F. Wirth: Science Fiction im Radio

Cover
Titel
Science Fiction im Radio. Programm und Sound utopischer Hörspiele in der Deutschschweiz von 1935 bis 1985


Autor(en)
Wirth, Felix
Reihe
Histoire
Anzahl Seiten
319 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Biesterfeld, Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Die vorliegende Untersuchung, im Jahr 2021 als Dissertation von der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz) angenommen, bezieht sich auf Science-Fiction-Hörspiele des Deutschschweizer Radios (zuvor Radio Beromünster) mit seinen Studios in Basel, Bern und Zürich. Sie gliedert sich in sechs Kapitel sowie einen vielfach unterteilten Anhang.

Titel und Untertitel der Arbeit suggerieren eine definitorisch eigentlich nicht haltbare Identität von Science-Fiction und Utopie. Dies setzt sich in der weiteren Darstellung fort, zunächst in der Einleitung und im zweiten Kapitel „Theoretische Grundlagen“, später auch in Überschriften von Unterkapiteln. Es lässt sich damit entschuldigen, dass in den untersuchten älteren primären und sekundären Medien oft ebenso verfahren wird. Unverzichtbares und durchweg zentrales Element aller Science-Fiction ist jedenfalls immer das „Novum“, das absolut Neue. Dieser Terminus wird korrekt und konsequent verwendet.

Der zweitwichtigste Begriff des Titels, „Sound“, ist nur in einer Anmerkung definiert, als „Sammelbegriff“, der akustische Phänomene beschreibt, die im deutschen Sprachgebrauch mit den Ausdrücken „Klang“ und „Ton“ oder auch „Musik“ und „Geräusch“ charakterisiert werden (S. 26, Anm. 63). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass es im Deutschen – abgesehen vom elementaren Begriffspaar „laut/leise“ – keine angemessene Terminologie zur „generischen Beschreibung von Hörempfindungen“ gibt. Hier greift die Sprache auf das Vokabular anderer „Sinnesmodalitäten“ zurück, auf „kreuzmodale Metaphern“, die sich meist auf „visuelle oder haptische Wahrnehmungen beziehen“ (S. 26).

Das dritte Kapitel, „Entstehungsphase (1935–1945)“, widmet sich dem vielleicht interessantesten Zeitabschnitt in der Geschichte des Genres. Dazu drei Beispiele: Die Sendung des ersten Schweizer Science-Fiction-Hörspiels, „Der Ruf der Sterne“ von Fred Hernfeld nach dem gleichnamigen Roman von Erich Dolezal, Regie Werner Düby, fand am 12. Februar 1935 im Studio Bern statt. Die des zweiten, „Planeten-Express. Ein Rendezvous im Aether“ von Irmtraud Hugin, gab es am 28. Mai 1936 im Studio Basel. Gegen Kriegsende zeigte das revueartige Hörspiel von Else Flatau „Und wenn vielleicht in hundert Jahren“, Studio Zürich 11. August 1944, Vorstellungen der modernen Welt des Jahres 2010. Die Autorin bekam (als Frau?) 200 Schweizer Franken für das Manuskript, 300 waren üblich. Die Kritik bezeichnete das Stück als „undramatisch und spannungsarm“, stimmte aber dem „friedlichen Grundgedanken“ zu (S. 68).

In dieser Zeit begann sich das Element „Sound“ zu etablieren. Aber es war ein längerer Weg von der bekannten, immer wieder strapazierten akustischen Kulisse, dem stereotyp-primitiven Summen und Piepen, bis zu ausgereiften Kompositionen. Es brauchte seine Zeit von einfachsten, selbst produzierten Geräuschen zu den unbegrenzten Gestaltungsformen der anspruchsvollen elektronischen Musik. Immer jedoch war die Nutzung von Geräuscharchiven auf Schallplatten möglich, eine Errungenschaft bereits der 1930er-Jahre.

