Der vorliegenden Arbeit liegt eine Dissertation zugrunde, mit welcher der Autor 2020 an der Freien Universität Berlin promoviert wurde. Sie untersucht den Lebensweg des promovierten Juristen, Propagandisten, Publizisten, Hochschullehrers und unbelehrbaren Antisemiten Johann von Leers über sechs Jahrzehnte, drei Kontinente und drei autoritäre Regime hinweg. Ausgehend von der Feststellung, dass Johann von Leers hinsichtlich der schieren Quantität seines publizistischen Wirkens wohl als der produktivste antisemitische Propagandist des Nationalsozialismus gelten kann beziehungsweise muss (S. 15), rekonstruiert Martin Finkenberger den Lebensweg eines ideologisch bis ans Lebensende ungebrochenen Überzeugungstäters, der trotz seiner zeitgenössischen Relevanz von der historischen Forschung weitgehend ignoriert worden ist.1
Johann von Leers wurde 1902 als Sohn aus verarmtem mecklenburgischem Landadel geboren. Nach Jurastudium und Promotion brach er eine Beamtenlaufbahn im Auswärtigen Amt vermeintlich auf eigene Initiative ab, obschon er damit wohl einer Relegation zuvorkam. Stattdessen verdingte er sich fortan publizistisch für den Nationalsozialismus, konkret für Joseph Goebbels‘ notorische Berliner Gau-Zeitung „Der Angriff“. Er erscheint somit in mehrerlei Hinsicht als typischer Exponent jener Kriegsjugendgeneration des Ersten Weltkriegs, die für den Dienst an der Waffe zu spät geboren wurde und fortan umso intensiver darum bemüht war, diese biografische Schmach durch aktiven Kampf gegen die verhasste – weil demokratische – neue Ordnung zu tilgen. In geradezu idealtypischer Manier nahm auch Johann von Leers für sich in Anspruch, die entsprechenden politischen Sozialisationsinstanzen durchlaufen und dabei die fortschreitende, sich in immer neuen und extremistischeren Gruppen ausdrückende politische Radikalisierung des Milieus – Freikorps, Brigade Ehrhardt, Organisation Consul, Bund Wiking – persönlich mit vollzogen zu haben. Dass von Leers – mit einer Körpergröße von nur 1,65 Metern und einer eher kränklichen Konstitution geschlagen – kaum als typischer Exponent des soldatischen Heroen durchzugehen vermochte, ist nur eines der Indizien, die dazu mahnen, seinen diesbezüglichen Selbstauskünften mit der gebotenen Skepsis zu begegnen.
Aufgrund einer offenbar schon in der Kindheit ausgebildeten Neigung zu mythischen Themen und Stoffen wuchs von Leers ideologisch in das Milieu der völkisch-germanophilen Rassisten und Antisemiten hinein, die sich in Deutschland bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer Vielzahl von Organisationen, Bünden sowie Kreisen organisierten und eine teils rege publizistische Tätigkeit entfalteten. Die entsprechenden ideologischen wie personellen Kontinuitäts- und Verbindungslinien zum Nationalsozialismus sind bekannt. Auch für Johann von Leers war der Nationalsozialismus die Chance, die vermeintlich wissenschaftlichen Erkenntnisse des völkischen Antisemitismus in der politischen Praxis umzusetzen. Dass er persönlich dabei trotz seiner Kontakte zu hochrangigen Nationalsozialisten wie Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg, Walther Darré oder Heinrich Himmler letztlich nicht so zu reüssieren vermochte wie andere, faktisch weit weniger umtriebige Personen, lag wohl an zwei prägenden Persönlichkeitsmerkmalen: einem ziel- und rastlosen Engagement auf zahlreichen Handlungsfeldern und einer ideologischen Intransigenz, die es ihm unmöglich machte, taktische Kompromisse zu schließen, sondern ihn immer wieder in Konflikte verstrickte.
In der Konsequenz tanzte von Leers auf zu vielen Hochzeiten, verzettelte sich in Konflikten selbst mit politischen Gönnern und Unterstützern und saß am Ende mehr als einmal zwischen allen Stühlen. Im Grunde endeten alle erhofften Karrierewege des „Hans Dampf in allen Gassen“ – so Goebbels über von Leers – auf diese Weise in Sackgassen. Dass er schließlich ohne Habilitation und ohne substanzielle fachliche Expertise zum ordentlichen Professor für Geschichte an der Universität Jena berufen wurde, war denn auch gemessen an den eigenen Maßstäben und Erwartungen letztlich eine Art Gnadenbrot, das dazu noch gegen erhebliche Widerstände erkämpft werden musste.
