„Zwanzig Jahre sind ein Tag“, möchte man eingangs in leicht abgewandelter Form den österreichischen Philosophen Udo Jürgens zitieren. Unser historisches Bewusstsein betrifft in der Regel nicht die Zeit, die wir selber erleben. Meist fällt es schwer, Ereignisse der letzten Jahre konkret zuzuordnen, wenn sie nicht eine globale Bedeutung hatten wie der 11. September 2001. Vor diesem Dilemma steht auch die Zeitgeschichte, die im Unterschied zur Politikwissenschaft über die Zäsur des Revolutionsjahres 1989 noch kaum hinausgekommen ist. Angesichts dessen, dass die mediale Erinnerungsindustrie unsere Vergangenheit unter Kontrolle hat, und mit Hinblick auf den durch die Sperrfristen stark begrenzten Archivzugang ist es zweifellos ein gewagtes Unterfangen, eine Monographie über die Geschichte Polens zwischen 1989 und 2005 vorzulegen, erst recht, wenn der Klappentext des Buches damit wirbt, die Abhandlung basiere auf dem neuesten Forschungsstand.
Chwalba gehört zu den angesehensten polnischen Historikern, ist allerdings außer in Arbeiten über seine Heimatstadt Krakau nicht mit zeitgeschichtlichen Arbeiten in Erscheinung getreten. Dass es sich bei seiner hier anzuzeigenden Publikation nicht um eine akademische Darstellung handelt, sondern eine Art historischen Essay, gibt Chwalba bereits im Vorwort zu erkennen. Hiermit und noch mehr mit dem polnischen Originaltitel von 20051 wird klar, dass es sich bei dem Buch eigentlich um einen „speziellen Bericht“ handelt, der, wie sich zeigt, Leistungen und Versäumnisse der polnischen Demokratie nach 1989 zum Gegenstand hat.
Darin werden fünf Bereiche untersucht. Im ersten Teil bewertet Chwalba unter dem Aspekt „historischer Mythen“ nach einem kurzen Rückblick auf die 1980er-Jahre die Entstehungsgeschichte der polnischen Demokratie im Jahre 1989. Dabei zeigt er Mut zu klaren Thesen. Die Veränderungen von 1989 seien erfolgt, weil Moskau den Warschauer Kommunisten die Unterstützung entzogen und zugleich der Westen sowie der Papst Druck auf Warschau ausgeübt hätte. Vor 1981 habe es zwei Lager in Polen gegeben, die kommunistische Nomenklatura und die „schweigende Mehrheit“. Hinzu gekommen sei dann noch die Oppositionsbewegung, auf Phänomene wie Doppelmitgliedschaft in kommunistischer Partei und antikommunistischer Gewerkschaft „Solidarność“ geht Chwalba nicht ein. Der Mythosbegriff wird nicht erklärt, was für einen ideengeschichtlich arbeitenden Historiker wie Chwalba erstaunlich ist. Immerhin ist seine Bewertung der Ereignisse recht ausgewogen und er nimmt den „Runden Tisch“ und die Regierung von Tadeusz Mazowiecki gegen spätere Kritiker in Schutz, etwa indem er die wahre Bedeutung des so oft beklagten „dicken Strichs“ – also des angeblichen Verzichts auf eine Aufarbeitung der volkspolnischen Vergangenheit – herausarbeitet. Der zweite Teil ist den neuen Strukturen der „Dritten Republik“ im politischen und juristischen Bereich gewidmet, der dritte Teil den Entwicklungen in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Medien. Es folgen eine Analyse der gesellschaftlichen Veränderungen unter besonderer Berücksichtigung der Religion sowie eine Würdigung des Beitritts Polens zu EU und NATO.
