H. Klemann u.a. (Hrsg.): Deutschland und die Niederlande

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Titel
Deutschland und die Niederlande. Wirtschaftsbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Klemann, Hein A. M.; Wielenga, Friso
Reihe
Niederlande-Studien, Bd. 46
Erschienen
Münster 2009: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friederike Sattler, Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München

Der von Hein A. M. Klemann und Friso Wielenga herausgegebene Band wirft am Beispiel der deutsch-niederländischen Wirtschaftsbeziehungen vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein die spannende Frage auf, welche Implikationen und Wirkungen mit der Herausbildung grenzüberschreitender Wirtschaftsregionen im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung verbunden sind: Führen transnationale Regionalisierungsprozesse zu einer zusätzlichen Beschleunigung von Globalisierungsprozessen? Oder entwickeln sie sich – ganz im Gegenteil – vielleicht sogar eher zu bremsenden Elementen? Sind sie unweigerlich mit der Aushöhlung nationaler Ökonomien und damit auch der Wirksamkeit nationaler Wirtschaftspolitiken verbunden? Auch wenn die Beiträge des Bandes keine abschließenden Antworten auf diese weitreichenden Fragen geben können, schärfen sie doch den Blick dafür, dass das Zusammenfallen von politischen mit wirtschaftlichen Grenzen keineswegs als quasi ahistorischer "Normalfall", sondern vielmehr als eine Folge des mit dem Ersten Weltkrieg nicht nur in Europa um sich greifenden und erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schrittweise wieder abgebauten Protektionismus zu verstehen ist, also als ein durch und durch historisches Phänomen des 20. Jahrhunderts.

Klemann und Wielenga heben in ihrer Einleitung die Bedeutung der Internationalität des Rheins für die Herausbildung einer einheitlichen, grenzüberschreitenden niederrheinischen Wirtschaftsregion hervor. Indem sich der in der Schweiz entspringende Rhein mit seinen Nebenflüssen im Zuge der Industrialisierung zur wirtschaftlich bedeutendsten Wasserstraße Deutschlands entwickelte, stieg zugleich Rotterdam im holländischen Mündungsdelta des Flusses zum wichtigsten Hafen für Deutschland auf. Das hatte Rückwirkungen auch auf die niederländische Wirtschaft und führte zu engen Verflechtungen insbesondere mit dem Ruhrgebiet, die auch Zeiten des wachsenden Protektionismus und der politisch gewollten Isolation in den 1930er-Jahren überdauerten, bevor sie in die zwangsweise Integration der niederländischen Wirtschaft in die deutsche Kriegswirtschaft mündeten. Selbst der grundlegende wirtschaftliche Strukturwandel, der die Schwerindustrie des Ruhrgebiets im späten 20. Jahrhundert nahezu zum Verschwinden brachte, hat die wechselseitigen Verflechtungen in der niederrheinischen Wirtschaftsregion nicht rückgängig gemacht. Die Ansiedlung von Unternehmen im geographischen Raum scheint ein hochgradig pfadabhängiger Prozess zu sein.

Um diese pfadabhängige und dennoch von vielen Brüchen durchzogene Entwicklung nachvollziehbar zu machen, widmen sich drei Beiträge zunächst eingehend einzelnen historischen Phasen der deutsch-niederländischen Wirtschaftsbeziehungen. Hein A. M. Klemann nimmt das späte 19. Jahrhundert und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Blick. Aus niederländischer Sicht stellte sich die wachsende Verflechtung mit dem großen Nachbarland als eine zwar nicht völlig einseitige, aber doch unausgewogene Abhängigkeit dar; den auf deutscher Seite nach Gründung des Kaiserreichs erkennbaren Bestrebungen zur wirtschaftlichen und möglicherweise auch politischen Kontrolle des kleinen Nachbarn begegneten die Niederlande mit einer strikten Neutralitäts- und Freihandelspolitik. Sie passten sich darüber hinaus stark den wirtschaftlichen Bedürfnissen des deutschen Hinterlandes an, konnten den wachsenden Einfluss deutscher Kartelle auf die niederländische Wirtschaft damit aber nicht verhindern. Im Ersten Weltkrieg begannen deshalb sehr ernsthafte – und erfolgreiche – Versuche, die eigenen Schlüsselindustrien, insbesondere den Bergbau sowie die Eisen- und Stahlindustrie, zu stärken. Auch in anderen Wirtschaftszweigen versuchten niederländische Unternehmen nach Kriegsende, unabhängiger vom Handel zu werden, und gingen vermehrt zu einer Strategie vertikaler und horizontaler Integration über, gerade auch durch Übernahmen deutscher Unternehmen. In den 1920er-Jahren waren es dann vor allem die niederländischen Banken, die eine wichtige Rolle bei der Finanzierung der deutschen Wirtschaft spielten. Die Erkenntnis, dass eine möglichst stabile Wirtschaft im Nachbarland eine unerlässliche Voraussetzung für den eigenen Wiederaufbau darstellte, setzte sich in den Niederlanden vor dem Hintergrund entsprechender Erfahrungen aus den mittleren 1920er-Jahren auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erstaunlich schnell wieder durch.

