„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“1 Wer kennt es nicht, das berühmte „Böckenförde-Diktum“, das immer dann gern im Munde geführt wird, wenn es um die sozialmoralischen Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens geht? Vor allem in den 2000er-Jahren, als das Verhältnis von Religion und Politik in der Öffentlichkeit breit diskutiert und schließlich sogar Gegenstand eines inzwischen seit vielen Jahren laufenden Exzellenzclusters wurde2, fand sich das Diktum so dermaßen häufig zitiert, dass man sich heute geradezu scheut, es erneut zu bemühen. Insofern ist die Zeit reif für eine kritische Historisierung nicht nur des berühmten Diktums an sich, sondern auch des gesamten Denk- und Lebensweges des 2019 verstorbenen Verfassungsjuristen, von dem es stammt. Erste Studien hierzu liegen bereits vor, angeregt vor allem von dem großen lebensgeschichtlichen Interview, das Dieter Gosewinkel im Winter 2009/10 mit Ernst-Wolfgang Böckenförde führte.3
Die französische Germanistin Sylvie Le Grand legt mit der Veröffentlichung ihrer überarbeiteten und aktualisierten Habilitationsschrift nun eine reich dokumentierte Arbeit vor, die zahlreiche neue Bausteine zu einer gleichwohl weiterhin noch ausstehenden Böckenförde-Biographie bietet. Sie konzentriert sich dabei neben Böckenfördes inzwischen gut untersuchter Rolle als Public Intellectual im deutschen (Laien-)Katholizismus vor allem auf sein weniger bekanntes Engagement als SPD-Mitglied und seinen Austausch mit prominenten sozialdemokratischen Führungsgestalten. Le Grand schöpft dazu vor allem aus Böckenfördes Nachlass im Bundesarchiv, den dieser bereits zu Lebzeiten als Vorlass der Forschung zugänglich gemacht hat, sowie aus Beständen im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Zudem hat sie umfassend von der Korrespondenz zwischen Böckenförde und Carl Schmitt Gebrauch gemacht, als dessen Schüler sich der sozialdemokratische Katholik zeit seines Lebens verstand und dies auch öffentlich nicht verschwiegen hat.4
Im ersten Teil ihres Buches zeichnet Le Grand den katholischen Kontext der intellektuell formativen Phase Böckenfördes nach. Wer mit der Geschichte des bundesrepublikanischen Katholizismus weniger vertraut ist, findet hier einen guten Überblick auf der Grundlage des Forschungsstandes. In diesen Kontext werden dann Böckenfördes frühe Schriften seit dem Ende der 1950er-Jahre eingeordnet. An erster Stelle ist hier Böckenfördes Aufsehen erregender Text „Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933“ zu nennen, mit dessen Veröffentlichung 1961 die kritische Aufarbeitung innerhalb der deutschen zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung einsetzte. Le Grand zeigt, dass Böckenfördes Intervention nicht nur zu einer bedeutenden publizistischen Debatte führte – etwa mit Hans Buchheim vom Münchener Institut für Zeitgeschichte –, sondern auch zu einer überbordenden Korrespondenz des Autors mit verschiedenen Akteuren im damaligen katholischen Raum.5 Demgegenüber scheint Böckenfördes ebenso wichtiger Aufsatz aus dem Jahr 1967 über „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, aus dem das bekannte Diktum stammt, zeitgenössisch wesentlich weniger Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben.
Im gleichen Jahr, also 1967, trat Böckenförde in die SPD ein. Was genau ihn zu dieser Entscheidung veranlasste, kann auch Le Grand nach der Durchsicht des Nachlasses nicht genau bestimmen. Im zweiten Teil ihrer Arbeit zeichnet sie jedoch sehr präzise die frühen Kontakte Böckenfördes zu Adolf Arndt nach, einem der Architekten des Godesberger Programms der SPD von 1959. Im Nachlass Böckenfördes befinden sich zudem 14 Briefe an Herbert Wehner, in denen Böckenförde unter anderem die gerade für Katholiken sensible Frage der Reform von Paragraf 218 (Schwangerschaftsabbruch) mehrfach thematisierte. Vor allem in zweierlei Hinsicht lässt sich Böckenfördes Engagement für die SPD allerdings sehr genau greifen: zum einen in seinem Kontakt zu Burkhard Reichert, dem katholischen Referenten im Kirchenreferat beim SPD-Parteivorstand, sowie zum anderen in Böckenfördes Rolle als Zulieferer, um nicht zu sagen als Ghostwriter für eine Rede Helmut Schmidts, die dieser im Frühling 1976 an der Katholischen Akademie Hamburg hielt. Tatsächlich schlug Schmidt hier im Kontext der damaligen bundesrepublikanischen Grundwerte-Debatte Töne an, die als eine Übernahme des damals noch wenig bekannten Böckenförde-Diktums gewertet werden können. Der Teil schließt mit einer eher systematischen Rekonstruktion von Böckenfördes Staatsverständnis, eingebettet in die wertkritische Tradition der Schmitt-Schule, die in der Bundesrepublik mit der Gründung der Zeitschrift „Der Staat“ ab 1962 ihren publizistischen Ort fand, in der verfassungstheoretischen Diskussion aber letztlich minoritär blieb.
