 66).
Im dritten Kapitel geht es um die Durchführung dieses „Screening“ durch alliiertes und deutsches Personal. Laut Dack stand der Fragebogen von 1945 bis 1948 im Zentrum der Bemühungen, und zwar in allen vier Besatzungszonen (S. 112f.). Der Autor zählt auch Internierungen in den letzten Kriegsmonaten und -wochen zur Entnazifizierung (S. 117), dehnt den Begriff also sehr weit zugunsten einer soziologischen Interpretation. Allerdings ging es den alliierten Besatzern in der Phase bis zur deutschen Kapitulation vor allem erst einmal um Sicherheit und taktische Zielsetzungen, weniger um die Nachkriegsplanung. Die Entdeckung des NSDAP-Mitgliedschaftsarchivs im November 1945 erleichterte die Auswertung von Fragebögen dann enorm und machte sie verlässlicher (S. 127). Dacks anschauliche Beschreibung des bürokratischen Vorgangs bei dieser Auswertung zeigt, wie erheblich der Aufwand war – zumal in der US-Zone, wo die Entnazifizierung am weitesten ging (S. 127–144). Wie schon die Besatzungsmächte seien auch die deutschen Kommissionen von der Arbeitslast, die mit der Entnazifizierung verbunden war, überwältigt gewesen. Oftmals wurden nur leichte Strafen ausgesprochen. Selbst bekannte Nationalsozialisten wurden häufig bloß als Mitläufer eingestuft oder sogar amnestiert (S. 156f.). Dack fasst zusammen, dass der Fragebogen ein bei allen Beteiligten unbeliebtes, jedoch unverzichtbares Instrument der Besatzungsmächte gewesen sei. Letztlich habe man allerdings keinen Ausgleich zwischen Bestrafung und Rehabilitation finden können (S. 158). Dennoch sei es vor allem der Fragebogen gewesen, der die Entfernung etlicher Nationalsozialisten aus der Politik und Kultur sowie die Wiederbelebung eines öffentlichen, demokratischen Lebens ermöglicht habe.
Das vierte Kapitel befasst sich damit, wie die Entnazifizierung von den Deutschen erfahren wurde. Dack betont, dass die Entnazifizierung hauptsächlich von Mittelschicht-Männern im mittleren Alter durchlaufen wurde, also keineswegs repräsentativ war. Dennoch habe es innerhalb dieser relativ privilegierten Schicht Unterschiede gegeben. Frauen, einfache Arbeiter:innen, Kinder, Displaced Persons, Vertriebene und „Spätrückkehrer“ konnten sich der Entnazifizierung meist entziehen. Zu den möglichen individuellen Folgen der Entnazifizierung zählten Internierung, Entlassung, Geldstrafe, Rentenentzug, Besitzenteignung und Reisebeschränkungen. Entlastete und Mitläufer konnten ihre Anstellung (wieder) aufnehmen (S. 181). Ein solches Ergebnis habe es den Befragten auch ermöglicht, sich vom Nationalsozialismus und seinen Verbrechen zu distanzieren (S. 182). Wie bereits Hanne Leßau widerspricht Dack der Annahme, dass die Entnazifizierung nur eine lästige Pflichtübung gewesen sei, deren negative Auswirkungen bald schon wieder aufgehoben worden seien. Stattdessen habe die Entnazifizierung nicht nur finanzielle Einbußen verursacht, sondern weitreichende emotionale Folgen gehabt. Außerdem hätten die Betroffenen nicht gewusst, dass Strafen oder Einschränkungen nur kurzlebig sein würden. Dack kritisiert die retrospektive Bewertung der Entnazifizierung aus Sicht der Amnestien und Nachkriegskarrieren; er spricht sich mit Recht dafür aus, diese Phase für sich genommen zu betrachten und in ihren Folgen ernstzunehmen (S. 190f.).
Das fünfte und letzte Hauptkapitel widmet sich den „unbeabsichtigten Ergebnissen der Entnazifizierung“. Dazu gehörten sowohl Versuche, den Fragebogen zur Leugnung der eigenen Schuld und Mitschuld zu instrumentalisieren, als auch Denunziationen anderer Personen. Dack untersucht den Fragebogen hier als Ego-Dokument und autobiografische Quelle (S. 210f.). Für viele habe der Fragebogen dazu gedient, die eigene NS-Vergangenheit zu beschönigen und die eigene Verantwortung zu mindern. Befragte konstruierten und übten dabei auch eine neue Identität. Dack sieht die Entnazifizierung als einen Akt der Selbstreflexion und des spezifischen Erinnerns. Durch diese narrative Praxis hätten sich Personen die neuen Narrative auch selbst angeeignet (S. 227–229). Die Entnazifizierung sei also mehr als nur ein notwendiges Übel und praktisches Mittel zum Zweck gewesen. Befragte hätten Begrifflichkeiten aus dem Fragebogen adaptiert, zum Beispiel „passiver Widerstand“ (S. 240). Auch Opfernarrative seien vom Fragebogen ermutigt worden. Dack verweist hier auf deutsche Opferstatistiken (beispielsweise gefallene und verwundete Soldaten, Opfer des Bombenkriegs, Vertriebene, Opfer sexualisierter Gewalt). Statistiken zu Täterschaft sowie zu den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen wären an dieser Stelle eine sinnvolle Ergänzung gewesen (S. 240).
