T. Fögen (Hrsg.): Tears in the Graeco-Roman World

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Titel
Tears in the Graeco-Roman World.


Herausgeber
Fögen, Thorsten
Erschienen
Berlin u.a. 2009: de Gruyter
Anzahl Seiten
VI, 491 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Judith Hagen, Institut für Klassische Philologie, Universität Regensburg

Auf den Gebieten der nonverbalen Kommunikation sowie der Emotionsforschung sind in den letzten Jahren wichtige Beiträge erschienen, von deren Verfassern einige auch in dem vorliegenden Sammelband vertreten sind.1 Dieser legt den Fokus ausschließlich auf das Phänomen der Tränen und beleuchtet es aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Der Herausgeber Thorsten Fögen zeigt in einer kurzen Einleitung (S. 1–16) methodische Probleme auf und umreißt den Kreis der Fragen, die das Thema aufwirft. Vor allem jedoch bietet er in einer Auswahlbibliographie (S. 6–16) alle entscheidenden Literaturtitel für eine Beschäftigung mit Tränen in der griechisch-römischen Antike, wobei er auch Nachbargebiete wie etwa die Mediävistik einbezieht.

Der erste Aufsatz behandelt mit „Tears and Crying in Archaic Greek Poetry (especially Homer)“ (S. 17–36) die früheste literarische Überlieferung der Griechen. Deutlich arbeitet Sabine Föllinger die Anlässe heraus, zu denen die homerischen Helden weinten, und kommt zu dem Schluss, dass ihre Tränen nicht negativ oder als unmännlich beurteilt wurden. Dies liegt jedoch weniger in der sozialen Wirklichkeit, sondern vor allem in der Gattung des Epos begründet, wie ein Vergleich mit dem Lyriker Archilochos zeigt. Desgleichen richtet Douglas L. Cairns („Weeping and Veiling: Grief, Display and Concealment in Ancient Greek Culture“, S. 37–57) das Augenmerk zunächst auf die homerische Epik sowie die Tragödie und deutet das Verhüllen von Kopf, Gesicht und Augen als eine kommunikative Geste, in der Trauer und aidos zum Ausdruck kommen. Nach Einbeziehung weiterer Bereiche folgert Cairns, dass es als ein Mittel des Ausgleichs zwischen Emotion und ritueller Performanz zu verstehen ist.

Die These, Tränen seien typisch weiblich, stellt Ann Suter in ihrem Beitrag „Tragic Tears and Gender“ (S. 59–83) in Frage. Sie untersucht das Weinen als spontane Emotion in den griechischen Tragödien – mit dem Ergebnis, dass Männer und Frauen gleich häufig, aus denselben Gründen und mit demselben Effekt auf die weiteren Figuren innerhalb des Stückes weinen. Ihre Tränen sind nicht im Hinblick auf ihr Geschlecht zu deuten, sondern werden verwendet, um ein breites Spektrum an Charakterisierungen vorzunehmen. Roland Baumgarten rückt in seinem Beitrag „Dangerous Tears? Platonic Provocations and Aristotelic Answers“ (S. 85–104) die Ansicht Platons in den Mittelpunkt, dass homerische Epik und attische Tragödie aufgrund ihrer emotionalisierenden Wirkung zu verwerfen seien. Unter Umständen kann jedoch die Darstellung von Tränen und Leid in der Literatur auch eine pädagogische Wirkung beim Leser entfalten. Diesem platonischen Konzept wird die Behandlung von Emotionen bei Aristoteles gegenübergestellt.

Einen weiten Zeitrahmen umspannt die Untersuchung von Donald Lateiner: „Tears and Crying in Hellenistic Historiography: Dacryology from Herodotus to Polybius“ (S. 105–134). Tränen bilden einen integrativen Bestandteil im Werk der großen griechischen Historiker sowie bei den attischen Rednern und Plutarch, wobei das Weinen je nach Richtung der Historiographie (militärisch-politisch, also pragmatisch ausgerichtet, rhetorisch-dramatisch oder aber moralisierend-psychologisierend) in den Dienst unterschiedlicher Darstellungsabsichten gestellt ist. Darja Šterbenc Erker setzt sich in „Women’s Tears in Ancient Roman Ritual“ (S. 135–160) mit der Funktion weiblicher Tränen in verschiedenen sozialen Kontexten auseinander und arbeitet heraus, aus welchen Gründen das Weinen von römischen Autoren negativ oder positiv beurteilt wird.

