Die historische Katastrophenforschung ist, was die Geschichte Deutschlands anbelangt, ein nach wie vor überschaubares Feld.1 Nadja Thiessen liefert dazu mit ihrer Monografie einen sehr lesenswerten Beitrag. Ihre Beschäftigung mit Hochwasserkatastrophen, die sich im „kurzen“ 20. Jahrhundert – genauer im Zeitraum zwischen der Gründung der Weimarer Republik und dem Mauerfall – in den Städten Mannheim und Dresden ereigneten oder antizipiert wurden, bietet Einblicke in Aspekte der deutschen Politik-, Umwelt-, Wissens- und Technikgeschichte. Diese betreffen unter anderem grundsätzliche Funktionsweisen verschiedener politischer Systeme im „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm). Gleichzeitig arbeitet die Autorin mit und an Fragen sowie Konzepten, die in der sozialwissenschaftlichen und sicherheitstechnischen Auseinandersetzung mit Katastrophen breit diskutiert und vielfach genutzt werden, weswegen die Studie auch hierfür eine Bereicherung darstellt.
Mit der vielfältigen wissenschaftlichen Anschlussfähigkeit des Buches geht eine große Aktualität und hohe gesellschaftliche Relevanz des Themas einher. Thiessen verdeutlicht diese, indem sie herausarbeitet, wie sich im Umgang mit Katastrophen eine „wechselseitige Beziehung von Naturereignis und Politik“ offenbart (S. 199) und wie sich sozio-technische Systeme (der Gegenwart) als geschichtlich gewachsene Machtprodukte interpretieren lassen. Das Buch, das auf einer im Darmstädter Graduiertenkolleg „Kritische Infrastrukturen: Konstruktion, Funktionskrisen und Schutz in Städten“ (KRITIS) entstandenen Dissertation beruht, geht der Frage nach, wie im Untersuchungszeitraum mit Hochwasserereignissen umgegangen wurde. Der Fokus liegt auf der Stadt als geografischem Knotenpunkt im Infrastrukturnetz und als „Komprimierung verschiedener sozio-technischer Systeme“ (S. 4). Dresden und Mannheim werden exemplarisch herangezogen, wobei die Arbeit nicht nur einen Längsschnitt, sondern auch diachrone und synchrone Vergleiche vornimmt. Der Aufbau folgt in erster Linie systematischen Kategorien und nicht der Chronologie.
Nach einem Überblick zur Geschichte der beiden Am-Fluss-Städte werden im ersten Hauptteil behördliche Strategien des vor- und nachbearbeitenden Umgangs mit Hochwasserkatastrophen rekonstruiert und als Teil eines Zyklus identifiziert. Die Autorin erklärt, wie „Preparedness & Prevention“ ein Mobilisieren von Wissen über vergangene Hochwasserereignisse zur Prognose möglicher zukünftiger Vorkommnisse implizierte. Hierbei kamen (mediale) Techniken zum Einsatz, die bis heute ein zentrales Instrument im Katastrophenschutz sind. „Wenngleich die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen nicht den Begriff nutzten“, so praktizierten sie doch eine Form „des Vulnerabilitäts-Mappings, wie es auch heute noch beispielsweise bei Hochwassergefahrenkarten Anwendung findet“ (S. 195; siehe auch S. 53).
