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Titel
crossing munich. Beiträge zur Migration aus Kunst, Wissenschaft und Aktivismus


Herausgeber
Bayer, Natalie; Engl, Andrea; Hess, Sabine; Moser, Johannes
Erschienen
Anzahl Seiten
206 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Friedrich von Bose, Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt Universität zu Berlin

Der vorliegende Band, der Katalog zur Ausstellung „Crossing Munich. Orte, Bilder und Debatten der Migration“, ist das Ergebnis eines an der LMU München angesiedelten eineinhalbjährigen Forschungs- und Ausstellungsprojekts, das Interventionen in den gegenwärtigen Diskurs um Migration in Alltag wie Wissenschaft mit dem Versuch einer Neupositionierung im Ausstellungskontext verbindet.1 Es reiht sich damit in die neueren wissenschaftlichen wie künstlerischen Bemühungen ein, Migration jenseits eines mehrheitsgesellschaftlichen Sprechens über die „Anderen“ zum Thema von Ausstellungen zu machen und gleichzeitig mit neuen Bildern und Erzählungen über eine Dekonstruktion der dominanten Blickweise hinauszugehen.2 Katalog wie Ausstellung folgen dabei dem Ansatz der Autonomie der Migration und begreifen, so die wissenschaftliche Leiterin des Projekts Sabine Hess, die verschiedenen Formen von Mobilität und Migration als Normalfall eines spätmodernen Alltagslebens.3 Damit schließt das Projekt sowohl inhaltlich als auch mit dem Anspruch, neue Formate in der Ausstellungspraxis zu entwickeln, an das von 2002 bis 2005 in Köln organisierte „Projekt Migration“ an.4 Den an der Ausstellung „Crossing Munich“ orientierten Kapiteln des Katalogs wurde daher ein weiteres Kapitel über das Ausstellungsmachen selbst hinzugefügt, das die eigene Praxis der Wissensproduktion kritisch beleuchtet: Denn jede Ausstellung muss sich als „subjektivierender Zeigeraum“ (Dorothee Richter, S. 98ff.) die Frage stellen, inwiefern sie „weniger aufklärt als Techniken des Selbst der AusstellungsbesucherInnen in der Form ästhetischer Formate bzw. Exponate kanonisiert“ (Vassilis Tsianos, S. 108).

Vier der fünf thematischen Blöcke decken sich mit der Aufteilung der Ausstellung und enthalten sowohl Ansichten der Installationen – allesamt in qualitativ hochwertigen und großformatigen (teils doppelseitigen) Farbbildern abgebildet – als auch damit in inhaltlichem Zusammenhang stehende, aber unabhängige Textbeiträge von Akteur/innen aus Wissenschaft, Kunst und Aktivismus.5 Den inhaltlichen Rahmen des Projekts stecken Sabine Hess und die Projektleiterin Andrea Engl in ihrem Beitrag ab, gefolgt von einem die Ausstellungsstruktur erläuternden Beitrag der Ausstellungsarchitekten Michael Hieslmair und Michael Zinganel. Der erste Block „Stadtbilder – Stadt(t)räume“ begibt sich dann auf eine „Spurensuche nach den sichtbaren, sowie unsichtbar gehaltenen und unsichtbar gemachten Zeichen der Migration im Stadtraum.“ (S. 19) Den Anfang macht Erol Yildiz mit einem Plädoyer für eine historische Perspektive auf Migration, durch die allein deren konstitutiver Zusammenhang mit Urbanisierung („Stadt ist Migration“, S. 20) sichtbar gemacht werden kann. Die folgenden Beiträge schließen sich diesem Plädoyer an: Sie befassen sich mit der Geschichte der strategischen Indienstnahme von Migration für lokale Imageproduktionen am Beispiel Münchens. Dennis Odukoya diskutiert hier die Stigmatisierung bzw. Instrumentalisierung von Migration in den Debatten um das „Gastarbeiter-Ghetto“ (1970er-Jahre) und zeigt auf der Basis eigener ethnografischer Forschung auf, wie Urbanität und Authentizität in den Dienst des heutigen „New Urban Chic“ genommen werden. Angela Koch hingegen weitet die allgemein mit dem Beginn der Anwerbung von „Gastarbeitern“ in den 1950er-Jahren geschriebene Geschichte der Migration bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts aus. Dies ermöglicht es ihr, sowohl die Tradition antisemitischer Stereotypisierungen und damit zusammenhängender Praktiken des Ausschlusses der jüdischen Bevölkerung, als auch frühere Formen der Arbeitsmigration (der sogenannten Transalpini sowie der Bewohner/innen der Münchner Herbergsviertel) in die Frage nach dem Verhältnis von Fremdheits- und Identitätskonstruktion der Stadt mit einzubeziehen. Die Präsentation der unter dem Thema erstellten fünf Ausstellungsinstallationen erweitert das Kapitel um eindrückliche Beispiele der ausstellerischen Inszenierung von eben jenen Orten, Bildern und Debatten der Migration, die auch jeweils deren räumliche Aneignungspraktiken zum Thema machen.

