V. Borsò u.a. (Hrsg.): Die Macht des Populären

Cover
Titel
Die Macht des Populären. Politik und populäre Kultur im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Borsò, Vittoria; Liermann, Christiane; Merziger, Patrick
Reihe
Reihe Kultur- und Medientheorie
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernhard Fulda, Sidney Sussex College, University of Cambridge

Der vorliegende Sammelband basiert auf einer Tagung im Rahmen des Europäischen Interdisziplinären Doktorandenkolloquiums im Deutsch-Italienischen Zentrum „Villa Vigoni“ im Jahr 2005 zum Thema „Transfigurationen der Macht. Politik, Vermittlung und Popularität“.1 Nun liegen die Früchte in Buchform vor, mit dem peppigen Titel „Die Macht des Populären. Politik und populäre Kultur im 20. Jahrhundert“. Warum es das Konzept der Transfigurationen nicht auf die Titelseite des Buches geschafft hat, bleibt ungewiss. Vielleicht hatten die Herausgeber Vittoria Borsò, Christiane Liermann und Patrick Merziger das Gefühl, dass der Wiedererkennungswert dieses Konzepts auf dem Marktplatz der Ideen noch zu beschränkt ist, um tatsächlich Aufmerksamkeit für den Band produzieren zu können. Aufmerksamkeit erregt jedenfalls die Covergestaltung von Kordula Röckenhaus, ein Airbrush eines zigarrerauchenden Che Guevara, der mit beiden Händen auf sein eigenes Konterfei zeigt, welches sein T-Shirt ziert, und damit den Beitrag von Markus Buschhaus intelligent kommentiert. Doch dazu später mehr.

In ihrem einführenden Kapitel verorten die Herausgeber Borsò, Liermann und Merziger ihre Herangehensweise an das Spannungsverhältnis von Politik und Populärem zunächst durch einen Abriss der jüngeren Forschung zu Populärkultur und Kommunikationsgeschichte, der eine deutliche Ausweitung des Öffentlichkeits-, Medien- und Politikbegriffs aufzeigt. Sie sympathisieren besonders mit der Orientierung der Forschung am Rezipienten. Für ihre Untersuchung von Vermittlung, Verbreitung und populären Ausdrucksformen des Politischen verwenden die Herausgeber den Begriff der “Transfiguration”, um sich erstens von der eindimensionalen Sichtweise der “Politikvermittlung” abzusetzen, und zweitens um den dynamischen Prozesscharakter von Umwandlungen und Übertragungen des politischen Diskurses durch mediale Praktiken und populäre Kulturen zu betonen. Dadurch verschiebt sich die Sichtweise, weg von einer passiven Masse, hin zu einem Rezipienten der zugleich “Sender” ist: “Er ist Akteur im Aneignungsprozess von Politik, ökonomischer Faktor, Produzent, der rezipierte Muster weitergibt und durch den Rezeption überhaupt stattfindet.” (S. 24) In diesem Sinne fragen die Autoren des Sammelbandes nach der Bedeutung von populärer Kultur für die Politik, und nach der spezifischen Politik der populären Kultur.

Manche Beiträge zeigen das Potential dieses Ansatzes schön auf, so zum Beispiel der Aufsatz von Anna von der Goltz zur Entstehung und Bedeutung des Hindenburg-Mythos. Sie weist zu Recht auf einen blinden Fleck von Wolfram Pytas Monumentalbiographie hin:2 Während dieser sich ausgiebig mit Hindenburgs Nutzung des eigenen Mythos als Machtinstrument beschäftigt, blendet er aus, dass Mythen qua definitione erst unter Mitwirkung des Publikums entstehen können. Es ist das Medienereignis der Schlacht von Tannenberg, das der deutschen Zeitungsleserschaft das Deutungsmuster des nervenstarken, beherrschten und kühlen Feldherren anbietet, welches das Hindenburg-Bild anschließend für Jahrzehnte prägt. In dieser spezifischen Krisensituation findet dieses Deutungsangebot begeisterten Zuspruch: Hunderte von Privatleuten schreiben eigene Hindenburg-Gedichte oder -Lieder; das Bild des Generals ziert kommerziellen Kitsch und deutsche Wohnzimmer; tausende Hindenburg-Zinnsoldaten werden als Kinderspielzeug vertrieben; das Benageln der monumentalen hölzernen Hindenburg-Statue in Berlin ermöglicht die symbolische Teilhabe am Krieg. Der alte General wird dadurch zum nationalen Besitztum; und von der Goltz zeigt überzeugend, wie der Hindenburg-Mythos durch die ihm eigene Dynamik bis 1917 das Kaiser-Bild – und damit auch die Macht des Monarchen – in der deutschen Öffentlichkeit unterwandert hat.

