Als 1888 wegen außenpolitischer Spannungen eine Passpflicht an der deutsch-französischen Grenze eingeführt wurde, kritisierte die „Frankfurter Zeitung“, dass die Praxis „zu den Verkehrsverhältnissen der Jetztzeit in grellem Widerspruch steht“.1 Und ein elsässischer Reichstagsabgeordneter empörte sich, die deutsche Regierung habe eine Maßregel etabliert, „welche ja kaum noch in Rußland aufrecht gehalten wird, einem Lande, das man bis dahin als ein halb barbarisches Land angesehen hat“.2 Die Passkontrolle an der deutsch-französischen Grenze erschien als unzeitgemäß und als nicht „westlich“; drei Jahre später wurde sie wieder aufgehoben. Die Geschichte westlicher und östlicher Maßnahmen der Grenzkontrolle steht im Mittelpunkt von Péter Bencsiks Buch „Border Regimes in Twentieth Century Europe“. In den letzten Jahren sind zahlreiche historische Arbeiten zu Grenzen erschienen, was Überblicksdarstellungen somit immer wünschenswert macht.3 Bencsik diskutiert die Genese eines liberaleren westlichen und eines restriktiveren östlichen Grenzregimes in fünf Kapiteln.
Zunächst definiert er Grenzen als materielle Technologien der sozialen Unterscheidung: Einige Menschen dürfen sie überschreiten, andere werden zurückgewiesen. Während Staatsangehörigkeit die Zugehörigkeit zu einem Staat bestimmt, sind Grenzen als rechtliche Instrumente zu verstehen, die Souveränität und Territorialität, also die Durchherrschung des Staatsgebiets, gewährleisten. Für Bencsik sind Grenzregime Maßnahmen wie Grenzüberwachung, Passkontrolle, Visapolitik und Regulierung der Mobilitätsfreiheit, mit denen Menschen bei der Überschreitung von Grenzen konfrontiert werden, wobei in seinem Buch die Pässe klar im Vordergrund stehen.
Im Anschluss geht es demnach um die komplexe Geschichte von Pässen seit dem 18. Jahrhundert, die zunächst vor allem als Reisegenehmigungen fungierten und Auskunft über den sozialen Status gaben. Mit der Französischen Revolution erfolgten verstärkt Migrationskontrollen, wobei Pässe lediglich für einzelne Reisen galten. Den Beginn eines westlichen Grenzregimes macht Bencsik in der Abschaffung von Pässen innerhalb des britischen Empire 1826 aus. Freizügigkeit wurde 1867 auch im Norddeutschen Bund und im Folgenden in anderen westeuropäischen Ländern etabliert, wobei – dies wäre zu ergänzen – Aufenthaltserlaubnisse oder Ausweisungen weiterhin eine große Rolle spielten. Zwar wandelten sich Mobilitätskontrollen im Zuge der Nationalisierung staatlicher Herrschaft vom Augenmerk auf sozial oder ökonomisch unerwünschte Reisende vorrangig hin zur Frage nach der Staatsangehörigkeit, doch waren Papiere größtenteils nicht für Grenzüberschreitungen, sondern als Identitätsausweise vonnöten. Pässe und Visumpflicht sowohl für Staatsangehörige als auch für Ausländer galten um 1900 hingegen weiterhin für Russland und das Osmanische Reich, wobei Grenzkontrollen nicht besonders strikt waren, aber zur Isolation der Länder beitrugen. Diese unterschiedlichen Entwicklungen ordnet Bencsik einem liberalen, polizeilich geprägten westlichen sowie einem autoritären, militärisch geprägten östlichen Grenzregime zu. Das Habsburgerreich war eine Mischform, in der sowohl innere Freizügigkeit als auch eine Passpflicht für Reisen ins Ausland galten.