Christina A. Clark („Tears in Lucretius“, S. 161–177) gibt zuerst eine physikalisch-naturwissenschaftliche Erklärung der Tränen innerhalb der epikureischen Lehre, um dann auf die verschiedenen Ursachen bzw. das Auftreten von Tränen einzugehen und dabei ihre unterschiedliche Bewertung durch das ethisch-moralische Konzept dieser Philosophie sowie die Funktion ihrer Darstellung im Lehrgedicht des Lukrez zu erläutern. Thorsten Fögen erörtert „Tears in Propertius, Ovid and Greek Epistolographers“ (S. 179–208), die – wie Emotionen überhaupt – bei diesen Autoren gattungsbedingt eine bedeutende Rolle spielen. Oftmals steht bei ihrer Verwendung der humoristische Aspekt im Vordergrund, wie es dem (jeweils mehr oder minder) scherzhaften Unterton einer Liebeselegie entspricht. Loretana de Libero konzentriert sich in ihrem Aufsatz „Precibus ac lacrimis: Tears in Roman Historiographers“ (S. 209–234) auf die großen römischen Historiker Livius, Tacitus und Ammianus Marcellinus. Die kommunikativen Funktionen, die Weinen in ihren Werken einnimmt, sind vielfältig und richten sich nach der jeweils zugrundeliegenden Bedeutung von Emotionalität.

In ihrem Beitrag „The Weeping Wise: Stoic and Epicurean Consolations in Seneca’s 99th Epistle“ (S. 235–252) geht Margaret Graver auf die zwei Formen des tugendhaften Weinens ein, die Seneca in dem hier analysierten Brief beschreibt: Der Weise weint entweder spontan und unwillkürlich aus Trauer oder willkürlich, wenn er sich mit Freude an die schöne Zeit mit dem Verstorbenen erinnert (Freudentränen). Graver legt dar, inwieweit sich diese Position Senecas mit der üblichen stoischen, aber auch der epikureischen Doktrin deckt. In seinem Aufsatz „Statius and the Weeping Emperor (Silv. 2.5): Tears as a Means of Communication in the Amphitheatre“ (S. 253–275) stellt Helmut Krasser die bei Statius geschilderten Tränen Domitians in einen umfassenderen Deutungshorizont und interpretiert das Amphitheater als äußeren Rahmen, in welchem das Weinen als symbolische Kommunikation zwischen Kaiser und Volk dient. Mit seinem zweiten Beitrag im vorliegenden Sammelband bietet Donald Lateiner eine Analyse von „Tears in Apuleius’ Metamorphoses“ (S. 277–295). In dem antiken Roman werden Tränen in großer Fülle und als Ausdruck verschiedener Emotionen (Trauer, aber auch Freude) geschildert; sie werden als echt oder als vorgespielt kenntlich gemacht und dienen dazu, die Charaktere in ihren unterschiedlichen Facetten zu zeichnen.

Anthony Corbeill behandelt in seinem Beitrag „Weeping Statues, Weeping Gods and Prodigies from Republican to Early-Christian Rome“ (S. 297–310) die drei sicher belegten Beispiele von weinenden Götterstatuen, für welche der Senat von den decemviri bzw. haruspices Maßnahmen zur Entsühnung erbat. In mancher Hinsicht unterscheiden sich die Tränen römischer Statuen nicht von denjenigen, die in vergleichbarer Weise bei christlichen Autoren berichtet werden. David Konstan konzentriert sich in „Meleager’s Sweet Tears: Observations on Weeping and Pleasure“ (S. 311–334) auf das komplexe Zusammenspiel von Tränen und Lachen bzw. Freude, das in der Tragödie sowie vor allem in der Liebesdichtung geschildert wird und die Bezeichnung des Eros als glykydakrys durch den frühkaiserzeitlichen Dichter Meleager von Gadara nachvollziehbar macht. Stefan Schorn („Tears of the Bereaved: Plutarch’s Consolatio ad uxorem in Context“, S. 335–365) beleuchtet die Trostschrift Plutarchs an seine Frau vor ihrem soziokulturellen Hintergrund und kommt zu dem Ergebnis, dass die Reaktion der Timoxena (und die ihres Gatten) auf den Tod der kleinen Tochter nicht dem üblichen Trauerverhalten entsprach. Dieses wird von Plutarch als unangemessen eingestuft; er hält einen maßvollen Umgang mit dem eigenen Kummer für erstrebenswert, und zu diesem kann die Philosophie verhelfen.