Auch die folgenden Kapitel sind nach diesem Schema aufgebaut: Den Textbeiträgen geht eine kurze Einführung in das übergeordnete Thema voraus und ihnen wiederum folgen Einblicke in die korrespondierenden Ausstellungsinstallationen. „Urbane Politiken“ beschäftigt sich mit kommunalen wie bundesweiten Migrationspolitiken, die jeweils in ihren Eigendynamiken, aber auch in ihren wechselseitigen Beeinflussungen durch europäische und gar globale Entwicklungen skizziert werden. Die ersten beiden Beiträge erarbeiten dabei für München (Eva Bahl et al.) und Berlin (Stephan Lanz) eine Genealogie des kommunalen Regierens: München wird gerade aufgrund des schon Mitte der 1970er-Jahre einsetzenden Diskurses um Integration als „Experimentierfeld für das Regieren von Migration“ (S. 62) ausgewiesen. Bilder und Beschreibung der Ausstellungsinstallation „Münchner Wege“ vermitteln dabei, was auch das Anliegen des Textes ist: Die Kontrollen und Regulierungen von Migration sind nicht ohne eine Betrachtung derjenigen zu begreifen, welche „allen Kontroll- und Regulationsversuchen immer wieder neue Migrationsstrategien und -wege entgegensetzen werden.“ (S. 63)

Genauso wenig sind bundesdeutsche Debatten um Migration und Integration jenseits des in Deutschland vorherrschenden essentialistischen und auf dem Abstammungsprinzip basierenden Kulturbegriffs verstehbar. Diese stellt Stefan Lanz als diskursive Grundlagen für die Rede von „Ghettos“ und „Parallelgesellschaft“ heraus. Birgit zur Nieden legt dagegen eine Genealogie des Deutsch-Lernens von der migrantischen Selbstorganisierung bis zu dessen Funktionalisierung als repressive Regierungsform in Gestalt der Integrationskurse dar. Damit beleuchtet sie anhand eines der zentralen Topoi im dominanten Migrationsdiskurs, wie restriktiv der Integrationsbegriff besetzt ist. Mit dezidierten Bezugnahmen auf historische Vorläufer macht dann Tobias Piepers Beitrag das Lager als „Instrument bio-politischer Regulation von Bevölkerungsbewegungen“ (S. 74) sichtbar. Ebenso wie die Präsentation der Ausstellungsstation „menschen[ver]handel[t]“ zeigt seine Analyse verschiedener gegenwärtiger Lagertypen im Spannungsfeld der Migration beispielhaft, wie prägend europäische und globale Entwicklungen für lokale Regierungsformen der Migration sind.

