Damien Tricoire beginnt seinen UTB-Band „Die Aufklärung“ mit einer Stellungnahme zum Konzept: Das Buch verstehe sich „einerseits als eine Einleitung in die Geschichte und Ideenwelt der Aufklärung für Studierende, die […] die meisten berühmten Protagonisten der Aufklärung und ihre Werke präsentiert. Andererseits durchziehen dieses Buch manche Thesen, die nicht zum Standardrepertoire in der universitären Lehre gehören und in der Forschung zum Teil umstritten sind.“ (S. 9) Tricoire macht sehr deutlich, dass der Band geprägt ist von eben jenen Thesen und Erzählungen, die er selbst überzeugend findet, da es – so seine Erklärung – ohnehin keine „neutrale Erzählung der Aufklärungsgeschichte“ geben könne. Die Brisanz der Thematik Aufklärung, mit ihren vielfältigen, identitätsbildenden Aufladungen sowohl innerhalb der Wissenschaften, die sich mit ihr beschäftigen, als auch als „Erinnerungsort, […] dem gemeinschaftsstiftende Geschichtsbilder anhaften“ (S. 15), mache jegliche neutrale Auseinandersetzung unmöglich. Für mich als Rezensentin, die persönlich die Idee neutraler Erzählungen von Geschichte im Allgemeinen und so heißer historiographischer Eisen wie der Aufklärung im Besonderen für illusorisch hält, ist diese Haltung zu begrüßen. Es ist also eine sehr Tricoire-gefärbte Aufklärung, auf die sich die Leserschaft zu Beginn einlassen soll. Wer dann jedoch vor allem Positionierungen innerhalb eines streitgeprägten Feldes erwartet, liegt falsch. Es folgt etwas deutlich Bemerkenswerteres, nämlich historiographisches Aufräumen im großen Stil – eine umfassende, differenzierende und defragmentierende Klärung der Aufklärung.
In einer von „Neun Fragen zur Aufklärung“ strukturierten, enorm inhaltsreichen Einleitung, sowie 13 thematischen Kapiteln räumt Tricoire auf in einem Themenkonvolut, dessen Facettenreichtum und Spannweite von Ideenwelten zu konkretestem Alltagsleben und (jedenfalls in diesem Band) vom Himmelreich bis ins Schlafzimmer reichen. Einleitend erläutert er unter anderem unterschiedliche historiographische und philosophische Auseinandersetzungen innerhalb des Feldes und stellt seine für den Band wegweisende Definition von Aufklärung vor, nämlich den „Anspruch, durch Philosophie am sozialen und politischen Fortschritt mitzuwirken, sowie damit verknüpfte Ideen, Symbole und soziale Praktiken“ (S. 38). Diese Definition dürfte sich in der Lehre als enorm anwendbar erweisen, gelingt es ihr doch, die vielen Ausrichtungen, Facetten und Ebenen der Thematik Aufklärung zusammenzuhalten, mit denen Studierende bei intensiverer Auseinandersetzung unvermeidlich konfrontiert werden. Aufklärung ist in diesem Verständnis von Philosophie durchzogen, aber nicht darauf reduziert – insbesondere die Einbeziehung der Praxisebene ist sinnvoll, denn sie erlaubt, das Konkrete, Angewandte und bisweilen sogar Alltägliche als essentiellen Teil von Aufklärung zu verstehen.
Auf diese einführenden Koordinaten folgt eine ungemein kenntnisreiche Tour durch die Thematik, über die Tricoire als „Geschichtserzähler“ durchweg trotz des nahezu beängstigenden Inhaltsspektrums ein bemerkenswertes Maß an Kontrolle behält. Stringent und mit beständigem Aufzeigen unterschiedlicher wissenschaftlicher Positionen und Denkschulen entwirrt Tricoire historiographisches Chaos, erklärt und sortiert – unter anderem! – Philosophien, Philosophen und Menschenbilder, Verhältnisse zu Politik und Religion(en), internationale Verwicklungen, Konzepte, Geschlechterfragen, Toleranz, aber auch Sexualmoral, Lust und Pornographie. Auch die zentralen Spannungsthemen in der heutigen geschichts- und erinnerungspolitischen Auseinandersetzung mit Aufklärung, insbesondere die Verhältnisse von Aufklärung und Rassismus, Antisemitismus und Kolonialismus, werden besprochen, inklusive eines kurzen, aber wichtigen Kapitels zur Revolution von St Domingue beziehungsweise Haiti.
