Der Titel „Spur der Scherben“ ist bewusst in Anlehnung an den Defa-Film „Spur der Steine“ aus dem Jahr 1966 gewählt worden. Das passt! Denn in beiden Fällen verhinderten nach Ansicht der Autorin zentralistische Entscheidungsstrukturen und die daraus resultierende Inflexibilität das Gelingen eines hoffnungsvollen Aufbruchs in eine bessere (sozialistische?) Welt. Während in dem einen Fall die Planbürokratie eine Beteiligung der Belegschaft an der Entscheidungsfindung blockierte, war es in dem anderen Fall die Durchsetzungsfähigkeit einer überforderten Geschäftsleitung – in beiden Fällen also eine autoritär strukturierte Governance.
Dieses Buch behandelt jedoch nicht ein Kombinat in der DDR, sondern einen mittelständischen Betrieb in Westdeutschland, genauer gesagt eine Glashütte in der nordhessischen Kleinstadt Immenhausen. Der Eigentümer hatte Ende der 1960er-Jahre sein Unternehmen an den Rand des Konkurses manövriert und es, bevor er alles verlor, an die Belegschaft gegen eine Betriebsrentenzusicherung übergeben. Damit war die Hütte eine der ersten und eine von nur wenigen Dutzend Belegschaftsübernahmen in der Bundesrepublik überhaupt. Allerdings muss auch ein selbstverwaltetes Unternehmen geleitet werden, müssen Strategien entwickelt werden, um die Arbeitsplätze nicht nur kurzfristig, sondern auch auf längere Sicht zu sichern. Kurzfristig gelang eine Stabilisierung. Denn einerseits ging die neue Geschäftsleitung – anders als zuvor der Eigentümerunternehmer – auf die Veränderungsvorschläge der Belegschaft ein. Andererseits engagierten sich die IG Chemie und das sozialdemokratisch regierte Land Hessen für den Erhalt des Unternehmens, indem sie Kredite mobilisierten beziehungsweise Bürgschaften übernahmen. Denn über Sicherheiten, die es erlaubt hätten, auf dem Kreditmarkt an frisches Geld zu kommen, verfügte das Unternehmen nicht – abgesehen davon, dass Geschäftsbanken die Bonität eines selbstverwalteten Betriebes nicht allzu hoch eingeschätzt haben dürften. Sogar die gewerkschaftseigene BfG zierte sich, dem dringenden Wunsch der IG Chemie nach Hilfe nachzukommen. Ein Engagement war aus Sicht der Kreditgeber beziehungsweise der Bürgen eine hoch riskante Angelegenheit und so bestanden sie auf der Einrichtung eines „Beirates“, dem zwar gesellschaftsrechtlich nicht die Funktion eines Aufsichtsrates zukam, der sich aber als solcher im Laufe der Zeit selbst ermächtigte.
Auf mittlere Sicht gelang es der ersten (kollektiven) Geschäftsleitung jedoch nicht, das Unternehmen in ein ruhiges Fahrwasser zu lenken und so wurde sie ausgewechselt. Aber auch der neue Geschäftsleiter war nicht erfolgreich und verlangte der Belegschaft einiges an Verzichtleistungen ab (verringerte Betriebsrentenansprüche, Wiedereinführung der Samstagsarbeit und einen teilweisen Verzicht auf die Auszahlung des Weihnachtsgelds). Im Jahr 1976 beziehungsweise 1978 kam die Selbstverwaltung durch die Gründung der Glashütte Süßmuth GmbH und die Teilprivatisierung der Anteile an ihr Ende. 1989 wurde das Unternehmen vollständig privatisiert, bevor die Hütte Mitte der 1990er-Jahre endgültig geschlossen wurde. Die Frage, die sich für eine geschichtswissenschaftliche Analyse nun natürlich stellt, ist die nach den Gründen für das Scheitern der Selbstverwaltung und am Ende auch für den Konkurs im Jahr 1996.