Im vierten Abschnitt „Konsolidierungsphase (1946–1965)“ stellt der Autor für den Zeitabschnitt eine beträchtliche Zunahme von thematisch einschlägigen Hörspielen fest. Diese ergibt sich erstens vor dem Hintergrund eines allgemeinen Science-Fiction-Booms aller Medien in den 1950er-Jahren. Vor allem das erstarkende Fernsehen forderte als Rivale den Funk heraus. Gleichzeitig schaffte auch der Hintergrund des Kalten Kriegs eine Art nationale Konkurrenzsituation. Das bekannteste schweizerische Science-Fiction-Hörspiel schlechthin entstand: Friedrich Dürrenmatts „Das Unternehmen der Wega“ (1954), geboren aus einer prekären Weltlage, die in einen Weltkrieg hätte münden können.

In Hinsicht auf diese Thematik ist interessant, dass einige Hörspiele zurückgewiesen wurden, die den Atomkrieg thematisierten, auch solche, die gegen diesen Krieg argumentierten. Als Begründung wurde genannt, eine Nähe zur politisch relevanten Anti-Atomtod-Bewegung sei generell abzulehnen, oder es verlautete im konkreten Fall so naiv wie entlarvend, das „rote Geflimmer“ sei in „destruktivem Geiste“ verfasst (S. 133). Zeitgenössische Kritik geschah oft aus konservativer Hochschätzung des nicht präziser formulierten „Schweizerischen“ heraus. Dies gilt nicht für den Verfasser der vorliegenden Arbeit, der jedoch dieses Phänomen zuweilen kommentarlos präsentiert. Das Kapitel enthält hochinteressantes Material zum Sound. In 26 Beispielen werden Hörproben geboten, unter anderem Roboter- und Alienstimme, fliegendes UFO, Öffnen der Raumschiff-Schleuse, die per Audio-QR-Codes abrufbar sind (S. 135–161).

Der nächste Teil „Diversifikationsphase (1966–1985)“ nutzt im Titel einen Begriff, der aus der Wirtschaft stammt und eine Erweiterung der Produktion und des Sortiments bedeutet. Das Deutschschweizer Radio wandelte sich von der Anstalt zum Unternehmen. Dass dies auch Internationalisierung bedeutete, zeigt sich etwa darin, dass im Radio der deutschen und rätoromanischen Schweiz (DRS 2) am 1. Dezember 1968 Dürrenmatts „Unternehmen der Wega“ in einer Überarbeitung gesendet wurde, am Tag darauf aber Christa Reinigs „Das Aquarium“ als Produktion des Süddeutschen Rundfunks.

Interessant scheint unter dem Gesichtspunkt des Kommerziellen, dass in diesem Zeitabschnitt die Verwendung von Mundart und Dialekt anstieg. Rudolf Stalder adaptierte Ray Bradburys “Outcast of the Stars” als “Ds Ruumschiff” für DRS 2 (2. Januar 1972). Ernst Eggimann verfasste „Lüdere Chilbi 2000“, gesendet am 15. August 1972 im DRS 1. Der Titel bezieht sich auf ein Volksfest im Emmental, das in die Zukunft transferiert wird. Hier zeigen sich bestürzende Diskrepanzen zwischen Tradition und Fortschritt. Das Stück „Abträtte“ von Friedrich Christian Zauner entwarf eine Welt, in der das Leben auf 75 Jahre begrenzt ist, gesendet am 29. Mai 1975 im DRS 1.

Herkunft aus dem Dialekt zeigt auch der Name der Reihe „Das Schreckmümpfeli“ (Studio Bern 1975–1989 und 2002 ff.) von Edith Bussmann. Der Begriff ist eine Negativbildung zu Bettmümpfeli (deutsch: Betthupferl), und die Reihe umfasste zahlreiche Kurzhörspiele mit schwarzem Humor von sechs bis zwölf Minuten, unter anderem mit Kriminal- und Science-Fiction-Thematik, stets kurz vor Mitternacht gesendet.