Martijn Lak nimmt diesen Faden auf und zeigt in seinem Beitrag zur wechselseitigen Beeinflussung der politischen und ökonomischen Beziehungen in den Jahren 1945 bis 1949, wie sehr die niederländische Deutschlandpolitik im Interesse des eigenen Wiederaufbaus auf eine möglichst rasche Wiederherstellung "normaler" Wirtschaftsbeziehungen zu den westlichen Besatzungszonen Deutschlands ausgerichtet war, selbst wenn dies eigenen Forderungen nach finanzieller und territorialer Entschädigung für erlittene Schäden während der Besatzung kollidierte. Deutlich arbeitet Lak auch die starke Abhängigkeit der Niederlande von der alliierten Deutschlandpolitik heraus: Erst als die westlichen Alliierten bereit waren, der Liberalisierung des westdeutschen Außenhandels zuzustimmen, konnten die deutsch-niederländischen Wirtschaftsbeziehungen trotz gravierender materieller Hindernisse, allen voran die Dollarknappheit, schrittweise tatsächlich wieder "normalisiert" werden.

Kees van Paridon legt anschließend, gestützt auf entsprechend lange Datenreihen, die Entwicklung des Warenhandels, des Austauschs von Dienstleistungen und der Direktinvestitionen von den späten 1950er-Jahren bis 2007 dar. Der Überblick verdeutlicht, wie sehr sich die wechselseitigen Beziehungen nach Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vor allem in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren intensivierten, und dass sie seither trotz konjunktureller Schwankungen auf einem hohen Niveau verharren. Unhinterfragt bleibt leider, ob die Institutionen der EWG tatsächlich einen Beitrag hierzu leisteten oder ob es sich lediglich um eine zeitliche Koinzidenz handelt. Die Frage, ob es angesichts der vielseitigen, engen und stabilen Wirtschaftsbeziehungen, die mit einer bemerkenswerten Parallelität des Wachstums der Bruttosozialprodukte einhergingen, auch zu einer Angleichung der Wirtschaftspolitiken und Wirtschaftsordnungen beider Länder kam (die beide dem "Rheinischen Modell" einer koordinierten Marktwirtschaft zugerechnet werden), beantwortet van Paridon differenziert: Einerseits gab es einige markante Konvergenzen, darunter an erster Stelle die 1995 einsetzende Trendwende hin zur globalen Öffnung und zur stärkeren Adaption an das angelsächsische Modell einer liberalen Marktwirtschaft, andererseits zeigt sich die Persistenz von Unterschieden etwa im Bereich des Tarifsystems.

Weitere Beiträge zu spezielleren Aspekten runden das Bild der deutsch-niederländischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert ab: Ferry de Goey und Hugo van Driel widmen sich der Geschichte des Hafens Rotterdam mit seinen Beziehungen zum niederländischen und zum deutschen Hinterland. Jeroen Euwe beleuchtet detailliert den bereits von Klemann angesprochenen Stellenwert Amsterdams als für Deutschland in der Zwischenkriegszeit enorm wichtiges internationales Finanzzentrum. Und Ben Wubs liefert mit seiner knappen, aber sehr gelungenen Studie zum multinationalen Unilever-Konzern eine schlüssige Erklärung dafür, warum dieses Unternehmen gerade in Deutschland so stark wachsen konnte: Das Management des Konzerns erkannte nicht nur frühzeitig die spezifischen Vorteile, die sich aus Investitionen in Deutschland ergaben; es nahm sie mit entsprechenden Entscheidungen zur Geschäftspolitik und Unternehmensorganisation auch wahr und passte sich sehr flexibel Marktveränderungen und dem Wandel der politischen Rahmenbedingungen an.

Was dem insgesamt sehr informativen, ganz auf der Höhe des aktuellen Forschungsstandes argumentierenden Band leider fehlt, ist ein abschließendes Fazit zu der eingangs aufgeworfenen, weiterführenden Frage nach den Folgewirkungen der Herausbildung von einheitlichen, grenzüberschreitenden Wirtschaftsregionen wie derjenigen am Niederrhein für den Verlauf des wirtschaftlichen Globalisierungsprozesses insgesamt. Rekapituliert man selbst noch einmal die Ergebnisse der einzelnen Beiträge, bleibt dazu aber wohl vorläufig festzuhalten, dass die pfadabhängige Regionalisierung zumindest im hier betrachteten Fall nicht nur wiederholt zur Überwindung von Phasen des wirtschaftlichen Protektionismus, sondern in den 1990er-Jahren offenbar auch zu einer markanten Beschleunigung der Globalisierung beitrug und keineswegs eine bremsende Wirkung entfaltete. Offensichtlich führte sie, wie die Persistenz der Unterschiede zwischen den Niederlanden und Deutschland insbesondere im Tarifsystem zeigt, auch (noch) nicht zur vollständigen Aushöhlung nationaler Wirtschaftspolitiken und zur kompletten Angleichung von Wirtschaftsordnungen - aber der Trend geht anscheinend durchaus in diese Richtung.

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