Die deutschsprachige Forschung zur Geschichte der Obdachlosigkeit im 20. Jahrhundert steckt noch in den Anfängen.1 Bislang dominieren sozial- und erziehungswissenschaftliche Studien das Feld; in der geschichtswissenschaftlichen Literatur spielen Obdachlose keine Hauptrolle. Insofern leistet die Dissertation von Nadine Recktenwald Pionierarbeit, wenn sie nach den Erfahrungen von Obdachlosen in Deutschland zwischen 1924 und 1974 fragt.
Der Zeitraum ist plausibel gewählt, da der Staat hier stark in die Obdachlosenfürsorge eingegriffen hat – mal zum Vorteil, mal zum Nachteil der von Wohnungslosigkeit Betroffenen. Einerseits wurde 1924 mit den Fürsorgegesetzen in der Weimarer Republik das Recht auf Unterkunft eingeführt, das Städte und Gemeinden verpflichtete, Obdachlosen eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Andererseits blieb Obdachlosigkeit bis 1974 in der Bundesrepublik ein Straftatbestand. Wer sich nicht innerhalb einer bestimmten Frist eine Unterkunft beschaffte, musste mit Arbeitshauseinweisungen, Geld- oder Haftstrafen rechnen. In der Zeit des Nationalsozialismus drohten Obdachlosen sogar Zwangssterilisationen und Konzentrationslagerhaft. Dieses Changieren zwischen Fürsorge und Bestrafung bildet das Hauptnarrativ der Studie, da es die Erfahrungen der Obdachlosen prägte.
Doch wie und wo lassen sich Obdachlose historisch fassen, die in der Regel kaum Selbstzeugnisse hinterlassen haben? Diesem Quellenmangel begegnet Recktenwald mit einem raumanalytischen Ansatz. Sie sucht die Obdachlosen als historische Akteure dort, wo sie sich häufig aufhielten und wo über sie berichtet wurde: auf der Straße, auf dem Amt und im Obdach. Dabei kann die Autorin auf kommunales Verwaltungsschriftgut vor allem aus den Sozial- und Wohnungsämtern zurückgreifen, aber auch auf Polizei- und Justizakten sowie auf Überlieferungen der konfessionellen Wohlfahrtspflege, die Eingaben, Bittschriften und Beschwerden von Obdachlosen enthalten. Zeitungsartikel und wissenschaftliche Publikationen aus den Bereichen Medizin, Sozialwissenschaften und Strafrecht ergänzen das Quellenkorpus. Es geht also weniger um eine „Geschichte von unten“ als vielmehr darum, wichtige Lebens- und Erfahrungsorte von Obdachlosen zu analysieren. Gleichwohl flechtet Recktenwald immer wieder Lebenslaufschilderungen ein, die sie aus den Akten rekonstruiert hat.
Die Räume „Straße“, „Amt“ und „Obdach“ bilden die drei Hauptkapitel des Buches. Zunächst führt uns die Autorin auf die Straßen der Großstädte, die im 20. Jahrhundert zum „zentralen Element von obdachlosen Lebensweisen“ wurden (S. 30). Einheitliche zeitgenössische Erhebungen gibt es nicht – die zahlenmäßige Erfassung von Obdachlosen ist bis heute ein Problem; erst das 2020 in Kraft getretene Wohnungslosenberichterstattungsgesetz versucht hier Abhilfe zu schaffen. Dennoch zählten Asyle und andere Obdachloseneinrichtungen bereits früher ihre Übernachtungsgäste. Anhand dieser lokalen Statistiken kann Recktenwald die Zu- und Abnahme der Obdachlosigkeit in den von ihr untersuchten Großstädten München, Berlin, Frankfurt am Main, Leipzig, Gelsenkirchen, Düsseldorf, Bochum, Stuttgart und Essen aufzeigen. Diese Auswahl wird nicht näher begründet, beruht aber auf der Annahme der Autorin, dass Obdachlosigkeit im 20. Jahrhundert ausschließlich ein großstädtisches Phänomen gewesen sei (S. 1, S. 5, S. 7f.). Ob dies tatsächlich der Fall war, bliebe zu überprüfen. Wer sich nun, wie schon das Bürgertum im 19. Jahrhundert, faszinierende und bisher unbekannte Einsichten in das Leben der Obdachlosen auf der Straße erhofft hat, wird enttäuscht. Dafür aber liefert Recktenwald ihren Leser:innen kluge Betrachtungen über die politische Instrumentalisierung der Obdachlosen auf der Straße, die über den gesamten Untersuchungszeitraum ein Ort der Auseinandersetzung war: zwischen Polizei, Stadtverwaltungen und empörten Bürger:innen auf der einen sowie Obdachlosen auf der anderen Seite. Verhaftungen, Platzverweise und eine gezielte obdachlosenfeindliche Stadtgestaltung, etwa das Entfernen von Bänken oder das Ersetzen von Sträuchern durch Dornenbüsche in Parks, führten jedoch nur zu einer kurzfristigen Verdrängung der Obdachlosen, die sich weiterhin in der Nähe von Großmarkthallen, unter Brücken und in Fußgängerzonen aufhielten.
