Wer einmal einen Blick in die von Karl August Eckhardt bei den Monumenta Germaniae Historica (MGH) vorgelegte Edition der Lex Salica (MGH LL nat. Germ. 4,1 und 4,2) geworfen hat, dem ist deutlich geworden, dass die Überlieferung dieses Gesetzestextes mit einigen Schwierigkeiten behaftet ist. Im ersten Band bietet Eckhardt die von ihm als Pactus legis Salicae titulierte, wohl älteste Fassung der Lex Salica, in welcher er unterhalb des Leittextes in synoptischer Darstellung die Texte von nicht weniger als acht Handschriften (A 1–4, C 5–6, H 10 und K) aufführt. Im zweiten Band stellte Eckhardt die D- und E-Fassungen einander gegenüber, unterhalb welcher er wiederum in synoptischer Darstellung die Texte von acht, teilweise auch mehr Handschriften (D 7–9 und E 11–16) abdrucken ließ.
Diesen Schwierigkeiten widmet sich Magali Coumert in ihrer nun in der prestigeträchtigen HAMA-Reihe erschienen Habilitationsschrift. Der Titel „Retour aux manuscrits“ ist dabei Programm, denn die nicht weniger als 88 erhaltenen Handschriften der Lex Salica stehen im Zentrum ihrer Arbeit. Wie etwa Alice Rio in ihrer Arbeit zu den frühmittelalterlichen Formelsammlungen1, untersucht Coumert das Erscheinungsbild der Lex Salica in ihrem Überlieferungszusammenhang und bewertet auf dieser Grundlage die verschiedenen Fassungen und ihre Entstehungshintergründe neu.
Ausgangspunkt der Arbeit ist die 1962/69 erschienene Edition Eckhardts. Wie so manches Editionsprojekt der Monumenta hat auch dieses eine lange Vorgeschichte, die in diesem Fall bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückreicht. Gekonnt arbeitet Coumert diese an Anekdoten reiche Geschichte nicht zuletzt mit Hilfe von Dokumenten aus dem MGH-Archiv auf: Wer hätte gedacht, dass das (preußische?) Innenministerium in den 1930er-Jahren eine Untersuchung bei den Monumenta durchführen ließ, die zum Schluss kam, dass beim Editionsversuch Mario Krammers 1915 weder Sabotage noch feindliche Spione am Werk waren? Weniger amüsant sind dagegen die von Coumert offengelegten Mängel von Eckhardts eigenen Editionsbemühungen seit den 1930er-Jahren. Zentrale Kritikpunkte sind hierbei die (aus heutiger Sicht) anachronistische Suche nach dem Urtext, die zu einer Vernachlässigung bestimmter Handschriften und ihres Kontexts führte, vor allem aber auch Eckhardts oberflächliche, willkürliche und von der eigenen, nationalsozialistischen Überzeugung geprägte Arbeitsweise. Eckhardts Edition sollte nicht zuletzt dem Ziel dienen, ein (imaginiertes) germanisches Erbe zu konstruieren, mit dem man nicht zuletzt den Ausschluss der Juden aus der Gesellschaft rechtfertigen konnte. Gerade letzterer Punkt sollte uns heute zu denken geben und Anlass zur Warnung sein.
Problematisch wird diese Suche nach dem Urtext und der frühesten Fassung der Lex Salica nicht zuletzt auch dadurch, dass die älteste Handschrift (A 2), die sie überliefert, aus der Zeit nach 751 stammt, also bereits karolingisch ist. Ihre Ursprünge liegen dagegen weit zurück und werden von der Forschung teilweise in spätrömischer Zeit (Jean-Pierre Poly2), jedenfalls aber in frühmerowingischer Zeit vermutet. Um es vorweg zu nehmen, auf die Frage nach der Entstehungszeit der Lex Salica hat auch Coumert angesichts der komplexen Überlieferungslage keine endgültige Antwort, doch liefert sie wertvolle Kritik und Hinweise für die bestehenden Ansätze. Letztlich geht es ihr aber auch nicht um diese Frage. Sie interessiert sich vielmehr für den Umgang mit dem merowingischen Erbe in karolingischer Zeit, oder, anders ausgedrückt, für die Frage, auf welchem Weg und aus welchem Grund man sich in karolingischer Zeit mit dem älteren Recht auseinandersetzte.