Die Autorin sieht die Gründe für das Scheitern nicht darin, dass zu viele Köche den Brei verdorben hätten, sondern dass die Köche (das heißt die Belegschaft) de facto nicht mitentscheiden durften beziehungsweise dass die falschen Köche, nämlich die Beiratsmitglieder, an ihre Stelle traten. Für die Autorin ist deswegen nicht etwa „jene praxisbezogene Vorstellung von Selbstverwaltung gescheitert, die die Beschäftigten seit der Übernahme ihres Betriebs als befreiend und ökonomisch sinnvoll erfuhren. Gescheitert war vielmehr die mit der Befürwortung einer zentralen Form der Unternehmensorganisation verbundene technokratische Vorstellung von Selbstverwaltung, mit der sich die gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Unterstützer sowie die von ihnen ernannten Führungskräfte in jahrelangen Konflikten durchzusetzen vermochten“ (S. 680); und weiter: „Das größte Problem der Selbstverwaltung im Fall Süßmuth lag in den großen Defiziten der demokratischen Praxis.“ (S. 691)
Es wäre schön, wenn es so wäre. Aber mich überzeugt das Argument nicht, dass eine Beteiligung der Belegschaft an der Unternehmensführung, die diese Bezeichnung verdient, zu besseren Ergebnissen geführt hätte. Den Kreditgebern und Bürgen wird unterstellt, dass sie sich als Betriebsfremde in Dinge eingemischt hätten, von denen sie nicht wirklich etwas verstanden beziehungsweise verstehen konnten. Aber sie waren insofern nicht betriebsfremd, als sie ebenfalls eine Menge zu verlieren hatten: die Kreditgeber riskierten ihr Geld, die hessische Landesregierung musste bei einem Scheitern den Vorwurf der CDU-Opposition fürchten, das Geld der Steuerzahler für ein „sozialistisches Experiment“ auf hessischem Boden verschleudert zu haben, und der Gewerkschaftsfunktionär sowie zugleich Beiratsvorsitzende musste ähnliche Argumente in Hinblick auf die laufende Diskussion um das 1976 verabschiedete Mitbestimmungsgesetz fürchten, was nicht ohne Auswirkung auf seine persönliche politische Karriere als SPD-Landtagsabgeordneter geblieben wäre. Dass diese Stakeholder ihr „Schicksal“ nicht in die Hände einer für sie nicht berechenbaren Unternehmensführung legen würden und stattdessen Kontrolle über die Mittelverwendung beanspruchten, ist genauso verständlich (und berechtigt) wie der Versuch der Belegschaftsangehörigen, ihre Arbeitsplätze in der strukturschwachen Region zu sichern.
Gewiss machten die verschiedenen Geschäftsführer viele Fehler. Das weist die Autorin minutiös nach. Möglicherweise wären manche dieser Fehler vermieden worden, wenn die Gewerkschaftsfunktionäre nicht neulinke und andere „alternative“ Ratgeber weggebissen hätten. Aber ist es wirklich vorstellbar, dass in einem demokratischen Entscheidungsprozess die Belegschaft entschieden hätte, die Glasbläser – den Kern der qualifizierten Facharbeiterschaft – zu entlassen, als alle anderen Unternehmen der Branche die Herstellung von mundgeblasenen Gläsern wegen der in Deutschland hohen Arbeitskosten nach und nach ins Ausland verlagerten? Ich gebe gern zu, dass es zu schön gewesen wäre, wenn das Experiment der Selbstverwaltung funktioniert hätte. Aber ich fürchte, dass der zeitgenössische marxistische Ökonom Ernest Mandel recht hatte, wenn er bezweifelte, dass selbstverwaltete Betriebe in einer marktwirtschaftlichen Ordnung dem Wettbewerbsdruck der kapitalistischen Konkurrenz erfolgreich widerstehen können.
Allen, die sich für alternative Konzepte des Wirtschaftens interessieren, sei dieses Buch dringend ans Herz gelegt. Sie werden es verschlingen. Alle anderen Leser werden bei der Lektüre dieses Buches irgendwann zur „Daumenkino-Lektüre“ übergehen. Denn es ist mit fast 800 Seiten entschieden zu lang. Manche Teile – insbesondere die Geschichte der Glashütte bis zur Abgabe an die Belegschaft – sind gut geschrieben und lesen sich flott. Dagegen ist der mittlere Teil, in dem es um die Ursachen des Scheiterns geht, streckenweise redundant. Man liest von denselben Fakten, die von allen möglichen Seiten wieder und wieder beleuchtet werden. Das ermüdet und wird irgendwann zum Ärgernis. Mit einem „schlankeren“ Manuskript hätte die Autorin wahrscheinlich deutlich mehr Leserinnen und Leser als mit diesem „Ziegelstein“ erreicht. Insofern ist es für alle Seiten ausgesprochen schade, dass die Reihenherausgeber und der Verlag nicht eine quantitative „rote Linie“ deutlich unter 800 Seiten gezogen haben.