Breiten Raum nimmt in der Studie schließlich auch die zweite Lebensphase des Protagonisten nach dem Ende des nationalsozialistischen (NS-)Regimes ein, die er zunächst in Argentinien und dann ab 1956 in Ägypten verbrachte. Von Leers führte von dort seinen vehementen publizistischen Kampf gegen die vermeintlich mannigfaltigen Machenschaften des „internationalen Judentums“ fort. Dass er dabei in seiner Sprache ungebremst radikal blieb und sein Denken immer stärker von Verschwörungstheorien geprägt war, führte zu einer wachsenden Isolierung von alten und neuen Weggefährten – und zu einem unaufhaltsamen Niedergang seiner publizistischen Wirkung. Denn in dem Maße, wie sich die verhasste Demokratie in der fernen Heimat festigte, nahm die Akzeptanz des Verbalradikalismus ab, mit dem von Leers seine Beiträge in rechtsgerichteten deutschen Publikationen garnierte. Da in der Folge juristische Händel, Beschlagnahme und Verbot drohten, verzichteten selbst wohlmeinende Gesinnungsgenossen mehr und mehr auf die Mitarbeit von Leers' – was diesen wiederum in zunehmende finanzielle Schwierigkeiten und noch tiefer in die ideologische Verblendung trieb, die nach übereinstimmender Auffassung nicht nur des Bundesnachrichtendienstes (BND), sondern auch von Weggefährten besonders in den letzten Lebensjahren an Geisteskrankheit und Irrsinn grenzte. Umgekehrt sah von Leers die Haltung vieler „Kameraden“ zunehmend skeptisch, je mehr sich diese in die neuen demokratischen Strukturen in Deutschland einfanden und zumindest formal ihren Frieden mit der neuen Staats- und Gesellschaftsordnung machten.
Neben von Leers‘ eigentlicher Lebensgeschichte ist, wie der Verfasser überzeugend herausarbeitet, insbesondere die Lebensphase des exilierten, weil ideologisch ungebrochenen Nationalsozialisten zugleich stets auch die Geschichte seiner mythischen Verklärung als „Spinne“ im Netz eines international tätigen Rings von Nationalsozialisten. Diese arbeiteten zunächst in Südamerika an einem politischen Comeback und hofften später mit ihrer Tätigkeit für Nasser darauf, mit einem vernichtenden Sieg über Israel die „Endlösung der Judenfrage“ doch noch zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Zwar hat es zeitweilig eine faschistische und vor allem antisemitische Internationale zumindest insofern gegeben, als es über Länder und Kontinente hinweg engen Austausch zwischen den Akteuren gab, von denen von Leers mindestens ein namhafter war. Doch entsprachen diese Kontakte und Verbindungen keineswegs dem öffentlich skizzierten Bild einer hierarchisch strukturierten und straff geführten Organisation mit einem klaren Ziel und planvollem Handeln. Vielmehr bedeuteten die internationalen Korrespondenznetzwerke eine Art Rückkehr zu den Ursprüngen der völkischen Bewegung, die sich Zeit ihres Bestehens stets eher durch Sektierertum und rechthaberisches Ringen um das Ideal der reinen Lehre auszeichnete: Hier kämpfte – frei nach Monty Python und mit Blick auf die ideologische Prägung der handelnden Akteure nicht frei von bitterer Ironie – die „Judäische Volksfront“ gegen die „Volksfront von Judäa“.
Insofern kommt man kaum umhin, die Biografie Johann von Leers' – gemessen an seinen eigenen Maßstäben – als ein fortgesetztes Scheitern zu betrachten, wobei sich aus der unstreitigen persönlichen Tragik eben keine Empathie für den Protagonisten einstellen mag. Doch zugleich ist sein Lebensweg besonders in historiographischer Perspektive weit mehr als das – und Finkenberger gelingt es auch, genau dies herauszuarbeiten: Leers‘ Bemühen, publizistische Handreichungen zur ideologischen Schulung der Judenmörder beizustellen, berührt einen zentralen Aspekt jener „Täterforschung“, die sich um Aufklärung der Frage bemüht, was jene Menschen, die zu Täterinnen und Tätern wurden, motivatorisch angetrieben hat. Inwieweit die Publizistik eines von Leers tatsächlich erfolgreich darin war, Angehörige der Einsatzgruppen, an die seine Schriften teils gezielt verteilt wurden, zum Morden zu motivieren, oder ob es doch andere Beweggründe wie etwa gruppendynamische Prozesse innerhalb dieser Einheiten waren, welche die Mitglieder zu Tätern werden ließen, ist dabei mit Blick auf die Bewertung des Wirkens von Leers‘ von nachrangiger Bedeutung: Er hat seine Schriften teils im Wissen um deren Einsatz als Erbauungsliteratur für Einsatzgruppenmitglieder verfasst beziehungsweise zur Verfügung gestellt. Insofern ist er zumindest gemäß der Intention seines eigenen Handelns moralisch schuldig der Anstiftung, wenn nicht gar der Beihilfe zum Völkermord.
