In der zu besprechenden Monographie, die die Publikationsfassung seiner Habilitationsschrift darstellt, unternimmt Johannes Wienand eine weitreichende Untersuchung der athenischen Gefallenenbestattung des 5. und 4. Jahrhunderts (alle Jahresangaben v.Chr.). Diese gilt der Forschung in der idealtypischen Form des Patrios Nomos (vgl. Thuk. 2,34) als athenisches Spezifikum, das Einsichten in kulturelle Tendenzen und besonders die Identitätskonstruktion der Polis ermöglicht.1 Neben einführenden Bemerkungen zur Bewältigung des soldatischen Todes und zu griechischen Begräbnisritualen, grenzt sich Wienand in der Einleitung (S. 17–45) von einigen Forschungsparadigmen ab, insbesondere von der Studie Nicole Lorauxs2: Er mahnt eine konsequentere Trennung der literarischen von der oralen Praxis an, als diese bislang üblich ist, was er auch sprachlich umsetzt, indem er als „Gefallenenreden“ die orale Praxis im Rahmen des Gefallenenbegräbnisses bezeichnet, während er den Begriff des „Epitaphios (Logos)“ für die literarischen Beispiele verwendet (S. 30–34; S. 30, Anm. 14 zur begrifflichen Scheidung).3 Auch geht er nicht von einer früh ausgeformten, stabilen Gattung der jährlichen Gefallenenreden aus, von denen überdies unklar ist, ab wann sie überhaupt Teil des öffentlichen Begräbnisrituals waren. Die Epitaphioi Logoi bezögen sich in Aufbau und Topik zwar sicherlich auf diese oralen Gefallenenreden, seien aber anderen Produktions- und Rezeptionsumständen zuzuordnen und viele ihrer Autoren kämen nicht selbst als Redner in Frage (S. 33–40). Ziel des Buches sei es, „die kulturelle Bedeutung des athenischen Gefallenenbegräbnisses und die kommunikative Eigenlogik der literarisch konzipierten Epitaphioi Logoi in ihren je eigenen Wirkungs- und Rezeptionskontexten zu ergründen“ (S. 44), wozu die Gefallenenbestattung von der „Scheinevidenz“ (S. 45) der Epitaphioi Logoi zu befreien sei. Beides betrachtet Wienand daher in getrennten Teilen der Studie.
Im ersten Teil (Kap. 1–4) behandelt Wienand zunächst die Entwicklung der athenischen Gefallenenbestattung auf Basis der Rekonstruktion und Interpretation materieller Zeugnisse, insbesondere der Gefallenenmonumente und -listen. So zeigt er auf, dass bis in die 450er-Jahre keine Bestattungen aller rückgeführten Gefallenen der unterschiedlichen Einsatzorte eines gesamten Jahres in Athen („Jahresbestattungen“) – wie sie Thukydides beschreibt – nachzuweisen seien. Stattdessen habe es ab kleisthenischer Zeit situative, ortsgebundenere Kollektivbestattungen gegeben, die Wienand wegen der Reduktion von Statusindikatoren auf den Gefallenenlisten und der Betonung gemeinsamer Leistungen für die Polis als bewusste Form der Egalisierung versteht (S. 50–56). Die erste eindeutige Jahresbestattung datiert er erst auf 459/458, da die Liste Gefallene unterschiedlicher Einsatzorte explizit desselben Jahres gemeinsam nennt. Wegen der Kontinuität dieser Form lasse sich auf eine intentionale und wohl gesetzlich geregelte Veränderung schließen (S. 82–85). Die schrittweise Entstehung dieser Praxis führt Wienand insbesondere auf die „Erinnerungskonkurrenz“ (S. 86) der Zeit Kimons zurück: es gehe vor allem um Verhinderung der Selbstdarstellung von Strategen durch eine exklusive Bestattung der Gefallenen ihrer (erfolgreichen) Feldzüge.4 Bemerkenswert erscheint im Ergebnis auch die Abtrennung der monumentalen Ehrung von der Sieghaftigkeit. Die Jahresbestattungen im Kerameikos zeugten nun von der Einigkeit des Demos nach innen und dem in seinem Einsatz ausgedrückten Anspruch auf Archē nach außen, was sie nach Wienand zu einem „imperialen Ritual“ (S. 88) machte (S. 85–89).