„Migration Ausstellen“ problematisiert dann das eigene Tun der Ausstellung im Kontext einer europaweit zunehmenden Anzahl von Migrationsmuseen und -ausstellungen. Kerstin Poehls diagnostiziert für diesen Kontext unter Bezugnahme auf die jüngeren kulturwissenschaftlichen Debatten, dass „etablierte Modi musealen Erzählens und Zeigens zur Disposition“ stehen (S. 95): Migrationsausstellungen zeigen dabei „gewollt oder ungewollt, welche Rolle sich eine Ausstellung oder ein Museum in einer ohne das ‚Querschnittsthema’ Migration gar nicht zu denkenden sozialen und politischen Welt zugesteht“ (S. 96). Das Projekt der Intervention in die Ausstellungslandschaft, die qua Geschichte des Mediums die Gefahr einer Essentialisierung birgt, wird mit Manuela Bojadžijevs Beitrag an die Frage gekoppelt, wie die Geschichte der Migration (neu) geschrieben werden kann – zu einem historischen Zeitpunkt, an dem zum ‚Management’ von Migration auch eine (immer potentiell vereinheitlichende) „’Integration’ in die Geschichtsschreibung“ gehört (S. 102). Entgegen einer etablierteren Geschichtsschreibung mit ihren Bezügen auf imaginäre Ursprünge von (territorial gedachter) Zugehörigkeit auf der einen Seite sowie einer zu oft relativistischen, anti-essentialistischen Rhetorik der Pluralisierung auf der anderen, macht Bojadžijev die Anerkennung eines „konstitutiven Widerspruchs“ stark: des Widerspruchs der „Geschichte eines nicht zu vereinheitlichenden Subjekts, eher also als eine Bewegung, die Bewegung der Migration“ (S. 104). Dabei ist die Vorstellung von Rassismus als immer historisch, sozial und politisch spezifisches Verhältnis unabdingbar. Zusammen mit Marion von Ostens Beschreibungen der „Suche nach einer neuen Erzählung“ in dem Ausstellungsprojekt „Projekt Migration“ wird hier deutlich, dass das formulierte Anliegen, die „Akzeptanz der evidenten Bilder der Migration zu verweigern und den Bildfundus der Migration zu befragen, zu erweitern, (...) zu stören, zu irritieren oder offen zu legen“ (S. 92) auch der Ausstellung „Crossing Munich“ zugrunde liegt.

Einen direkten Anknüpfungspunkt an die Überlegungen zu Repräsentationsmodi und der Herstellung bestimmter Wirklichkeiten bietet Anna Schrade in ihrem den Themenblock „Kulturproduktionen und -konstruktionen“ einleitenden Artikel: Mit dem Beispiel der filmischen Arbeiten Trinh T. Minh-has schildert sie eine ethnografische Praxis, die mit ihren radikalen Infragestellungen tradierter kolonialer Blick- und Distanzverhältnisse sicher auch gerade für (Migrations-)Ausstellungsprojekte spannende konzeptuelle Anschlussmöglichkeiten bietet. Die Präsentation der in der Ausstellung auch als Veranstaltungsort fungierenden „BalkanBar“ – als materialisiertem Ort von stereotypisierenden Imaginationen des Balkans als „Anderem“ – wird flankiert von einem Text von Slobodan Karamanic und Manuela Unverdorben über den „Balkan-Folk-Pop“. Dessen Musik- und Imageproduktion analysieren sie mit Referenzen auf das Konzept der peripheren Kulturindustrie als sich jeglicher Kanonisierung widersetzenden Musikstil. Auf sechs Katalogseiten skizziert sehr aufschlussreich der an der Ausstellung beteiligte Künstler Ralf Homann eine Geschichte aktionsorientierter künstlerischer Projekte im München der 1990er-Jahre (darunter schleuser.net, deportation.class und die Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen), die in Diskurse um Migration und Rassismus intervenierten und die er jeweils eng entlang des politischen Kontextes der Zeit diskutiert.