Wirkungsmächtig, multidirektional, und wahrhaft populär – so schön wie der Hindenburg-Mythos passen sich die anderen behandelten Phänomene nicht immer in das Konzept der Transfigurationen ein. Aber auch hier findet sich einiges Lesenswertes. Hannah Ahlheim zum Beispiel untersucht antisemitische Weihnachtsboykotte zwischen 1927 und 1934, und zeigt, dass auf der lokalen Ebene durch solche Propagandaaktionen die Begriffe von „jüdischen” und „christlichen” bzw. „deutschen” Geschäften erst anschaulich wurden und damit eine soziale Wirklichkeit bekamen. Wenke Nitz beschäftigt sich mit der Reglementierung von nationalen politischen Symbolen in der NS-Diktatur, und weist auf die begrenzte Steuerbarkeit dieses „nationalen Kitschs” hin. Patrick Merziger analysiert den kurzlebigen Erfolg der „Volkskomödie” zwischen 1929 und 1936. Er interpretiert diesen Erfolg als Folge eines „Eigensinns” von Theaterschaffenden und deutschem Theaterpublikum und zeigt, dass die Kontrollmechanismen, die ab 1935 auch auf eine Förderung dieser „Volksgemeinschaft”-affinen Unterhaltungsgattung abzielten, letztlich zum nicht-intendierten Ableben der Volkskomödien führten.

Bei diesen Beiträgen drängt sich der Eindruck auf, dass der Nationalsozialismus auf Grund seines spezifischen politischen Selbstverständnisses eine besonders reichhaltige Fundgrube für das Phänomen der Transfiguration darstellt. Kann man den Herausgebern also einen ‘selection bias’ vorwerfen? Nicht wirklich. Als „widerständig” ragt Klaus Nathaus Analyse der deutschen Gesangs- und Turnvereine in der Weimarer Republik heraus. Entgegen der Nipperdeyschen Tradition, deutsche Vereine als politische Sozialisationsagenturen zu verstehen, stellt Nathaus diese als „politikfernes, populärkulturelles Treiben” (S. 83) dar. Diese wurden in den 1920er-Jahren erst durch den Interessenskonflikt zwischen Dachverbänden und Vereinen politisiert: Erstere wollten durch die Inszenierung von „Gemeinnützigkeit” an öffentliche Fördermittel; letztere interessierten sich primär für Wettkämpfe und Geselligkeit, und stellten mit ihrer Bevorzugung von „trivialer Unterhaltung” (S. 75) die Förderungswürdigkeit der Dachverbände in Frage. Die jeweiligen verbandspolitischen Grabenkämpfe sollten jedoch nicht vom eigentlichen Befund ablenken, dass die jeweiligen Vereinsaktivitäten in ihrem Kern „politikfern, weil ausschließlich auf zweckfreies Vergnügen gerichtet” (S. 83) waren. Deshalb stimmt Nathaus der Vorstellung der „Macht des Populären” auch nicht wirklich zu: „Anstatt dass Populärkultur politische Handlungsnormen reflektiert oder vermittelt, erfüllt sie zunächst einmal fernab von Politik eine sozialintegrative Funktion.” (S. 84) Die Frage nach dem politischen Effekt des Populären ließe sich nicht generell beantworten, so Nathaus.

