Cover
Titel
Trotsky. A Biography


Autor(en)
Service, Robert
Erschienen
Anzahl Seiten
600 S.
Preis
€ 28,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Oberender, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Lange Zeit schien es so, als ließe sich die Lebensgeschichte Leo Trotzkis nur mit dem Mittel der Monumentalbiographie bewältigen. Trotzkis Mitwirkung an den Revolutionen von 1905 und 1917, sein kaum überschaubares publizistisches Œuvre, der Wechsel in die Rolle des Heerführers während des Bürgerkrieges, der Epigonenkampf nach Lenins Tod, gipfelnd in Entmachtung und Verbannung, das wechselvolle Exil in Europa und Mexiko und nicht zuletzt der Tod von der Hand eines NKWD-Agenten – all das verlangte förmlich nach epischer Breite und einem großformatigen Tableau. Doch nicht allein das für jeden Biographen dankbare Motiv von Aufstieg und Fall beflügelte viele Autoren, sondern auch die Überzeugung von der weltgeschichtlichen Relevanz Trotzkis, schien er doch Lenins „wahrer“ Erbe zu sein und eine Alternative zum Stalinismus zu verkörpern. Zur Entstehung dieses Mythos hatte Trotzki, ein Meister der Selbstdarstellung und eifriger Propagandist in eigener Sache, mit seiner Autobiographie sowie seinen vielgelesenen Büchern über die Oktoberrevolution und ihren angeblichen „Verrat“ durch den mittelmäßigen Bürokraten Stalin tatkräftig beigetragen.

Der Pole Isaac Deutscher, ein brillanter Stilist, doch als Historiker nicht über jeden Zweifel erhaben, brauchte in den 1950er- und 1960er-Jahren nicht weniger als drei Bände, um Trotzkis Leben abzuhandeln. Eine zweite, nicht minder umfangreiche Biographie stammt aus der Feder des französischen Historikers Pierre Broué, eines bekennenden Trotzkisten. Sie umfasst in der deutschen Übersetzung stattliche 1.300 Seiten. Im Vergleich dazu nimmt sich die neue Trotzki-Biographie des Briten Robert Service beinahe schlank und bescheiden aus. Doch nicht auf den Umfang kommt es an, sondern auf den Inhalt – und auf den Standort des Verfassers. Schon zu seinen Lebzeiten eine polarisierende Gestalt und Zielscheibe gehässiger Angriffe von links und rechts, hatte Trotzki das zweifelhafte Glück, dass die Erforschung seines Lebens und Wirkens jahrzehntelang von Apologeten und Verehrern betrieben wurde. Broués Biographie ist dafür das beste Beispiel. Sie ist in einem Tonfall naiver, anbiedernder Bewunderung gehalten, der jeden Leser peinlich berührt; im Vorwort äußert der Autor allen Ernstes die Hoffnung, im Laufe der Lektüre werde der Leser Trotzki „lieben“ lernen.

Dergleichen ist von Service nicht zu erwarten. Er kann – sofern das überhaupt möglich ist – als idealer Trotzki-Biograph gelten: Trotzkistischer Neigungen gänzlich unverdächtig, besitzt er die gebotene kritische Distanz gegenüber seinem Protagonisten; er verfügt, da er sich im Laufe seiner Karriere fast ausschließlich mit der frühen Sowjetgeschichte befasst hat, über eine beneidenswert profunde Kenntnis der relevanten Quellen, und da er bereits Biographien Lenins und Stalins vorgelegt hat, kann er als erfahrener Routinier auf dem Felde der Biographik gelten. Sein neuestes Werk ist ein „typischer“ Service: Das sichtlich um Leserfreundlichkeit bemühte, keineswegs nur an Fachhistoriker gerichtete Buch gliedert sich in 52 Kapitel, von denen kaum eines mehr als zehn Seiten umfasst. Die schlichte und schmucklose Hauptsatzprosa, ein Markenzeichen des Autors, wird dem Buch gewiss die anvisierte breite nichtakademische Leserschaft sichern, wenn schon nicht hierzulande, dann wenigstens in der angelsächsischen Welt. Gleichwohl sollten sich Historiker von Services eingängigem, unprätentiösem Duktus nicht irritieren oder abschrecken lassen. Sein Buch ist nämlich der gelungene und überzeugende Versuch, Trotzki, den überbewerteten und unkritisch verehrten Säulenheiligen linker Splittergruppen, endlich auf ein Normalmaß zurechtzustutzen. Im Folgenden kann es sich nicht darum handeln, Trotzkis Lebensweg zu rekapitulieren und die Biographie, die auch solche Aspekte wie Trotzkis Familienleben und seine Einstellung zum Judentum angemessen berücksichtigt, einer detaillierten Besprechung zu unterziehen. Vielmehr soll die eher allgemeine Frage im Vordergrund stehen, welches Bild der Leser von Trotzki dem Denker und Autor, dem Revolutionär und Politiker gewinnt.