Dieses Mapping, der Zyklus, von dem es Teil war, sowie andere Elemente der Katastrophenbewältigung blieben, wie die Autorin darlegt, ihrer Mechanik nach in beiden Städten während des Untersuchungszeitraums gleich. Dennoch zeigen sich in ihrer konkreten Ausprägung „Verschiebungen, Neugewichtungen und Spezifika je nach historischem Kontext“ (S. 197). Dies wird bereits im ersten Teil deutlich – etwa dort, wo Thiessen herausarbeitet, dass „Kritikalitätszuschreibungen“ (S. 9), das heißt Verhandlungen darüber, welche Infrastrukturen besonders schützenswert sind, in Abhängigkeit und Reproduktion vorherrschender sozio-kultureller Normen und unter Verfolgung spezifischer (politischer und ökonomischer) Interessen vorgenommen wurden. Dies betraf etwa die Identifikation von Flächen, für die Bebauungsverbote ausgesprochen werden konnten. So zeigt die Autorin für Hochwasserschutzdiskussionen in Dresden während der 1920er- und 1930er-Jahre, dass für diese Identifikation zentral war, dass solche Flächen als Gefahrenzonen wahrgenommen wurden, für die „Wertschäden“ (S. 55) zu verhindern waren. Außerdem sollten freigehaltene Flächen bei Hochwassersituationen einen besseren Abfluss ermöglichen; oder sie wurden für die Sichtachsen zwischen der Dresdner Innenstadt und den Elbhängen als ästhetisch bedeutsam empfunden. Gleichzeitig handelte es sich bei Gebieten am Ufer um attraktives Bauland und um Orte, die beispielsweise zur Ausrichtung von „Volksfesten“ genutzt wurden.
Die Frage, wie genau schon die Wahrnehmung und Deutung von Hochwasser von Kontext-Faktoren beeinflusst wurde, steht im Zentrum des zweiten Hauptteils. Analysiert werden dort die Auswirkungen von Stadtentwicklung, ökonomischen Verhältnissen und politischen Rahmenbedingungen. In ihren Ausführungen zu letzteren zeigt Thiessen, wie „Ideologie“ nicht nur die propagandistische Inszenierung von Hochwasserereignissen und vor allem von deren Bewältigung in Massenkommunikationsmedien prägte (besonders in der DDR), sondern auch, welche materiellen Auswirkungen sie im Hochwasserschutz hatte: Während der NS-Zeit kündigte die Stadtverwaltung aus antisemitischen Gründen Lieferverträge für wichtige Hochwasserschutzmaterialien. Für die Weimarer Jahre schildert die Autorin, wie das Hochwasser Gegenstand von kontroversen parlamentarischen und medialen Debatten wurde. Sie schreibt diesen Debatten Kontrollfunktionen und transformative Effekte zu. Indem sie auf Missstände im Katastrophenschutz hinwiesen, so die These, trugen die Debatten zu Anpassungen bei: „ein Umstand, der in autoritären Systemen so nicht möglich war“ (S. 199). Es wäre interessant, an diese Befunde die Frage anzuschließen, inwiefern im Untersuchungs(zeit)raum Kritik am Umgang mit Katastrophen auch zu politischem Wandel führte beziehungsweise ihn forcierte. Hintergrund einer solchen Frage wäre die Forschungsliteratur, die derartige Prozesse für andere Kontexte nachgezeichnet hat – zum Beispiel für die Geschichte Nicaraguas, wo Kritik an der staatlichen Katastrophenbewältigung das Ende eines diktatorischen Regimes beschleunigte.2
Mit der politischen Dimension von Katastrophen behandelt Thiessens Monographie ein Phänomen, welches sowohl in der historischen als auch in der soziologischen, anthropologischen und politikwissenschaftlichen Beschäftigung mit Katastrophen seit längerer Zeit im Zentrum des Interesses steht und gleichzeitig hochaktuell ist. Dies trifft auch für andere Befunde zu. So werden die (wahrgenommenen) „Grenzen der Preparedness“ herausgestellt, die eben nicht erst seit der Corona-Pandemie Thema sind.3 Für Mannheim hält die Autorin fest: „Die lokalen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen hatten […] ein Verständnis dafür entwickelt, dass eine ausführliche formale Vorbereitung allein nicht ausreichend sein könnte.“ (S. 62) In den Worten eines zitierten Berichts aus dem Mannheimer Tiefbauamt von 1976: „Je perfekter ein System ist, desto anfälliger ist es bei nicht vorgesehenen Entwicklungen. Deshalb muß es Raum für Improvisationen bewußt vorsehen.“ (S. 71) Mit dem Thema „Improvisationen“ verbunden ist die Frage nach der Rolle sich spontan formierender Gruppen von Helfer:innen, die beispielsweise in der US-amerikanischen Katastrophenforschung seit den 1960er-Jahren intensiv untersucht worden ist. Die Brisanz und mannigfaltige politische Nutzbarkeit dieser Helfer:innen – besonders in ihrer diskursiven Vermengung mit kontextspezifischen Ausprägungen des Ideals der „Solidarität“ – veranschaulicht Thiessen bei der Analyse des Quellenmaterials sehr plastisch (S. 126).