Erneut wird auf Ablehnungen von Stücken eingegangen. Die Kriterien dafür waren offiziell sprachlicher, dramaturgischer und audiotechnischer Art. Bei genauerem Hinsehen verbergen sich dahinter auch die Distanzierung von einem sexualisierten Wortschatz, klischeehafter Invention und zu teurer Technik.

Das eigentliche Verdienst dieses vom Umfang her größten Kapitels aber ist der Teil „Neuartige Klänge mit Wiedererkennungswert“ (S. 225–263). Hier sind analog zur Zusammenstellung von Sounds weiter oben (vgl. S. 135–161) wiederum akustische Beispiele dokumentiert, diesmal sogar in 53 Ausschnitten, und per QR-Code abrufbar. Unter ihnen finden sich unter anderem die androide Ehefrau, Sprechchöre der Studentenbewegung 1968 und 8-Bit-Sounds im futuristischen Computerspiel.

Im Fazit zu diesem Abschnitt wird die Aufmerksamkeit auf das „nationale Timbre“ der schweizerischen Produktionen gelenkt. Im Vergleich etwa mit den westdeutschen Science-Fiction-Hörspielen gelinge speziell die Performanz der Nova hier plastischer, das heißt „lauter, länger, effektvoller und elektronischer“. Auditive Kontraste seien zudem aber auch durch die Gestaltungsmittel von „schweizerdeutschen Dialekten, folkloristischer Musik oder Stille“ konstruiert (S. 265f.).

Das sechste und letzte Kapitel „Das Unbekannte vertraut machen“ fasst noch einmal die technische Präsentation des Novums in den untersuchten Texten zusammen: 1. Die „kontinuierlichste Form zur plausiblen Darstellung eines Novums“ besteht aus „Erklärungen männlicher Experten“ (S. 278). 2. Aliens, Roboter, Androiden und Computer treten auf. 3. Futuristische Fortbewegungsmittel werden zunächst mit aus der Realität bekannten Geräuschen, dann mit sich etablierenden Stereotypen dargestellt. 4. Neue Kommunikationsgeräte, realisiert durch manipulierte Stimmen oder elektronische Geräusche, werden integriert. 5. Reale neue (Konzert-)Musik wird als Zeichen für die Zukunft funktionalisiert.

Der Bericht über die Geschichte radiofoner Science-Fiction in der Deutschschweiz, damit schließt die Untersuchung, zeigt nicht nur den „ambivalenten Umgang einer Institution mit einem populärkulturellen Genre“. Sie „verweist auch auf allgemeine soziale Anordnungen und nationale Selbstzuschreibungen einstiger Gesellschaften“ (S. 291).

Kleinere Richtigstellungen: Dass Aliens eine Musik-Sprache benutzen, ist weder Erfindung noch Charakteristikum des Hörspiels, sondern begegnet sowohl in der frühen Utopie als auch der literarischen Science-Fiction: bei Cyrano de Bergerac „Les états et empires de la lune“ (1657) für den Mond, bei György Botond-Bolics „Ezer év a Vénuszon“ (1959, deutsch: „Tausend Jahre auf der Venus“, 1969) für die Venus.

„Sympathisch“ hat in der vom Verfasser gesichteten älteren Literatur nicht immer den heutigen umgangssprachlichen Sinn. „Fiktiv“ und „fiktional“ bedeuten nicht dasselbe. Fraglich ist, wie weit die verwendeten Begriffe „arhythmisch“ und „atonal“ musikwissenschaftlich haltbar sind.

Was vielleicht fehlt: Bei den Seitenblicken auf das Science-Fiction-Hörspiel in Deutschland bleibt die DDR ohne Begründung ganz ausgeklammert. Dort hat man keineswegs etwa nur Stanisław Lem und die Brüder Strugatzki adaptiert, sondern beachtliche Eigenschöpfungen hervorgebracht. Fast im selben Ausmaß vermissen wir Österreich.

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