Eine Zusammenschau vom Ersten Weltkrieg, als sich westliches und östliches Modell annäherten, bis zum Zweiten Weltkrieg erörtert die Institutionalisierung von Pässen. Konferenzen des Völkerbundes, die Pässe vereinheitlichten, aber auch deren Abschaffung diskutierten, finden ebenso Erwähnung wie die Etablierung des Nansen-Passes (ab 1922) für Flüchtlinge und Staatenlose. Staatsgründungen in Ostmitteleuropa schufen grenzüberschreitende Minderheiten, was die Grenzüberwachung signifikant militarisierte und schließlich zu „ethnischen Säuberungen“ führte. In der Zwischenkriegszeit gab es hier uneinheitliche Rechtsnormen – teils war der Passerwerb eingeschränkt, teils existierten aber auch Abkommen zur Visumfreiheit, insbesondere mit der Sowjetunion. Dort erschwerten hingegen interne Pässe die Mobilität. Die Grenze wurde militärisch gesichert und nur eine geringe Zahl von Pässen für Auslandsreisen genehmigt, was zu einer „full-scale territorialisation“ (S. 54) führte – ein Effekt, der Anfang der 1930er-Jahre mit der Etablierung von Grenzzonen und -befestigungen noch verstärkt wurde. Diese Tendenzen vergleicht Bencsik mit dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland, die Auswanderungen und Reisefreiheit, aber auch interne Mobilität einschränkten. So führten die Nationalsozialisten Arbeitsbücher und Meldeordnungen ein, regulierten den kleinen Grenzverkehr und reformierten das Ausweiswesen, womit laut Bencsik sowjetische Praktiken de facto übernommen wurden (S. 59). Zugleich sei das sowjetische Regime „totalitärer“ gewesen, da die nationalsozialistische Grenzpolitik vorrangig im Hinblick auf Juden und politische Feinde galt. Dass Erschwernisse und schließlich das Verbot der Emigration 1941 Teil der sich radikalisierenden antisemitischen Verfolgung waren, hätte hier stärker herausgehoben werden können.
Für die Nachkriegszeit beleuchtet Bencsik, wie Pässe zu Angelegenheiten von Flüchtlingsorganisationen wie der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) und des United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) wurden und Konferenzen die Reisefreiheit thematisierten, etwa die United Nations Conference on International Travel and Tourism 1963 in Rom sowie die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1973 in Helsinki. Dabei konstatiert der Autor eine Deterritorialisierung der westlichen Staaten, obgleich das Beispiel des britischen Commonwealth Immigrants Act 1962 dies konterkarierte. Die europäischen Integrationsprozesse und vor allem die Schengener Abkommen seit 1985 ermöglichten Reisefreiheit innerhalb des Territoriums der unterzeichnenden Staaten, verstärkten und militarisierten jedoch zugleich die Außengrenzen Westeuropas, was sie wiederum in die Nähe östlicher Grenzregime rückte. Eine interne Territorialisierung macht Bencsik hingegen für die Sowjetunion aus, wo etwa Niederlassungen in Städten reguliert wurden. Erst seit den 1960er-Jahren existierten zahlreiche Abkommen zur Visumfreiheit mit verschiedenen Blockstaaten, die Reisen zumindest mit einem Einladungsschreiben und Pass ermöglichten. Diese Entwicklungen vergleicht Bencsik im letzten Kapitel mit den Staaten an der westlichen Grenze des östlichen Regimes: In unterschiedlichem Maße handhabten die DDR, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Jugoslawien die Ausreise. Einer rigiden Passpolitik in der DDR sowie in Ungarn stand dabei etwa eine weniger restriktive in Polen gegenüber, von wo ab Ende der 1950er-Jahre auch Reisen in kapitalistische Länder möglich waren. Zudem unterschied sich die Mobilität zwischen Ostblockstaaten, etwa durch Erleichterungen in Ungarn in den 1950er-Jahren und Abkommen zur Visumfreiheit, während DDR-Bürger erst seit den 1970er-Jahren mit Identitätsdokumenten und Visa in bestimmte Länder reisen konnten. Hinzu kamen teils weitere Einschränkungen der blockinternen Freizügigkeit. Grenzüberschreitungen wurden oftmals als Straftaten geahndet, und Grenzen wurden nicht nur in Richtung Westen mit Stacheldraht und Wachtürmen gesichert, sondern etwa auch zwischen Polen und der Tschechoslowakei sowie der DDR lange scharf überwacht. Bencsik schlussfolgert, östliche Grenzregime seien immer „restrictive in nature“ gewesen (S. 120), westliche Grenzen hingegen offen für die eigenen Staatsangehörigen, während zugleich die Immigration aus rassistischen Gründen limitiert werden konnte. Ging es hier um Identifizierung, Registrierung und Kontrolle von Einwanderung, regulierten östliche Regime hingegen die Mobilität der eigenen Bevölkerung.