Gerade aufgrund ihrer breiten Anlage vermag die vorliegende Monographie bezüglich der genannten Punkte zu einer nach wie vor notwendigen Historisierung von großen Debatten und bedeutsamen Problematisierungen beizutragen. Dabei widmet sich die Autorin auch (vermeintlich) kleineren Geschichten, die sie ausgesprochen anschaulich erzählt. Dazu gehört etwa die Aufarbeitung der hitzigen parlamentarischen Debatten, die während der Weimarer Republik um das Technische Hilfswerk geführt wurden – eine nach wie vor untererforschte Organisation. In solchen Geschichten und generell arbeitet Thiessen mit faszinierenden Quellen, einschließlich einem Bildmaterial, das neben (Gefahren-)Karten auch Fotografien und Postkarten enthält.
Dieses Material ließe sich in weiteren Studien auch stärker kultur- und mediengeschichtlich auswerten. Gleichzeitig sind diverse Forschungsgegenstände und -fragen der vorliegenden Studie bereits für andere Länder und Weltregionen bearbeitet worden. Hier hätte das vorliegende Buch von dem einen oder anderen zusätzlichen Hinweis profitiert und sich stärker im internationalen Forschungsfeld der Critical Disaster Studies positionieren können.4 Vor allem aber bestehen viele Anknüpfungspunkte für künftige Arbeiten. Dabei bietet sich neben der vergleichenden auch eine verflechtungsgeschichtliche Perspektive an. Nicht nur in der Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die das Buch untersucht, dürfte es über regionale und nationale Grenzen hinaus zu Transfers und Zirkulationen von Hochwasser-bezogenen Wissensbeständen und Praktiken gekommen sein. Ihnen nachzuspüren – vielleicht auch mit besonderem Fokus auf „Erfahrungswissen“, einer Kategorie, die Thiessen stark macht – stellt eines der vielen potentiellen Forschungsvorhaben dar, mit denen an das Buch angeschlossen werden könnte.
Dass die vorliegende Monographie Perspektiven für weitere Forschungen eröffnet, ist eine ihrer Stärken. Eine andere Leistung besteht darin, im historisierenden Studium von Katastrophen Erkenntnisse zu generieren, die weit mehr als Katastrophen und nicht nur die Vergangenheit betreffen (vor allem auch „kontraintuitive“ Erkenntnisse wie die Beobachtung, dass Hochwasserschutzmaßnahmen gerade in Zeiten schwacher Konjunktur intensiviert wurden; S. 128). Dies macht das Buch wichtig und die Lektüre gewinnbringend.
Anmerkungen:
1 Für einen breiteren, nicht auf Deutschland beschränkten Überblick siehe Stefan Willer, Katastrophen: Natur – Kultur – Geschichte. Ein Forschungsbericht, in: H-Soz-Kult, 13.09.2018, https://www.hsozkult.de/literaturereview/id/fdl-136863 (06.12.2023).
2 David Johnson Lee, De-centring Managua. Post-Earthquake Reconstruction and Revolution in Nicaragua, in: Urban History 42 (2015), S. 663–685, https://doi.org/10.1017/S0963926815000577 (06.12.2023).
3 Carolin Mezes / Sven Opitz, Die (un)vorbereitete Pandemie und die Grenzen der Preparedness. Zur Biopolitik um COVID-19, in: Leviathan 48 (2020), S. 381–406.
4 Jacob A.C. Remes / Andy Horowitz (Hrsg.), Critical Disaster Studies, Philadelphia 2021.