Eigentlich sollte sich ein Haus von Renommee wie der C. H. Beck Verlag in München nicht an die vertrauensbildenden Gepflogenheiten erinnern lassen müssen, dass, wie bei Knusperecken und Body-Milk, auch in Büchern das drin sein sollte, was draufsteht. Das mit „Geschichte der deutschen Einigung“ untertitelte, sich im Obertitel gar mit den beiden kraftvollsten Losungen der ostdeutschen Revolution schmückende Büchlein trägt ganz gewiss ein falsches Etikett: Zum einen liegt der entscheidende Aufbruch zur Demokratie zwischen Herbst 1989 und Frühjahr 1990 außerhalb des Fokus’ der zu besprechenden Darstellung, zum anderen wird der Prozess der deutschen Einheit fast nur in seinen sozial-, wirtschafts- und finanzpolitischen Aspekten vertieft.
Gerhard A. Ritter präsentiert hier noch einmal seine andernorts veröffentlichten[1] und in weiten Passagen textgleich gebotenen Forschungen in drei Schwerpunkten: „I. Die deutsche Einigung als Problem der internationalen Politik“, „II. Sozialpolitik in der deutschen Einigung“, „III. Die Wirtschafts-, Finanz- und Verfassungspolitik der Einigung“. Anders als die pompöse Banderole um 180 Seiten Text spricht der Doyen der deutschen Sozialgeschichtsschreibung selbst denn auch lediglich von „Schlaglichtern“ (S. 7).
Im ersten Teil gibt Ritter aus der Literatur einen kursorischen Überblick über die außenpolitischen Stationen auf dem Weg zum 3. Oktober 1990. Ohne die ostdeutsche Revolution näher zu beleuchten, erwähnt er sie mehrfach als die „entscheidende Triebkraft“ (S. 10) der gesamten Entwicklung.
Im zweiten Teil resümiert Ritter in unerreichter Kennerschaft neuerlich seine über Jahre akribisch erarbeiteten und glasklar formulierten Befunde. Eingebettet in die bundesdeutsche und internationale Entwicklung, verläuft seine tour d’horizon über ein Drittel des Buches von den Renten über die Unfallversicherung, die Arbeitslosenversicherung, die Sozialhilfe, das Gesundheitswesen, die Familien- und Frauenpolitik bis zum Arbeitsmarkt und den Arbeitsbeziehungen. Das Fazit weist noch einmal darauf hin, dass die Vereinigung die schon bestehende latente Krise des deutschen Sozialstaates entscheidend verschärft habe; eine Alternative zu der Übertragung des bundesdeutschen Sozialstaates auf den Osten habe es in der damaligen Konstellation jedoch nicht gegeben; bei ihren Entscheidungen, namentlich in der Sozialpolitik, habe die Regierung Kohl immer auch die bevorstehenden Wahlen in der DDR und im wiedervereinten Deutschland Ende 1990 im Blick gehabt. Als größten Fehler identifiziert Ritter die „Finanzierung von wesentlichen Teilen der Kosten der Vereinigung über die Solidargemeinschaften der Versicherten“ (S. 95).
Der dritte Teil bringt Ritters Arbeiten über die rechtlichen, ökonomischen und sozialen Sachfragen der Vereinigung noch einmal verkürzt und mit vielen Überlappungen zum zweiten Teil. Dabei gibt er einen überaus sachkundigen Einblick namentlich in die extrem komplizierten Verhandlungen über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und den Einigungsvertrag, bei denen es sich „nicht um Diktate der Bundesrepublik“ (S. 122) gehandelt habe. Vielmehr seien die Interessen der Bürger der DDR von deren Vertretern am Verhandlungstisch mit Nachdruck und vielfach mit Erfolg wahrgenommen worden. Kohls politisch richtiges Angebot der Währungsunion von Anfang Februar 1990 sei angesichts fehlender Alternativen „auch ökonomisch richtig“ (S. 111) gewesen, unterstreicht Ritter seine bekannte, nicht unumstritten gebliebene Position, auch wenn die tatsächliche Ausgestaltung dieser Vorschläge das vereinte Deutschland wegen politisch nachvollziehbarer Versäumnisse und des Drucks von Interessengruppen in eine finanzielle Schieflage gebracht habe.
Fazit: Unter dem gewählten Titel für das breite Publikum der Beck’schen Reihe ist das Buch zu spezialistisch, für den Spezialisten, der Gerhard A. Ritters bedeutende Forschungen schätzt, überflüssig.
Anmerkung:
[1] Siehe etwa: Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaates, München 2006; Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Sozialpolitik im Zeichen der Vereinigung (Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 11: Bundesrepublik Deutschland 1989-1994), Baden-Baden 2007; Gerhard A. Ritter, Eine Vereinigungskrise? Die Grundzüge der deutschen Sozialpolitik in der Wiedervereinigung, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 163-197; Gerhard A. Ritter, Die deutsche Wiedervereinigung, in: Historische Zeitschrift 286 (2008), S. 289-339; Gerhard A. Ritter, Die Kosten der Einheit. Eine Bilanz, in: Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, S. 537-552.