Wie in jedem Leben, so halten sich auch in Trotzkis Falle das Typische und das Besondere die Waage. Ohne sein früh zu Tage tretendes Schreib- und Redetalent wäre er nur ein Jungrevolutionär unter vielen geblieben. Andere Ressourcen als die Rhetorik standen ihm nicht zu Gebote, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ansonsten unterschied sich Trotzkis Werdegang kaum von dem, was für die linksradikale, dem Zarenregime entfremdete Intelligenz typisch war. Das Milieu seiner Sozialisation waren die von ungesunder Stickluft und Fraktionsgezänk erfüllten Emigrantenzirkel und Zeitungsredaktionen mit ihren endlosen scholastischen Disputen über die Reinheit der marxistischen Lehre und den richtigen Weg zur Revolution. Obgleich er sich lange Zeit weder von den Bolschewiki noch von den Menschewiki vereinnahmen ließ, trat Trotzki doch nie aus dem einengenden Bannkreis der russischen Sozialdemokratie heraus; nach Anzeichen von Offenheit und Kontaktbereitschaft gegenüber anderen intellektuellen und weltanschaulichen Milieus sucht der Leser vergebens.

Die Aneignung und Rezeption des Marxismus durch den jungen Trotzki zeigt eindrücklich, was geschieht, wenn sich ein durchaus beweglicher und aufnahmefähiger Intellekt einer Ideologie unterwirft, sich selbst in einem hermetisch abgeschlossenen Gedankengebäude einmauert und die Wirklichkeit nur noch durch das Prisma starrer Dogmen und unumstößlicher Gewissheiten wahrnimmt. Unvoreingenommene Analysen und sachliches Argumentieren waren Trotzkis Sache nicht; er war ein Meister der grandiosen Phrase und der schneidenden Polemik, begabt mit dem fragwürdigen Talent, auch die abwegigsten und haarsträubendsten Gedanken in schillernden rhetorischen Prunk zu kleiden. Das Übermaß an Stil ging Hand in Hand mit einem eklatanten Mangel an Substanz und Tiefgang. Trotzki war ein obsessiver Viel- und Schnellschreiber, der sich Kompetenz in jeder nur erdenklichen Frage anmaßte und seinen unbezähmbaren Mitteilungsdrang mitunter in bloße Geschwätzigkeit abgleiten ließ. Bezeichnenderweise forderte das Politbüro Trotzki im Juni 1926 auf, er solle seine publizistische Fließbandproduktion drosseln und sich stärker den Ämtern und Aufgaben widmen, mit denen ihn die Partei betraut hatte (S. 318). Service ist so rücksichtsvoll, dass er dem Leser die schlimmsten Auswüchse Trotzkischen Denkens gar nicht erst zumutet, etwa die Rechtfertigung des revolutionären Terrors („Terrorismus und Kommunismus“, 1920) oder die wirren Phantastereien über den Neuen Menschen aus „Literatur und Revolution“ (1923).