Man muss es den Herausgebern hoch anrechnen, dass sie auch diesen Beitrag aufgenommen haben. Und natürlich hat der geneigte Leser auch Verständnis dafür, dass sie in ihrer Zusammenfassung des Beitrags besonders auf die politische Funktion von politikfernen Bereichen zur Stabilisierung einer Gesellschaft abheben. Allerdings wird nicht jeder Leser davon überzeugt sein, dass bei fehlender Politisierung der Nathauschen Freizeitvereine die deutsche Gesellschaft der frühen 1930er-Jahre tatsächlich wesentlich stabiler gewesen wäre. Aber während der Beitrag von Nathaus zumindest eine fundierte Auseinandersetzung mit den Prämissen der Herausgeber darstellt, ist die Aufnahme des Beitrages von Urs Urban weniger schlüssig: Seine Analyse des französischen Schriftstellers Jean Genet ist eine klassische Diskursanalyse, die sich weder mit einem populären Genre beschäftigt, noch wirklich für Rezipienten interessiert. Er behauptet zwar, dass Genets Homosexualität und sein Antisemitismus, einer breiten Rezeption und somit einer Popularisierung von Genets Werk im Wege stand – jedoch fehlen empirische Basis und der vergleichende Blick auf die „Karriere-Faktoren“ anderer erfolgreicher oder -loser Schriftstellerkollegen. Ähnliches trifft auch auf den Beitrag von Beatrice Schuchhardt zu, die sich eines frankophonen, historischen Romans Algeriens annimmt.

Überzeugender wirkt da der Artikel von Markus Buschhaus, der sich mit Che Guevaras Weiterleben als T-Shirt-Ikone auseinander setzt. Wieder, wie bei Hindenburgs Sieg bei Tannenberg, ist es ein Medienereignis, das wesentlich den weiteren Lauf der Dinge beeinflusst: Erst der gewaltsame und visuell inszenierte Tod Ches 1967 schafft das Umfeld, in dem die Fotografie Kordas aus dem Jahr 1960 ein aufnahmebereits Publikum findet, als Pressefoto, Kunstwerk oder Protestutensil. In einer kulturwissenschaftlichen tour de force beschreibt Buschhaus sodann den Topos der Revolution als Passionsgeschichte (über Mantegnas „Der tote Christus“ und Davids „Der Tod des Marats“ zur Fotografie des toten Che in Bolivien), koppelt dies mit textilen Christusikonen wie dem Schweißtuch der Veronika und dem Turiner Grabtuch, um dann für die Existenz der Che-T-Shirts eine „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ zu konstatieren, und darin – Hans Belting lässt grüßen – den unterschwelligen Fortbestand ursprünglich religiös motivierter „Bildwünsche“ und „Bildängste“ selbst in Zeiten global-säkularer Bilderpolitik zu erkennen. Zwingend ist diese auf starken Verallgemeinerungen der jeweiligen kollektiven Rezeption basierenden Interpretation nicht: aber hoch anregend allemal.

Auch wenn so mancher Leser das Gefühl haben wird, dass nicht alles, was sich einer gezielten Steuerung entzieht, gleich als politische „Macht“ postuliert werden muss, so ist doch der Ansatz der Autoren ein sehr vielversprechender. Man möge es dem Rezensenten nachsehen, dass er zum Abschluss über die eigene „Anschlußkommunikation“ im populären Rezensionforum H-Soz-u-Kult reflektiert. Jedem Autor ist die fehlende Steuerbarkeit von Rezensionen der eigenen Werke wohl bewusst (was nicht heißt, dass es solche Steuerungsversuche nicht gäbe), und so ergibt man sich meist dem Schicksal der jeweiligen „Transfiguration“. Dieser Rezensent wurde sich beim Lesen des vorliegenden Sammelbandes bewusst, dass er die Umsetzung des theoretischen Ansatzes durch die vertretenen Historiker überzeugender fand, als die Versuche der Romanisten und Kulturwissenschaftler. Die mediale Eigendynamik eines online-Rezensionsforums schließt allerdings eine mehrfache Besprechung ein und desselben Bandes durch unterschiedliche Rezensenten aus. Der vorliegende Sammelband setzt sich leider nur partiell mit Produktionsbedingungen und medialer Eigendynamik auseinander – aber wo er es tut, weiß er zu glänzen.

Anmerkungen:
1 Patrick Merziger, Tagungsbericht Transfigurationen der Macht. Politik, Vermittlung und Popularität 15.03.2005-19.03.2005, Menaggio / Como, Italien, in: H-Soz-u-Kult, 14.09.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=863> (29.10.2010).
2 Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007.

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