Tricoires Aufklärung ist geprägt von Vielfalt und Paradoxien, dennoch entsteht übergreifend ein Eindruck von Kohäsion und, daraus resultierend, von Handhabbarkeit. Konflikt und Reibung gehen hierbei nie verloren, ebenso wenig wie kritische Distanznahme. Für die Anwendung als Kursliteratur ist dennoch anzumerken, dass die Lektüre der einleitenden „Neun Fragen zur Aufklärung“ für Studierende insbesondere zu Beginn der Ausbildung stark zu empfehlen sein dürfte, bevor andere Kapitel adressiert werden, um die Stoßrichtung des Bandes und die Positionierungen Tricoires besser nachvollziehen zu können. Zwar werden Letztere durchweg gut markiert und gründlich ausargumentiert, sodass sie für thematische Neueinsteiger:innen nicht zu subtil bleiben – so lehnt Tricoire beispielsweise Lynn Hunts, Robert Darntons und Margaret Jacobs‘ These einer engen Verknüpfung zwischen Aufklärung und pornographischen Schriften explizit ab und erklärt unter anderem, die Deutung könne „nicht völlig überzeugen“, die Autoren hätten zudem die Verbreitung pornographischer Schriften „deutlich überschätzt“ und eventuelle philosophische Einflüsse auf Pornographie übertrieben (S. 274). Es ist also auch ohne Vorkenntnisse möglich, Positionierungen wahrzunehmen. Die neun Fragen (Warum Aufklärung? Ist Voltaire an der Revolution schuld? Leitete die Aufklärung eine Säkularisierung ein? Wurde in der Aufklärung die bürgerliche Gesellschaft geboren? Hatte die Aufklärung eine Schattenseite? Kann man einen Gegensatz zwischen einer radikalen und einer moderaten Aufklärung ausmachen? Wo hat sich die Aufklärung entwickelt? Gab es die Aufklärung? Wie soll man aufklärerische Texte lesen?) und ihre ausführlichen Antworten sind jedoch unerlässlich, um die geballte Information der Themenkapitel angemessen aufschlüsseln zu können. Sie versorgen die Lesenden mit Grundlagen nicht nur zur Historiographie- und Philosophiegeschichte der Aufklärung samt ihren jeweiligen, vielfältigen Konflikten und räumen mit überkommenen Aufklärungsnarrativen auf. Sie vermitteln auch das für die weitere, gewinnbringende Lektüre des Bandes notwendige Verständnis dafür, dass es sich bei Aufklärung überhaupt um ein geschichtswissenschaftlich höchst kontroverses Thema handelt, in dem Positionierungen zu erwarten und von der Leserschaft zu bewerten sind. Für Studierende gerade der früheren Semester, die erfahrungsgemäß aus der Schulzeit recht rigide, idealisierte oder romantisierte Bilder von Aufklärung mitbringen, ist diese Vorbereitung zentral. Sofern jedoch Tricoires Einladung, sich erst durch die neun Fragen zu arbeiten, gefolgt wird, handelt es sich bei „Die Aufklärung“ um einen fantastischen Band, in dem durch enorm geschicktes und kundiges Erzählen Aufklärung zu einem beweglichen, bisweilen chaotischen, aber immer verwobenen Ganzen wird – nachvollziehbar, entmythologisiert und konkret für Studierende, hilfreich für Kolleg:innen, und absolut lesenswert.