Für die Zeit bis 404 zeigt Wienand anhand des epigraphischen Materials auf, dass trotz einiger Stabilität des Rituals nicht von Gleichförmigkeit auszugehen ist. Neben gelegentlichen (Mit-)Bestattungen von Bundesgenossen, gab es demnach in Krisenmomenten beispielsweise wiederholt situativ durchgeführte Bestattungen, Betonung von Sieghaftigkeit oder Hervorhebungen bestimmter Zensusklassen. Die thukydideische Beschreibung einer homogenen Bestattungspraxis nivelliere also derartige Tendenzen (S. 102–118). Im Zuge des Peloponnesischen Krieges konstatiert Wienand eine weitere Erosion der Gleichheitsinszenierungen, was er etwa anhand der zunehmenden Menge von Rangbezeichnungen auf den Gefallenenlisten plausibel macht (S. 118–129). Für das 4. Jahrhundert folgert er dann einen Abbruch der Jahresbestattungen. Die in der Communis Opinio angenommene Kontinuität dieser Form sei zuletzt der Fehleinschätzung der Epitaphioi Logoi aus dem 4. Jahrhunderts anzulasten, die wegen ihres literarischen Charakters einen solchen Schluss entgegen dem Mangel an materiellen Zeugnissen eben nicht zuließen (S. 131–134). Zwar ließe sich nach Ende der spartanischen Hegemonie im Korinthischen Krieg 394 anscheinend ein Versuch der Wiederaufnahme von Jahresbestattungen feststellen, doch setzten sich danach schnell wieder situativere und weniger egalitäre Formen von Kollektivbestattungen durch (S. 131–152).
Wienand gelingt es im ersten Teil, sich von der Vorstellung eines monolithischen Rituals zu lösen und der Rekonstruktion und Interpretation von Entwicklungen und Brüchen Raum zu geben, die von einer tiefen Durchdringung des Materials zeugen. Durch einen Katalog epigraphischer Hauptquellen mit Erläuterungen sowie ausführlichen Literaturhinweisen wird der Zugang zu detaillierten Diskussionen um einzelne Inschriften(-fragmente) zusätzlich erleichtert (S. 326–360).5 Gelegentlich hätte vielleicht eine noch abgewogenere Diskussion von Deutungsmöglichkeiten stattfinden können: Beispielsweise dient das Monument für die bei Tanagra gefallenen Argiver als Paradebeispiel für die gesonderte Bestattung von Verbündeten (S. 104–107). Sicherlich spricht es für eine ostentative Ehrung besonderer Verbündeter durch die Athener. Wienands weiterer Schluss, es belege die Wahrnehmung des Kerameikos als „zentrale[n] ideologische[n] Bezugspunkt des Seebundes“ und erweise die Gefallenenbestattung als Ausdruck des athenischen Anspruchs auf Archē (S. 106), ist m.E. angesichts der Beziehung beider Poleis jedoch nicht so eindeutig zu ziehen.6 Ähnliches ließe sich gelegentlich zu anderen Interpretation anmerken, doch schränkt dies die übergeordnete Plausibilität der aufgezeigten Entwicklungen der athenischen Gefallenenbestattung nicht ein.
Mit dem zweiten Teil (Kap. 5–8) wendet sich Wienand explizit den Epitaphioi Logoi zu. Diese behandelt er seiner Einleitung entsprechend als genuin literarisch konzipierte politische Diskursbeiträge. So deutet er den Epitaphios des Perikles im thukydideischen Werk (Thuk. 2,35–46) und den fragmentarisch erhaltenen Epitaphios des Gorgias von Leontinoi (datiert auf 427–413) als kritische Kommentare zur Machtpolitik Athens. Im Falle des Gorgias kann er in einer Analyse bis auf einzelne Metaphern hin eine Problematisierung des athenischen Vorgehens nachzeichnen. Gorgias erschloss damit Wienand zufolge die Form des Epitaphios Logos als literarische Adaption der Gefallenenreden für den politischen Diskurs einer intellektuellen Elite (S. 169–195). Den Epitaphios des Perikles im Werk des Thukydides interpretiert Wienand als komplexere Adaption des durch Gorgias erschlossenen Vorgehens. Thukydides setze zusammen mit der Schilderung des Rituals einen literarischen Kontrast zur folgenden Pestschilderung innerhalb des Werks sowie gegenüber dem Zustand des Rituals im Rezeptionskontext der Nachkriegszeit. So werde eine kritische Perspektive auf die perikleische Kriegspolitik und ihr Resultat eröffnet (S. 155–169).