Sicher seien viele dieser neuen Identitäten und Geschichten fabriziert, ja mitunter regelrecht erlogen gewesen; dennoch enthielten sie zumindest für die Befragten einen Grad an Wahrheit als „erlernte Erinnerung durch den Akt des Dokumentierens“ (S. 250). Der Fragebogen habe dabei als Stimulus gedient, zum Beispiel durch das Einführen ambivalenter Begrifflichkeiten, die flexible Deutungen erlaubten. Dack schlägt weiterhin vor, den Fragebogen als „emanzipatorisches Instrument“ zu betrachten, das Millionen von Deutschen eine Stimme gegeben habe (S. 251). Insgesamt habe der Fragebogen eine Trennlinie zwischen den Befragten und dem Nationalsozialismus geschaffen, da sie sich von ihm distanzieren mussten, um sich eine Zukunft nach dem Ende des „Dritten Reiches“ aufzubauen (S. 252f.). Dack folgert, dass die politische Säuberung gescheitert sei, aber die Nachwirkungen im Privaten nicht zu unterschätzen seien (S. 252). Das muss meines Erachtens allerdings nicht heißen, dass dabei auch eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus stattgefunden hätte. Er wurde verurteilt, ohne die eigene Rolle kritisch hinterfragt zu haben.
Ob der Fragebogen tatsächlich einen langfristigen Effekt auf die Interpretation der NS-Vergangenheit hatte (S. 257), kann die Studie, die sich mit den Jahren 1945–1948 befasst, nicht belegen. Dafür sind weiterführende Arbeiten notwendig. Skeptisch zu betrachten ist auch Dacks Befund, dass die Entnazifizierung insofern erfolgreich gewesen sei, als der Nationalsozialismus in Deutschland nicht wieder Fuß fassen konnte und die heutige Bundesrepublik eine demokratische Führungsrolle einnehme (S. 259). Schließlich ist die deutsche Nachkriegsgeschichte und die „Vergangenheitsbewältigung“ wesentlich facettenreicher, als es dieser Befund zulässt. Ein langfristiger Blick auf die Folgen der Entnazifizierung ist wertvoll, aber eine direkte kausale Beziehung zur heutigen Bundesrepublik kann daraus nicht abgeleitet werden. Darüber hinaus begann die Distanzierung vom Nationalsozialismus für manche bereits früher, nicht zuletzt, als sich die militärischen Niederlagen häuften und der „Endsieg“ in immer weitere Ferne rückte. Als gemeinsame Erfahrung einer bestimmten sozio-ökonomischen Schicht hatte die Entnazifizierung aber sicherlich sinn- und identitätsstiftende Wirkung. Wie die restlichen zwei Drittel der Bevölkerung die Vergangenheit verhandelten, muss jedoch ebenfalls untersucht werden. Die Entnazifizierung und ihre Effekte sollten dabei in einen breiteren gesellschaftlichen, kulturellen, sozio-politischen und juristischen Kontext gesetzt werden.
Das Verdienst dieser Studie liegt darin, den Fragebogen als Instrument der Erfassung, Wissensproduktion und Identitätsstiftung in den Fokus zu rücken. Das Thema Entnazifizierung ist also noch längst nicht ausgeforscht. Die neueren Impulse sind zu begrüßen; sie haben bereits jetzt zu einem besseren Verständnis der Entwicklungsgeschichte, der Durchführung und der Erfahrung der Entnazifizierung bei Besatzer:innen und Besetzten geführt. Wünschenswert wäre eine umfassendere Einbettung in die Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus sowie in Studien zu „Volksgemeinschaft“, Täterschaft und „Bystanding“.
Anmerkung:
1 Siehe insbesondere Hanne Leßau, Entnazifizierungsgeschichten. Die Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit in der frühen Nachkriegszeit, Göttingen 2020; vgl. dazu meine Rezension, in: H-Soz-Kult, 07.12.2020, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-29575 (04.11.2023).