Chwalbas Betrachtung zeichnet sich durch einen scharfen Blick aus, der auch die scheinbar entlegensten Details kundig einordnen kann. Im Vordergrund steht der (berechtigte) Stolz auf die Leistungen der vergangenen Jahre, die er gegen professionelle Schlechtmacher verteidigt. Dabei äußert er durchaus Kritik an bestimmten Zuständen. Die politische Klasse insgesamt kommt nicht gut weg, besonders verheerend ist seine Bewertung der letzten postkommunistischen Regierung unter Leszek Miller, aber auch die europakritischen Kräfte der neuen Rechten um die Kaczyński-Zwillinge müssen sich deutliche Worte gefallen lassen. Zu den negativen Punkten der Chwalba-Bilanz gehören weiterhin das Fehlen einer Bürgergesellschaft und echter Parteistrukturen, geprägt durch gewisse Elitenkontinuitäten zur Zeit vor 1989 und das Weiterwirken etatistischer Elemente in der Wirtschaft. Dies alles verblasst jedoch angesichts der allgemein konstatierten Modernisierung von Staat und Gesellschaft, die man in dieser Form sicherlich nicht erwartet hätte. Auch die radikalen, mit dem Namen Leszek Balcerowicz verbundenen Wirtschaftsreformen schätzt Chwalba als unbedingt notwendig ein, ohne die daraus resultierenden sozialen Härten kleinreden zu wollen. Das Buch bietet für Leser, die sich in postsozialistischen Gesellschaften – mit Ausnahme der DDR – nicht so auskennen, einen hervorragenden Einblick in die Transformationsprozesse. Man muss allerdings die Einschränkung machen, dass es sich um den Stand des Jahres 2005 handelt. Die in der Übersetzung angekündigte „Aktualisierung für den deutschen Leser“ beschränkt sich leider auf nur einige wenige Sätze. Das ist vor allem deshalb schade, weil ja gerade nach dem EU-Beitritt im Mai 2004 eine Reihe tiefgreifender Änderungen erfolgte. Als Beispiel sei nur die äußerst positive Entwicklung der polnischen Landwirtschaft genannt.
Wenn man diese Kritikpunkte in ein Gesamturteil einbezieht, kommt man dennoch zu der Erkenntnis, dass derzeit keine bessere Darstellung der Veränderung der Gesellschaft Polens seit 1989 vorliegt. Schon deshalb ist das Buch jedem zu empfehlen, der einigermaßen auf dem Laufenden sein möchte und nicht die Gelegenheit hat, die entsprechenden Fortschritte tagtäglich vor Ort zu überprüfen. Lediglich der Bereich der Jugend- und Alltagskultur hätte etwas ausführlicher beschrieben werden können, weil sich gerade hier die Annäherung an den Westen in explosionsartiger Geschwindigkeit vollzogen hat. Immerhin erfährt man einiges über die Veränderungen der Religiosität und der Haltungen zu gesellschaftlichen Minderheiten. Außenpolitische Entwicklungen hätten vielleicht etwas detaillierter dargestellt werden können, aber hierfür gibt es eine Reihe anderer Publikationen.2 In seinem kurzen „Bericht“ verweist Chwalba zu Recht auf EU- und NATO-Beitritt als die größten Errungenschaften der Dritten polnischen Republik. Fast noch wichtiger sei es aber festzuhalten, dass die meisten Polen heute mehr positive als negative Veränderungen sehen. Daran dürfte sich auch in den fünf Jahren seit 2005 nur wenig geändert haben.
Anmerkungen:
1 Andrzej Chwalba, III Rzeczpospolita. Raport specjalny [Die III. Republik. Ein Spezialbericht], Kraków 2005. Die 2009 erschienene tschechische Ausgabe trägt den Titel „Polsko 1989-2008. Dějiny současnosti“ [Polen 1989-2008. Eine Geschichte der Gegenwart], wirbt also mit einem Begriff, der der deutschen „Zeitgeschichte“ nahe kommt.
2 Als ein Beispiel wäre zu nennen Sebastian Gerhardt, Polska polityka wschodnia. Die Außenpolitik der polnischen Regierung von 1989 bis 2004 gegenüber den östlichen Nachbarstaaten Polens; (Russland, Litauen, Weißrussland, Ukraine), Marburg 2007 bzw. http://ubt.opus.hbz-nrw.de/volltexte/2004/239/pdf/20040310.pdf (11.03.2010).