Ilaria Ramelli richtet mit „Tears of Pathos, Repentance and Bliss: Crying and Salvation in Origen and Gregory of Nyssa“ (S. 367–396) den Blick auf die christliche Spätantike. In exegetischen Kontexten verweisen die von ihr behandelten griechischen Kirchenschriftsteller darauf, dass nur die Tränen der Buße und der Liebe positiv zu beurteilen sind; nach Auslöschung allen Übels in der Welt werden jedoch auch diese nicht mehr vorhanden sein, sondern von Gott in Freude umgewandelt werden. Charles F. Pazdernik erkennt in „Fortune’s Laughter and Bureaucrat’s Tears: Sorrow, Supplication and Sovereignty in Justinianic Constantinople“ (S. 397–418) Parallelen zwischen den Tränen, die Johannes Lydus in seinem De magistratibus populi Romani schildert, und denen König Gelimers in den Bella des Prokop: Sie symbolisieren den Verlust der alten administrativen Ordnung des Reiches bzw. das Ende des Vandalenreiches. Besonderer Ausdruck der Wankelmütigkeit des Schicksals ist darüber hinaus das bei Prokop berichtete Lachen Gelimers nach seiner Gefangennahme.

Arvid Kappas’ Beitrag „Mysterious Tears: The Phenomenon of Crying from the Perspective of Social Neuroscience“ (S. 419–438) präsentiert aus der Sicht der Neurosemiotik verschiedene Antworten auf die Frage, weshalb wir weinen; besonders geht er auf die Theorien Darwins ein. Ad J. J. M. Vingerhoets, Lauren Bylsma und Jonathan Rottenberg stellen in „Crying: A Biopsychosocial Phenomenon“ (S. 439–475) ein modernes Prozessmodell des Weinens vor, das von Forschern der Universität Tilburg entwickelt worden ist.

Tränen in der griechisch-römischen Antike werden in dieser Aufsatzsammlung aus vielfältigen Perspektiven (nämlich philologischer, historischer, religionswissenschaftlicher, philosophischer, theologischer und psychologischer) beleuchtet. Das Thema erfährt einen Durchgang durch alle wichtigen Epochen und literarischen Gattungen. Einige der Aufsätze sind bereits 2006 in der Zeitschrift für Semiotik Nummer 28 veröffentlicht, worauf Fögen in seinem Vorwort (S. 3) hinweist.2 Ein erneutes Erscheinen in englischer Sprache ist hier deutlich positiv zu werten, zum einen, da die äußere Gestaltung des vorliegenden Buches weitaus attraktiver ist, vor allem jedoch deswegen, weil sich größere Möglichkeiten der Kommunikation auf internationaler Ebene bieten und dadurch Beiträge von hervorragenden deutschen Wissenschaftlern und der bedeutendsten amerikanischen Forscher auf diesem Gebiet in einem Band zusammengeführt werden konnten. Am Ende werden in zwei Aufsätzen moderne Ansatzpunkte der Weinforschung aus den Neurowissenschaften beschrieben, die der Abrundung des Themas dienen sollen und mit Sicherheit eine interessante Ergänzung sind – jedoch ist anzumerken, dass es versäumt wurde, darin inhaltlich einen Bezug zur Antike herzustellen. Insgesamt besticht der vorliegende Band aber durch seine Ausgewogenheit und die Aktualität der in ihm vertretenen Forschungsansätze.

Anmerkungen:
1 Es sei hier verwiesen auf: Anthony Corbeill, Nature Embodied, Princeton 2004; David Konstan, The Emotions of the Ancient Greeks, Toronto 2006; Margaret R. Graver, Stoicism and Emotion, Chicago 2007; Ann Suter (Hrsg.), Lament. Studies in the Ancient Mediterranean and Beyond, Oxford 2008. Ergänzend ist anzumerken, dass neben Fögen zwei weitere Latinisten der Humboldt-Universität zu Berlin eine Aufsatzsammlung zum Thema Emotionalität herausgegeben haben, vgl. Diana Bormann/ Frank Wittchow (Hrsg.), Emotionalität in der Antike zwischen Diskursivität und Performativität, Berlin 2008 (Zu „Tränen und Trauer“ sind darin vier Beiträge zu finden).
2 Es handelt sich um die Beiträge von Föllinger, Baumgarten, Šterbenc Erker, Fögen, Krasser, Kappas und Vingerhoets.

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