Nach den Fußgängerzonen als innerstädtischen Verweillandschaften und der Verwandlung des Stadtraumes in „Verkehrserwartungsland“ widmet sich Ulrich Brinkmann im finalen dritten Band seiner groß angelegten Untersuchung urbaner Räume nun der „Siedlung als Element des Städtebaus“.1 Auch in diesem Buch erschließt er sich und seinen Leser:innen die deutsch-deutsche Stadtplanungsgeschichte über Ansichtskarten, die meist zeitgleich mit den auf ihnen abgebildeten Großwohnsiedlungen entstanden sind. Brinkmann betont, die Postkarten-Bilder könnten sehr wohl als „repräsentativ“ für die Wahrnehmung der Siedlungen verstanden werden, „ohne dass sie von der jeweiligen Wohnungsgesellschaft oder dem Bauträger, dem Stadtplanungsamt oder einem Planungsbüro in Auftrag gegeben worden wären“ (S. 8). Denn Ansichtskarten werden nur produziert, wenn man annehmen kann, dass sie sich auch verkaufen. Bei seiner visuellen Analyse des Siedlungsbaus von der doppelten Staatsgründung bis zur Wiedervereinigung geht es Brinkmann, seit 2000 Redakteur der „Bauwelt“, allerdings weniger um die jeweilige „Sprache der Gebäude“ innerhalb der Großwohnsiedlungen.2 So interessiert er sich nicht explizit für die Gestaltung der Fassaden, Laibungen, Kragarme, Freisitze, Treppenanlagen, Türelemente oder Hüllflächen, sondern fokussiert auf die Spezifika der Orte, ihre jeweiligen Qualitäten, die sich aus heutiger Sicht oftmals nur noch schwer erschließen würden. Bei vielen Großwohnsiedlungen sei bisweilen nicht einmal klar, ob es „überhaupt Orte“ seien, und falls nicht, was ihnen fehle, um zu solchen zu werden (S. 9).
Am Anfang wie auch am Ende des Bandes stehen mit Eisenhüttenstadt und Wolfsburg sowie Halle-Neustadt und Berlin-Gropiusstadt/Berlin-Märkisches Viertel exemplarische Vertiefungen zu einzelnen, bereits recht breit erforschten Großwohnsiedlungen – und dies jeweils mit gutem Grund: Eisenhüttenstadt, das vormalige „Stalinstadt“ (1953–1961), „reüssierte“ Brinkmann zufolge rasch als Postkartenmotiv, galt die Stadt doch als „die erste sozialistische Stadt auf deutschem Boden“, was gerade die Bauten des zweiten Wohnkomplexes verdeutlichen würden, die die Neusiedlung zu einem vorzüglichen „Propaganda-Objekt“ werden ließen (S. 11). Wolfsburg dagegen fasst der Autor infolge des steten baulichen Wandels gerade der immer wieder neu geplanten Viertel und Großsiedlungen als „eine Art Freilichtmuseum der westlichen Nachkriegsmoderne“ (S. 29). Anhand von Halle-Neustadt verdeutlicht Brinkmann schließlich den Übergang vom lange Zeit dominierenden städtebaulichen Leitbild der gegliederten und aufgelockerten Stadt hin zum Ideal „Urbanität durch Dichte“. Seine Postkartensammlung wird dabei zu einem veritablen Archiv, hält er doch fest, dass das einstige „Gesamtkunstwerk des DDR-Städtebaus“ lediglich als „Fragment überdauert“ habe (S. 201). Zu sehr hätten „Achtlosigkeit, mehr noch Unsicherheit“ im Umgang mit dem baulichen DDR-Erbe der Siedlung das genommen, was sie einstmals – mit Blick auf das rein Bauliche – ausgezeichnet habe: „die Plastizität der Fassaden, also das Wechselspiel von Flächen und Kleinräumen, die Ästhetik des Materials und der industriellen Fertigung“, die „an den sanierten Gebäuden nicht mehr existent“ seien (S. 204). Die Gropiusstadt in West-Berlin wie auch das Märkische Viertel wiederum seien als Reaktion auf die fehlende „Urbanität, Lebendigkeit, Abwechslung und größere Vielfalt“ anderer westdeutscher Trabantenstädte geplant worden. Brinkmann deutet sie trotz aller stadtplanerischen Raffinesse als architektonische „Sackgasse“, manifestiere sich in ihnen doch die fehlerhafte Grundannahme, dass „Urbanität […] nur eine Frage von Quantitäten“ sei (S. 219).
Zwischen diesen Vertiefungen erschließt Brinkmann klar und präzise die standardisierten Kernelemente des Siedlungsbaus, die in Ost und West auf verblüffend ähnliche Art und Weise umgesetzt worden seien, wobei es in der DDR nach einer anfänglichen Vielzahl kreativer Umsetzungen aufgrund der ökonomischen Notwendigkeiten weit schneller zu einer Konformität im Bauen gekommen sei. So bemerkt Brinkmann nüchtern, „die Architektur der Nachkriegsmoderne“ wirke auf den Ansichtspostkarten „im Lauf der Sechzigerjahre […] zunehmend auserzählt“ (S. 130). Unabhängig davon kann Brinkmann aber auch für die Bundesrepublik dieser Zeit „einen auffälligen Verfall der Gestaltqualität“ konstatieren; zu eintönig wirkten die an den bundesrepublikanischen Stadträndern omnipräsenten standardisierten Gebäudetypen der Großwohnsiedlungen (S. 129). Sei es die Universallösung für den Wohnungsbau – die unterschiedlichen Ausprägungen des Zeilenbaus –, seien es die Scheiben- oder Punkthochhäuser, die obligatorischen Versorgungszentren, Schul- und Kindergartenbauten, Spiel- oder Parkplätze: Brinkmann versteht es vorzüglich, über das Medium der Postkarte die deutsch-deutsche Stadtgeschichte neu zu erzählen, und liefert einmal mehr eine Schule des Sehens.