Sein fortgesetztes Scheitern und seine ambivalenten, von Kooperation und Konflikt geprägten Beziehungen zu ranghohen Regimevertretern tragen auch zu einem besseren Verständnis der Dynamiken des NS-Regimes bei. Denn sie stehen im Widerspruch zu vielen und allzu oft eindimensionalen Erklärungsmustern, wonach Personenbeziehungen im Nationalsozialismus entweder gut im Sinne von komplizenhaft oder schlecht im Sinne von ablehnend bis feindlich strukturiert waren: Dass von Leers einerseits von Goebbels nicht mehr als Redakteur beim „Angriff“ beschäftigt wurde, weil man sich ideologisch überworfen hatte, er aber andererseits weiterhin mit Auftragsschrifttum betraut wurde, lässt erkennen, dass es neben Schwarz und Weiß auch viel Grau gab.
Schließlich gibt die Auseinandersetzung mit von Leers‘ Lebensweg auch Aufschluss hinsichtlich der Frage, wie es in der Nachkriegszeit um die politische Konsolidierung der Bundesrepublik im direkten Zusammenspiel mit jenen Kräften bestimmt war, die den jungen Staat am liebsten sofort wieder zu überwinden trachteten. Dabei macht gerade die ungebrochene und zum Teil sogar noch einmal rhetorisch gesteigerte ideologische Intransigenz von Leers‘ implizit deutlich, wie groß die politische Integrationsleistung der jungen Bundesrepublik war; denn das Gros derjenigen, die das NS-Regime am Laufen gehalten hatten, war nicht wie von Leers exiliert, sondern im Land geblieben.
Eingedenk all dessen bleibt abschließend nur in einem Punkt eine kritische Anmerkung zur vorliegenden Arbeit zu machen: Johann von Leers als „Propagandist der zweiten Reihe“ (S. 431ff.) zu apostrophieren, machte nur Sinn, wenn man diese Wertung allein darauf gründete, wer im NS-Staat welches offizielle oder offiziöse Amt innehatte – und zugleich nur Mitglieder von Reichsregierung oder Reichsleitung der NSDAP als erstrangige Exponenten des Regimes gelten ließe. Doch wie der Verfasser selbst darlegt, erschien von Leers als Propagandist in der Öffentlichkeit zumindest zeitweilig sogar Goebbels ebenbürtig (vgl. S. 303). Durch seine breite publizistische Tätigkeit hat er einen erheblichen Beitrag zur Popularisierung der Politik des NS-Staates geleistet.
Auch wenn im Sinne einer historischen Medienwirkungsforschung kaum zu beantworten ist, welchen qualitativen Einfluss seine Texte auf die Meinungsbilder einer breiten Leserschaft gehabt haben: Die Tatsache, dass von Leers immer wieder angefragt wurde, Beiträge für unter anderem Zeitungen, Zeitschriften und Sammelbände beizusteuern, dokumentiert, dass ihm dieses Vermögen zeitgenössisch zumindest zugesprochen wurde. Damit erscheint es durchaus angemessen, ihn als erstrangigen Exponenten der notorischen NS-Propaganda einzustufen, obwohl er nie dauerhaft eine formale Funktion innerhalb der Führungsstruktur des NS-Regimes innehatte.
Dass diese abweichende Wertung zugleich aber der einzige ernsthafte Kritikpunkt ist, den man mit Blick auf die umfangreiche, mehr als 800 Textseiten umfassende Studie vorbringen kann, unterstreicht nachdrücklich deren grundsätzliche Qualität. Sie besteht nicht zuletzt in einer vielfältigen Anschlussfähigkeit für – hoffentlich – anknüpfende (Detail-)Forschung.
Anmerkung:
1 Eine Ausnahme bildet eine Leers-Biografie, die einerseits handwerklich nicht zu überzeugen vermag und andererseits nicht frei von apologetischen Tendenzen ist: Marco Sennholz, Johann von Leers. Ein Propagandist des Nationalsozialismus, Berlin 2013; vgl. dazu Daniel Mühlenfeld, Rezension zu: Marco Sennholz, Johann von Leers. Ein Propagandist des Nationalsozialismus, Berlin 2013, in: H-Soz-Kult, 30.01.2015, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-20034 (16.08.2024).