Am lysianischen Epitaphios hebt Wienand besonders die Thematisierung der Leistung von Nichtathenern hervor. Im Rahmen dieser spezifisch athenischen Form werde auf diese Leistungen im Bürgerkrieg von 403 und ihre mangelnde Anerkennung durch die Polis verwiesen (S. 197–212). Wienand zeigt auf, dass in den 390er-Jahren wohl ein literarischer Epitaphios des Archinos kursierte (der wahrscheinlich tatsächlich eine Gefallenenrede hielt) und verleiht seiner Deutung weitere Kontur: Da Archinos 403 die Verleihung des Bürgerrechts an Nichtathener verhindert hatte, habe Lysias (selbst davon betroffen) dies womöglich zum Anlass genommen, die Thematik in Form eines Epitaphios zu behandeln (S. 212–223). Platons Menexenos und Isokrates’ Panegyrikos wiederum sieht Wienand als Kritik am wiedererstarkenden athenischen Machtstreben der 390er-Jahre. So sei die im Menexenos von Sokrates vorgetragene Gefallenenrede eine komplexe, dekonstruierende Brechung der oralen Praxis, die einen kritischen Blick auf normative Erinnerung und die Artikulation soldatischer Arete ermögliche (S. 224–238). Isokrates nutze indes die Einfügung des athenischen Tatenkatalogs in die fiktive Rede auf einer panhellenischen Festveranstaltung, um darin enthaltene Ideologeme auf gesamtgriechischer Ebene auszuleuchten. Auf diese Ebene gewendet idealisiere er so ein gemeinsames Vorgehen gegen die Perser gegenüber innergriechischen Konflikten (S. 238–258).
Zuletzt interpretiert Wienand die Epitaphioi Logoi des Demosthenes (als authentisch demosthenisch eingeschätzt) und des Hypereides als Versuche, politische Perspektiven in einer durch den makedonischen Faktor geprägten Realität zu gewinnen. Beides sind Texte von Autoren, die selbst tatsächlich Gefallenenreden gehalten haben, weshalb Wienand ihnen einen direkteren Bezug zur rhetorischen Praxis zuerkennt. Bei Demosthenes gehe es nach der Niederlage von Chaironeia darum, Einigkeit und Stabilität auch unter makedonischer Hegemonie als möglich und ideal aufzuzeigen. Hierfür bediene sich Demosthenes in einer für ihn schwierigen politischen Lage der literarischen Form des Epitaphios (S. 264–286). Der Epitaphios des Hypereides zeige mit der bis ins Sakrale gesteigerten Überhöhung der Stadt, der Soldaten und bemerkenswerterweise des Feldherrn Leosthenes eine neuartige Auffassung vom soldatischen Tod als preiswürdige Selbstaufopferung im Kampf um die Freiheit (gegen Makedonien) (S. 287–299).
Mit den Interpretationen des zweiten Teils seiner Studie ist Wienand in der Lage den Blick auf die Epitaphienliteratur als Genre zu schärfen und einige bemerkenswerte Interpretationen zu Details, Datierungen und intertextuellen Bezügen vorzulegen. Zwar sind die Interpretationen stark auf den Nachweis einer politischen Zielrichtung abgestimmt, was gemeinsam mit der dualen Anlage der Kapitel gelegentlich suggestiv wirken kann.7 Jedoch gelingt es Wienand deutlich herauszuarbeiten, dass sich mit der bewussten literarischen Bezugnahme auf die orale Praxis der Gefallenenreden – gerade wegen ihrer Verbindung zum athenischen Gefallenenbegräbnis mitsamt dessen sinn- und identitätsstiftender Aufladung – spezifische Möglichkeiten zu politischer Kommentierung ergaben. Diese wurden von prominenten Autoren für ein gebildetes Publikum bewusst aufgegriffen und – in Wechselwirkung miteinander und anderen literarischen Traditionen – genutzt.