Vier Ausstellungsbeiträge, die das Thema „transnationale Ökonomien“ bündelten, werden im gleichnamigen letzten Abschnitt des Bandes drei Texten beiseite gestellt. Lisa Riedner und Philipp Zehmisch vertiefen in einer ethnografischen Studie über die „Aushandlung transnationaler Realitäten der Werksvertragsarbeit in München und Istanbul“ (S. 162) die Problematik des Lohnbetrugs, die sie zusammen mit Matthias Winzierl in der Ausstellungsstation „Eiskalte Händchen“ zum Thema machten. Analog zur Ausstellungsstation „Migrantische Kämpfe – Kämpfe der Migration“ interveniert Simon Goekes Text „’Multinationale Arbeiterklasse’ in München“ sehr aufschlussreich in das vorherrschende Bild unpolitischer Passivität der ersten Generation „Gastarbeiter“: Am Beispiel der teils gegen den Widerstand der Gewerkschaften organisierten „wilden Streiks“ bei BMW 1972 erzählt Goeke von den Protesten und Kämpfen, die ein ganz anderes Bild von „Integration“ im Sinne der Einforderung sozialer und politischer Teilhabe entstehen lassen.

Insgesamt gibt der Katalog äußerst vielseitige Einblicke in die dem Ausstellungsprojekt „Crossing Munich“ zugrunde liegenden Forschungsarbeiten sowie in deren Umsetzung in eine Ausstellung, die es mehr als verdient hätte, länger gezeigt zu werden. So bleibt zu hoffen, dass die hier erfolgten Interventionen in tradierte Bildwelten und Wissenskomplexe über Migration im bundesdeutschen Kontext von weiteren Ausstellungsprojekten aufgegriffen werden. Insbesondere die vielen an der thematischen Strukturierung der Ausstellung orientierten, von den einzelnen Ausstellungsarbeiten größtenteils aber unabhängigen Textbeiträge machen den Katalog zu einer sehr gelungenen, eigenständigen Publikation. Die Präsentation der einzelnen Ausstellungseinheiten mit großformatigen Raumaufnahmen und erklärenden Texten hat dabei einen Dokumentationscharakter, der in diesem Genre leider nur selten zu finden ist: Er ermöglicht umfassende Einblicke in die Ausstellungsgestaltung und gibt damit reichhaltiges Material an die Hand, über Strategien der Visualisierung nachzudenken. Mit seiner Verbindung von ethnografischer Forschung, politischem Aktivismus und künstlerischer Praxis und den kritischen Fragen an die eigenen Praxen der Wissensproduktion im Medium Ausstellung sei der Katalog allen ans Herz gelegt, die an aktueller kritischer Migrationsforschung sowie an den damit verbundenen Diskussionen über neue Formen des Ausstellungsmachens interessiert sind.

Anmerkungen:
1 Zu sehen in der Münchner Rathausgalerie vom 10.7.-15.9.2009; vgl. die umfangreiche und von Felix Kempf sehr gut gestaltete Webseite <www.crossingmunich.org> (22.06.2010) sowie Rezensionen der Ausstellung von Kerstin Poehls in der Zeitschrift kulturrisse: <http://igkultur.at/igkultur/kulturrisse/1253627489/1253790330> sowie von Doris Seidel in: H-Soz-u-Kult, 02.02.2010: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=127&type=rezausstellungenngen> (22.06.2010). Die Ausstellung wurde für die 4. Internationale Architektur-Biennale Rotterdam, die unter dem Motto „Open City: Designing Coexistence“ vom 24. September 2009 bis zum 10. Januar 2010 stattfand, für die Kategorie Diaspora nominiert.
2 Maßgeblichen Anstoß für eine überhaupt stattfindende museale Aufarbeitung der neueren Einwanderungsgeschichte leistete im deutschen Kontext das „Dokumentionszentrum und Museum über die Migration aus der Türkei e.V.“ (DOMiD), dessen Arbeit von Martin Rapp im Katalog vorgestellt wird. Vgl. auch <http://www.domid.org> (22.06.2010).
3 Vgl. <http://crossingmunich.org/perspektive-der-migration.html> (22.06.2010).
4 Vgl. <http://projektmigration.de> (22.06.2010).
5 Für das Inhaltsverzeichnis des Katalogs siehe: <http://crossingmunich.org/katalog.html> (22.06.2010).

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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