Im Kapitel „Das Amt“ findet sich das Narrativ von Fürsorge und Strafe am stärksten wieder. Zunächst werden die als „polykratisch“ etikettierte Obdachlosenfürsorge, die zuständigen Ämter und ihre ex- wie inkludierenden Praktiken vorgestellt. Besonders deutlich wird dabei die Grundannahme der Fürsorgeverantwortlichen, die Obdachlosigkeit mehrheitlich als selbstverschuldet ansahen, was oft eine verzögerte und eingeschränkte Hilfe für die Betroffenen zur Folge hatte. Wenn Obdachlose vor Gericht standen, dann meist wegen kleinerer Delikte, die sie aus Not in ihrer Lebenssituation begangen hatten. In den meisten Fällen gestanden die Obdachlosen ihre Schuld ein, nicht aber ihre soziale Marginalisierung. Sie baten um Strafmilderung, verwiesen auf ihre Armut und bekannten sich zu ihrer Lebenslage.
Anders als vor Gericht oder bei der Vergabe von Sozialleistungen entwickelten die Handlungen von Obdachlosen in den Asylen, Obdachlosensiedlungen und Bunkern eine größere Wirksamkeit. Wie das Kapitel „Obdach“ zeigt, kämpften Obdachlose von der Weimarer Republik bis in die Bundesrepublik um ihre Unterkünfte und schufen sich mit den „Wilden Siedlungen“ sogar selbst welche. Sie wehrten sich erfolgreich gegen die Schließung von Obdachlosensiedlungen, handelten widerständig und hielten die Verantwortlichen mit Forderungen nach Verbesserungen auf Trab. Dies ist umso erstaunlicher, als die für Obdachlose vorgesehenen Räume durch Isolation und Sozialdisziplinierung gekennzeichnet waren. Diese Ambivalenzen können weitere Forschungen anregen, die sich mit den Handlungsspielräumen von Obdachlosen beschäftigen und vor asymmetrischen Machtverhältnissen nicht zurückschrecken.
Insgesamt ist der raumanalytische Ansatz also äußerst ergiebig. Umso mehr verwundert es, dass ausgerechnet die stationäre Anstaltsunterbringung Obdachloser fehlt, die im Rahmen der Nichtsesshaftenfürsorge bis weit in die 1980er-Jahre die Unterbringungsmöglichkeit Nummer eins für wohnungslose Männer war.2 Kritisch anzumerken ist außerdem, dass nur die einzelnen Unterkapitel chronologisch gegliedert sind, nicht aber die genannten drei Hauptkapitel beziehungsweise die gesamte Studie. Dies hat zur Folge, dass die Autorin in jedem Unterkapitel immer wieder in der Weimarer Republik beginnt, was zu einigen Redundanzen führt und das Nachschlagen erschwert, wenn man sich beispielsweise einen schnellen Überblick zum Umgang der Ämter mit Obdachlosen oder zu ihrer Unterbringung in der NS-Zeit verschaffen will.
Wie Recktenwald selbst einräumt, lässt sie die Ursachen von Obdachlosigkeit außer Acht (S. 7). Einerseits ist dies eine nachvollziehbare Entscheidung, da die Autorin sonst die Erfahrungsperspektive verlassen müsste3, was den Zuschnitt der Arbeit weniger stringent gemacht hätte. Andererseits würde man doch gern erfahren, wie es in einem expandierenden Wohlfahrts- und Sozialstaat dazu kommen konnte, dass Obdachlosigkeit in nicht geringem Ausmaß erhalten blieb – auch bis in die Gegenwart.