Wienands Studie ermöglicht mit ihren Ergebnissen, die in einer Bilanz (S. 301–315) verdichtet werden, einen geschärften Blick sowohl auf das athenische Gefallenengedenken als auch auf die literarische Gattung der Epitaphioi Logoi. Indem beides voneinander getrennt wird, kann Wienand einerseits neue Perspektiven auf die Entwicklung des Gefallenengedenkens gewinnen. Andererseits kann er die Epitaphioi Logoi als Schriften des politischen Diskurses zeigen, die gerade aus ihrem Bezug auf das Gefallenengedenken und in Auseinandersetzung mit ihm besondere Bedeutung gewinnen. Mit der umfassenden Erschließung und Aufbereitung des Materials und den Ergebnissen beider Teile der Studie kann Wienands Buch zukünftig einen neuen Zugang zu den behandelten Themen und zahlreichen zugehörigen Detailfragen bieten.
Anmerkungen:
1 Zum Forschungsstand vgl. Cornelius Stöhr, Schöner Sterben. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis in klassischer und hellenistischer Zeit, Darmstadt 2020, S. 13–15.
2 Nicole Loraux, The Invention of Athens. The Funeral Oration in the Classical City. Translated by Alan Sheridan, New York 2006 (Franz. 1981); s. dazu auch David M. Pritchard, The Funeral Oration after Loraux, in: Ders. (Hrsg.), The Athenian Funeral Oration. After Nicole Loraux, Cambridge [u.a.] 2024, S. 1–55 sowie den Sammelband insgesamt.
3 Exemplarisch ohne eine solche Trennung: Julia L. Shear, ‘Their Memories Will Never Grow Old’: The Politics of Remembrance in the Athenian Funeral Orations, in: Classical Quarterly 63/2 (2013), S. 511–536.
4 Die Bestattung Gefallener unterschiedlicher Schlachtorte im Jahr 464 deutet Wienand hingegen als situative Vorstufe, die Kimon eine solche Möglichkeit zur Selbstdarstellung verwehrte (S. 73–82); paradoxerweise bedeutet dies, dass eine in der Form als egalitär anzusehende Kollektivbestattung sich dennoch zur aristokratischen Selbstdarstellung instrumentalisieren ließ.
5 Ebenso hilfreich sind die 40 Abbildungen von Inschriftenfragmenten und weiteren archäologischen Zeugnissen (S. 433–469), ein topographischer Plan (S. 470f.), eine chronologische Übersicht (S. 472f.) sowie die umfassenden Quellenangaben (S. 321–325), Literaturangaben (S. 361–395) und Indices (397–429).
6 V.a. müsste m.E. diskutiert werden, ob Argos zeitgenössisch in dieser Form als Teil des Seebunds mitsamt der Konnotation von Untertänigkeit wahrgenommen wurde oder sich selbst wahrnahm und welche politischen Ziele sich mit dem Bündnis für Argos verknüpften; zum Gesamtkomplex s. Thuk. 1,102 u. 107f.; 5,44,1; innerathenische Aufmerksamkeit für das Bündnis legt bekanntermaßen Aischyl. Eum. 289–291; 667–673; 762–774 nahe; vgl. des Weiteren die breitere Diskussion bei Stöhr, Schöner Sterben [wie Anm. 1], S. 210–218; zum Monument s. Paus. 1,29,8f.; Nikolaos Papazarkadas / Dimitris Sourlas, The Funerary Monument for the Argives Who Fell at Tanagra. A New Fragment, in: Hesperia 81 (2012), S. 585–617.
7 Neben der je dualen Anlage spricht sich dies auch in den Kapitelbenennungen des zweiten Teils aus; exemplarisch Kapitel 8: „Demosthenes und Hypereides. Sterben für die Freiheit?“.