Hier eröffnet Coumert durch den Blick auf die verschiedenen Klassen der Lex Salica neue Perspektiven. Die früheste Schicht der Lex findet sich ohne Zweifel in den vier Handschriften der Klasse A. Jedoch produziert Eckhardts Edition nach Coumert eine Chimäre dieser ältesten Fassung, da das Bild dieser vier Handschriften vielfältiger nicht sein könnte. So schwankt die Zahl der Titel in diesen vier Handschriften zwischen 65 und 93 – Eckhardt reduzierte sie auf 65, anhand des Bildes, das er in den später entstandenen C-Handschriften fand. Auch stellte Eckhardt seinem Editionstext den Teil eines Prologs voran, den er in einigen C-Fassungen, nicht aber den A-Fassungen fand. Zu einer Stabilisierung der Lex Salica kam es erst mit den ebenfalls noch ins 8. Jahrhundert fallenden Fassungen C, vor allem aber D (die von Eckhardt auf Basis der von Herold 1557 vorlegten Edition angenommene Fassung B entlarvt sich als Trugbild). Eine neue Entwicklung setzte schließlich mit der abhängig von D entstandenen Fassung E ein, die Coumert als Ergebnis einer neuen Aufmerksamkeit für normative Texte interpretiert. Die streng organisierte Fassung E zeigt eine Lex Salica mit 98 Titeln, die gegenüber der D die malbergischen Glossen strich, den bekannten Chrenechruda-Titel und fränkische Rechtstermini ausschied, aber römische Termini einführte. Die bei weitem größte Verbreitung aber fand die unter Karl dem Großen entstandene und oft mit den karolingischen Reformen in Verbindung gebrachte Fassung K, die eine 70–72 Titel umfassende Lex Salica – ohne Prolog oder Epilog – in verbessertem Latein umfasst.
In diesem Zusammenhang verweist Coumert auf einen wichtigen Punkt: So lassen sich die Fassungen der Lex Salica zwar hinsichtlich ihrer Entstehungszeit unterscheiden, doch sollte man darüber nicht das Bild der handschriftlichen Überlieferung vernachlässigen. So sind die ältesten Handschriften nicht generell die mit der Fassung A, sondern A 2, C 5 und D 9. Für Coumert verweist dieser Umstand auf das fragmentarische Erbe, mit welchem sich die Kopisten in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts konfrontiert sahen und für welches sie Wege finden mussten, dieses in Form zu bringen, ohne dessen Divergenzen befriedigend erklären zu können. Auch die Schaffung der E- und K-Fassungen unter Karl dem Großen beendete diese Pluralität zunächst nicht. Zwar setzte mit Ludwig dem Frommen eine konstante Reproduktion der K-Fassung ein, ihr endgültiger Triumph über die anderen Fassungen erfolgte jedoch erst Mitte des 9. Jahrhunderts. Die Verbreitung von K und der Rückgang der anderen Fassungen dürfte nach Coumert dabei nicht auf das zentral vom Hof gesteuerte Bestreben zurückgehen, eine einheitliche Fassung der Lex Salica zu verbreiten und die älteren Fassungen zu ersetzen, sondern vielmehr das Ergebnis von Auswahlprozessen der Kopisten sein, die die neue Fassung aus eigenem Antrieb nachfragten.
Gegenüber dem großen Spielraum der Kopisten bei der Gestaltung der Lex Salica in den frühen Fassungen erstarrt die Lex Salica mit der Fassung K. Zugleich verschwindet auch die Praxis der Kopisten, den von ihnen angefertigten Kopien ihre eigenen Namen voranzusetzen. War die Lex Salica in den früheren Fassungen über die Prologe und Epiloge direkt mit der Autorität des Königtums assoziiert, so entfiel diese Assoziation mit dem Verzicht auf diese Begleittexte in der K. Coumert deutet dies allerdings, anders als etwa Karl Ubl3, nicht als Verzicht auf die gesetzgeberische Hoheit durch die karolingischen Könige, sondern als Ausdruck ihres absoluten Anspruchs auf diese.
Coumerts wohlbegründete Kritik an der Edition Eckhardts mahnt zur Vorsicht im Umgang vor allem mit dem ersten Band. Ob daraus die Notwendigkeit einer Neuedition abzuleiten ist, lässt Coumert leider offen, doch liefert sie für die Diskussion eine fundierte Grundlage. Auch sonst wird niemand, der sich in Zukunft mit der Lex Salica befasst, an Magali Coumerts „Loi Salique“, an ihren Beobachtungen zur Gestaltung der verschiedenen Fassungen und ihren Einordnungen vorbeikommen. Ärgerlich sind die zahlreichen Rechtschreibfehler in deutschen Zitaten und Titeln (etwa S. 30, wo der Rezensent nicht weniger als fünf Fehler zählt; regelmäßig findet sich auch das kleine griechische Beta anstelle des deutschen ß), die auf ein mangelndes Lektorat in diesem Bereich hinweisen, den hohen Wert der Arbeit aber nicht beeinträchtigen.
Anmerkungen:
1 Alice Rio, Legal Practice and the Written Word in the Early Middle Ages. Frankish Formulae, c. 500-1000, Cambridge 2009.
2 Jean-Pierre Poly, La corde au cou. Les Francs, la France et la Loi salique, in: Genèse de l'Etat moderne en Méditerranée. Approches historique et anthropologique des pratiques et des représentations. Actes des tables rondes internationales tenues à Paris (24-26 septembre 1987 et 18-19 mars 1988), Rom 1993, S. 287–320.
3 Karl Ubl, Sinnstiftungen eines Rechtsbuchs. Die Lex Salica im Frankenreich, Ostfildern 2017.