Im letzten und dritten Teil ihrer Studie präsentiert Le Grand Böckenförde dann sowohl in konkret-biographischer Hinsicht als auch in systematischer Perspektive als einen Intellektuellen, der bewusst als „médiateur“ agiert habe, als Vermittler nicht nur zwischen Katholizismus und Sozialdemokratie, sondern darüber hinaus zwischen Kirche und Welt, Religion und Politik. In diese Richtung geht jedenfalls ihre Interpretation der Rolle Böckenfördes in dem von ihm zusammen mit dem Verfassungsrechtler Hans F. Zacher gegründeten „katholischen Gesprächskreis“. Hier trafen sich während der Jahre 1986 bis 1999 katholische Intellektuelle zu gemeinsamen Diskussionsrunden. Zweimal wandte sich der Gesprächskreis mit Denkschriften – einmal zum kirchlichen Vermittlungsproblem, einmal zur Frauenfrage – sowohl an die kirchliche Hierarchie als auch an den Laienkatholizismus, allerdings offenbar ohne größere Resonanz. Zudem erwähnt Le Grand einen eher unbekannten Text Böckenfördes, in dem dieser das Vermittlungsproblem der Kirche zwischen den spannungsreichen Polen von „Wächteramt“ und „Hirtenamt“ thematisierte. Böckenförde erscheint hier einmal mehr als ein Denker in der Tradition seines Münsteraner Lehrers Joachim Ritter, der im Anschluss an Hegel das Motiv der „Entzweiung“ – der Ausdifferenzierung unterschiedlicher politisch-gesellschaftlicher Handlungsräume – als Signum der Moderne herausgestellt hatte. Diese „Entzweiung“, so Le Grand, galt es für Böckenförde zu „vermitteln“, sowohl verfassungstheoretisch als auch ekklesiologisch. Die Einsicht in diese „Entzweiung“ – letztlich auch diejenige von Religion und Politik – mag einer der Gründe dafür gewesen sein, weshalb sich Böckenförde, wie die Autorin zeigt, mit der Engführung beider Bereiche im Begriff der „politischen Religion“ schwertat.
Sylvie Le Grand hat eine reich dokumentierte Untersuchung zum wissenschaftlichen und publizistischen Wirken Böckenfördes vorgelegt. Besonders im Hinblick auf Böckenfördes Engagement in der SPD, aber auch zu seinem Wirken im „katholischen Gesprächskreis“ der späten 1980er- und der 1990er-Jahre, geht die Arbeit weit über das bisher Bekannte hinaus. Andere wichtige Aspekte bleiben jedoch eher unterbelichtet, etwa Böckenfördes Rolle im maßgeblich von Walter Dirks und Eugen Kogon angeregten, 1966 gegründeten Bensberger Kreis, dessen Bedeutung für den bundesrepublikanischen Katholizismus wohl höher zu veranschlagen ist als der sich doch sehr hierarchienah gebende „katholische Gesprächskreis“. Ganz unbeachtet bleibt die Tätigkeit Böckenfördes am Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts von 1983 bis 1996. Lediglich in ihrer „Conclusion“ erwähnt Le Grand, dass die von Böckenförde als Verfassungsrichter abgegebenen immerhin elf Sondervoten nicht so recht ins Bild eines an der „Vermittlung“ interessierten „grand penseur“ passen.6 Insofern steht die große, umfassende Biographie zu Ernst-Wolfgang Böckenförde noch aus, was allerdings auch nicht der Anspruch der vorliegenden Arbeit ist, die zu einer solchen Studie gleichwohl wesentliche neue Bausteine liefert.
Anmerkungen:
1 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation [1967], in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt am Main 1991, S. 92–114, hier S. 112.
2 Siehe https://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/ (11.09.2024). Der Rezensent war eine Zeitlang an diesem Exzellenzcluster beschäftigt.
3 Dieter Gosewinkel, „Beim Staat geht es nicht allein um Macht, sondern um die staatliche Ordnung als Freiheitsordnung“. Biographisches Interview mit Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, Berlin 2011, S. 307–486; Reinhard Mehring / Martin Otto (Hrsg.), Voraussetzungen und Garantien des Staates. Ernst-Wolfgang Böckenfördes Staatsverständnis, Baden-Baden 2014; Mirjam Künkler / Tine Stein (Hrsg.), Die Rezeption der Werke Ernst-Wolfgang Böckenfördes in international vergleichender Perspektive, Berlin 2020.
4 Der Briefwechsel ist inzwischen publiziert: Reinhard Mehring (Hrsg.), Welch gütiges Schicksal. Ernst-Wolfgang Böckenförde / Carl Schmitt: Briefwechsel 1953–1984, Baden-Baden 2022.
5 Siehe dazu, die genaueren Kontexte genauer ausleuchtend, Mark Edward Ruff, The Battle for the Catholic Past in Germany, 1945–1980, Cambridge 2017, S. 86–120.
6 Siehe dazu Christoph Schönberger, Der Indian Summer eines liberalen Etatismus. Ernst-Wolfgang Böckenförde als Verfassungsrichter, in: Hermann-Josef Große Kracht / Klaus Große Kracht (Hrsg.), Religion – Recht – Republik. Studien zu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Paderborn 2014, S. 121–136; Patrick Bahners, Im Namen des Gesetzes. Böckenförde, der Dissenter, in: Mehring / Otto, Voraussetzungen und Garantien des Staates, S. 145–193.