Péter Bencsik bietet mit seinem Buch auf knappem Raum einen breiten Überblick der europäischen Grenzregime und knüpft damit an existierende Darstellungen zur Geschichte von Pässen an4, die er um Ausführungen zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und durch den Fokus auf Mittel- und Osteuropa erweitert. Er verweist insbesondere auf die Pluralität dessen, was lange als „Eiserner Vorhang“ vereinfacht und homogenisiert wurde. Allerdings werden Grenzregime in diesem Buch allein vom rechtlichen Anspruch aus gedacht: Grenzkontrollpraktiken, administrative Techniken oder Politiken der nationalen Zugehörigkeit, wie sie die neuere interdisziplinäre Grenz(regime)forschung vielfach in den Blick genommen hat, kommen hier nur am Rande vor.5 Akteure wie Diplomaten, Polizeibeamte, die Grenzbevölkerung und diejenigen, die die Grenze(n) überschritten, sowie ihre Aushandlungsprozesse spielen ebenso wenig eine Rolle wie die Vielfalt von Grenzüberschreitungen.6 Die starke Modellierung von „östlichen“ und „westlichen“ Grenzregimen macht Bencsiks Darstellung zudem recht sperrig, zumal sie durch Gegenbeispiele immer wieder infrage gestellt wird. Die Widersprüche und autoritären Tendenzen westlicher Grenzregime stärker zu betonen, etwa die militärischen Züge von Grenzpolizeien, die Kontrollpraktiken gegenüber Sinti und Roma oder die Schwierigkeiten des Passerwerbs für Frauen unter Prostitutionsverdacht, hätte manche Annahmen produktiv verkompliziert – etwa, dass „the Western practice of personal identification […] was not restrictive or oppressive“ (S. 35) oder dass „the right to travel out of one’s country has essentially never been restricted in Western Europe“ (S. 12). So hätten auch die komplexen, sich wandelnden Passbestimmungen übersichtlicher dargestellt und etwa Techniken, Materialität oder Akteure der Grenzsicherung in entsprechenden Unterkapiteln verglichen werden können. Insgesamt leistet das Buch dennoch einen hilfreichen Überblick zu verschiedenen Passbestimmungen und liefert mit seinem geografischen Fokus einen relevanten Beitrag zu einer umfassenderen Geschichte europäischer Grenzregime.
Anmerkungen:
1 Frankfurter Zeitung, 23.08.1890.
2 Abgeordneter [Joseph] Guerber, Reichstag, Stenographische Berichte, 21. Sitzung, 17.01.1889, S. 457, https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt3_k7_bsb00018653_00503.html (28.05.2024).
3 Als deutschsprachige Übersichtsdarstellung: Dominik Gerst / Maria Klessmann / Hannes Krämer (Hrsg.), Grenzforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium, Baden-Baden 2021.
4 Etwa John C. Torpey, The Invention of the Passport. Surveillance, Citizenship and the State, 2., überarb. Aufl., Cambridge 2018 (1. Aufl. 2000). Siehe auch Thomas Claes, Passkontrolle! Eine kritische Geschichte des sich Ausweisens und Erkanntwerdens, Berlin 2010, und Ilsen About / Vincent Denis, Histoire de lʼidentification des personnes, Paris 2010.
5 Vgl. etwa Margit Fauser / Anne Friedrichs / Levke Harders (Hrsg.), Migrations and Border Processes. Politics and Practices of Belonging and Exclusion from the 19th to the 21st Century, special issue Journal of Borderlands Studies 34,4 (2019).
6 Vgl. etwa Ned Richardson-Little / Lauren Stokes (Hrsg.), Bordering the GDR. Everyday Transnationalism, Global Entanglements and Regimes of Mobility at the Edges of East Germany, special issue Central European History 56,2 (2023).