Im Schlussteil bietet Recktenwald zwar keine Hypothesen zur Obdachlosigkeit in der jüngeren Zeitgeschichte ab den 1970er-Jahren, aber eine lesenswerte Zusammenfassung zur Geschlechtsspezifik der Obdachlosenfürsorge in ihrem Untersuchungszeitraum. Man erfährt, dass im frühen 20. Jahrhundert die Trennung in eine „Gefährdetenfürsorge“ für Frauen und eine „Wandererfürsorge“ für Männer aus dem 19. Jahrhundert beibehalten wurde. Dies hing wiederum mit den unterschiedlichen Zuschreibungen zusammen: Während obdachlose Männer als arbeitsscheu und mobil angesehen und damit kriminalisiert wurden (oft wurde ihnen ein „Wandertrieb“ unterstellt), galten obdachlose Frauen als sittlich und gesundheitlich gefährdet; ein Teufelskreis aus Obdachlosigkeit und Prostitution begünstigte diese Etikettierung. Auch die Obdachlosen selbst übernahmen diese Deutungen, wie Recktenwald erstmals zeigt: Ortsansässige Obdachlose, die häufig noch einen Arbeitsplatz hatten, fühlten sich arbeitslosen, umherziehenden obdachlosen Männern überlegen. Mit der Zuordnung zur Gruppe der „Asozialen“, die sich in der NS-Zeit etablierte und in der Bundesrepublik bis in die 1970er-Jahre nachwirkte, wurde diese geschlechtsspezifische Trennung brüchig. Dennoch bleibe „die Obdachlosenfürsorge bis heute ihrer geschlechtsspezifischen Differenzierung verhaftet“ (S. 346). Dabei wäre allerdings zu berücksichtigen, dass obdachlose Frauen gerade auf der Straße häufig Opfer von Gewalt werden, die auch von obdachlosen Männern ausgehen kann, sodass spezifische Angebote für obdachlose Frauen durchaus sinnvoll erscheinen. Ungeachtet der genannten Kritikpunkte überwiegt insgesamt der positive Eindruck einer quellengesättigten Studie, mit der Nadine Recktenwald mutig Forschungsneuland betritt.
Anmerkungen:
1 Zum 20. Jahrhundert im Überblick: Britta-Marie Schenk, Obdachlose als Aussteiger? Handlungsmöglichkeiten von Obdachlosen im Deutschland des 20. Jahrhunderts, in: Petra Terhoeven / Tobias Weidner (Hrsg.), Exit. Ausstieg und Verweigerung in „offenen“ Gesellschaften nach 1945, Göttingen 2020, S. 87–113; jeweils auf eine politische Epoche beschränkt: Karl Christian Führer, Exmissionen und Obdachlosenwohnungen. Die kommunale Fürsorge für obdachlose Familien in der Weimarer Republik, in: Archiv für Kommunalwissenschaften 35 (1996), S. 38–58; Wolfgang Ayaß, „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995. Die US-amerikanische Forschung ist wesentlich umfangreicher und fokussierte schon früh auf Selbstermächtigungsstrategien von Obdachlosen. Siehe z.B. Joel Blau, The Visible Poor. Homelessness in the United States, New York 1992; Kenneth L. Kusmer, Down and Out, On the Road. The Homeless in American History, Oxford 2002; Ella Howard, Homeless. Poverty and Place in Urban America, Philadelphia 2013.
2 Vgl. Britta-Marie Schenk, Transformationen der Anstalt. Einrichtungen für Obdachlose und Nichtsesshafte von den 1960er bis zu den 1990er Jahren, in: Wilfried Rudloff u. a. (Hrsg.), Ende der Anstalten? Großeinrichtungen, Debatten und Deinstitutionalisierung seit den 1970er Jahren, Paderborn 2022, S. 288–305.
3 Dass sich die Ursachen von Armut nicht allein aus den Erfahrungen der Betroffenen ableiten lassen, betont jüngst auch der Soziologe und Pulitzer-Preisträger Matthew Desmond, Armut. Eine amerikanische Katastrophe. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer, Hamburg 2024, S. 16.