Was wäre aus Trotzki geworden, wenn die Zarenherrschaft nicht an den Herausforderungen des Ersten Weltkrieges gescheitert wäre? Er hätte sich wohl weiter als linksradikaler Journalist und alternder Revolutionär im Wartestand durchs Leben geschlagen. Seine Sternstunden kamen stets unverhofft, immer dann, wenn Taten gefragt waren, nicht abstrakte Gedankenspiele, wenn sich plötzlich Chancen eröffneten, die verhasste Welt der Gegenwart umzustürzen und den Eintritt in die verheißungsvolle Zukunft einzuleiten. In Revolutions- und Bürgerkriegszeiten ließ er den Schreibtisch hinter sich, um die Massen zu agitieren und die Rote Armee in den Kampf gegen die Weißen zu führen. Seine Rednergabe, sein Organisationstalent und nicht zuletzt seine unsentimentale Einstellung zur Gewaltanwendung ließen ihn rasch zu einem der bekanntesten und einflussreichsten Parteiführer aufsteigen. Doch mit dem siegreichen Ende des Bürgerkrieges hatte Trotzki seinen Zenit im Grunde bereits überschritten; er zehrte in der Folgezeit im Wesentlichen von seinem Ruhm als Heerführer. Er blieb stets ein Außenseiter im politischen Alltagsgeschäft, das er nicht durchschaute, unverhohlen geringschätzte und nur zu gerne seiner Schriftstellerei opferte. Zwar hatte er innerhalb der bolschewistischen Elite etliche Sympathisanten und Anhänger, doch anders als Stalin bemühte er sich nie darum, eine loyale Gefolgschaft aufzubauen, die er im beginnenden Machtkampf für sich hätte mobilisieren können. Seine Niederlage im Ringen mit der Stalin-Fraktion war nicht allein auf Stalins Gerissenheit zurückzuführen, sondern auch auf Trotzkis Unvermögen, in den Machtspielen des Apparats zu bestehen. Um als Politiker – und zumal als politischer Führer – langfristig erfolgreich sein zu können, fehlte es ihm schlichtweg an Geschick im Umgang mit Menschen – was im Übrigen auch für seine sozialen Beziehungen jenseits der Politik galt. Trotzkis Glücklosigkeit als Politiker stand in auffälligem Gegensatz zu seiner Überheblichkeit und seiner Selbstüberschätzung, zwei seit früher Jugend stark ausgeprägten Charakterzügen, die maßgeblich zu seiner wachsenden Isolation und Unbeliebtheit beitrugen. Weitgehend blind gegenüber eigenen Fehlern und zeitlebens anfällig für Selbsttäuschungen, rechnete der ins Ausland Abgeschobene und der sowjetischen Staatsbürgerschaft Beraubte jahrelang fest damit, bald wieder nach Moskau zurückgerufen zu werden, da die von ihm diagnostizierte Krise des Sowjetsystems seiner festen Überzeugung nach ohne sein Zutun nicht überwunden werden konnte. Es kam bekanntlich anders.

Was bleibt von Trotzki und seinem Nimbus? Service setzt sich mit seinem Protagonisten fair und unaufgeregt auseinander, ohne Häme und Missgunst, und dafür gebührt ihm Anerkennung. Gleichwohl kann nach der Lektüre der Biographie kein Zweifel daran bestehen, dass bei kritischer Betrachtung von Trotzkis einst aufgeblähter Reputation nicht mehr viel übrig bleibt. Seine Schriften gehören mehrheitlich ins Kuriositätenkabinett, und die exaltierte Überspanntheit seines Denkens wirkt heute, in unserer ideologieentwöhnten Zeit, nur noch befremdlich, wenn nicht bizarr. Die von ihm gegründete Vierte Internationale ist kaum mehr als eine Fußnote in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Völlig zu Recht betont Service, dass es keine triftigen Gründe für die Annahme gibt, unter Trotzkis Führung hätte sich der Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion weniger gewalttätig vollzogen als unter Stalin. Trotzki war kein Gegner von Parteidiktatur und Terror, sondern einer ihrer Väter. Da seine Ziele von denen Stalins kaum abwichen – auch das arbeitet Service überzeugend heraus –, hätte er früher oder später vor den gleichen Herausforderungen wie sein Rivale gestanden und wahrscheinlich auch die gleichen Mittel angewendet, um sie zu überwinden.

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