Das Besondere der auf den Ansichtskarten gezeigten urbanen Stadterweiterungen bringt der Autor dabei prägnant auf den Punkt: „Das Erstaunliche daran ist, dass es sozusagen auf doppelte Weise Unorte sind, die hier abgelichtet wurden: Indem sie zunächst vollkommen unspezifisch wirken, weder auf Topografie noch auf regionale Bautraditionen Bezug zu nehmen scheinen, sind es Bilder eines Aufbruchs, eines Blicks nach vorn, und Dokumente des Wunsches nach gleichartigen Lebensverhältnissen im ganzen Land. Heute aber sind diese Aufnahmen auch Zeugen einer längst vergangenen Welt, da die auf ihnen abgebildeten Häuser vielfach entweder längst abgerissen oder durch Sanierung weitgehend überformt sind.“ (S. 89) Eben jene Ambivalenz zwischen einstmals mit den Großwohnquartieren verknüpften Idealen der Modernität und Fortschrittlichkeit sowie heutigen Wahrnehmungen, die diesen Idealen diametral gegenüberstehen, hat 2015 auch Karen Beckmann in ihrer Arbeit zu den Großwohnkomplexen der 1970er-Jahre herausgearbeitet.3
An ihre Grenzen stößt diese Schule des Sehens indes, wenn es um die konkrete Lebenswirklichkeit der Neubauquartiere geht. So betont auch Brinkmann wiederholt, was zumeist eine Leerstelle auf den Postkarten bleibt: die Bewohner:innen. Nur selten verirren sie sich ins Bild, am ehesten noch sind es spielende Kinder. Der öffentliche Raum erscheint als gähnende Leere. Zeigte Brinkmanns erster Band noch Passant:innen in der Fußgängerzone, waren Fußgänger:innen auf den im zweiten Band präsentierten Postkarten der „autogerechten Stadt“ bereits mehr als rar. Der dritte Band vermag nun eine Grundproblematik der Großwohnsiedlungen ganz deutlich vor Augen zu führen: Wohn- und Stadtraum musste nicht zwangsläufig auch als Lebensraum wahrgenommen werden. Dass sich einige der Großwohnsiedlungen bereits in den 1970er-Jahren zu „urbanen Problemzonen“ entwickelten4, zeigt sich auf den Ansichtskarten naturgemäß nicht. Brinkmann benennt zwar den schlechten Ruf, den nicht wenige der Quartiere über die Jahrzehnte erlangten, doch spürt er den Ursachen nicht weiter nach – dafür bedürfte es auch anderer Quellenbestände.
Umso mehr beeindruckt, was der Autor dank seiner genauen Bildanalysen und begleitenden Recherchen über die Orte in Erfahrung bringt. Für Wolfsburg-Westhagen erkennt er beispielsweise gegenüber dem knapp ein Jahrzehnt zuvor gebauten Wolfsburg-Detmerode eine weit höhere „Urbanität durch Dichte“, wobei jedoch das „einzelne Gebäude in der Großform unter[gehe], was das Gefühl von Anonymität“ steigere: „Die relativ bewegte Baumasse, der Einsatz von Farbe, die flachen Baukörper der öffentlichen Gebäude Einkaufszentrum, Schule und Kirche dazwischen – auf der Postkarte ist das gesamte Arsenal der Gestaltung von Westhagen (und der bundesrepublikanischen Großsiedlungsarchitektur jener Jahre im Ganzen) versammelt; doch will sich ein Bild dieses Ortes nicht so recht einstellen – zu beliebig wirkt der Einsatz der Mittel, als dass ein identifizierbarer Raum entstehen könnte […].“ (S. 34) Tatsächlich kippte die öffentliche Wahrnehmung des Quartiers, mit dem gegenüber dem benachbarten Detmerode doch bewusst andere Akzente gesetzt werden sollten, schon wenige Jahre nach Baubeginn: Die „Wolfsburger Allgemeine Zeitung“ fragte im April 1975, ob das Leben in Westhagen eine „Zumutung“ sei; auf dem Ortsschild wurde aus Westhagen kurzerhand „Unbehagen“.5 Was Brinkmann anhand seiner famosen Bildauswahl nicht zu zeigen vermag, weiß er dafür umso prononcierter zu benennen: 2018 habe in Westhagen „der Abbruch der großmaßstäblichen Bebauung“ begonnen (S. 35).
Mit seinem dritten Band ist es Ulrich Brinkmann erneut auf beeindruckende Weise gelungen, städtebauliche Parallelen des Social Engineering innerhalb der deutsch-deutschen Stadtgeschichte aufzuzeigen, die weit über das hinausgehen, was auf den Ansichtskarten abgebildet ist. Eine genauere Produktions-, Distributions- und Verwendungsgeschichte deutsch-deutscher Postkarten bleibt allerdings in künftigen Forschungen noch zu leisten.
Anmerkungen:
1 Für die Vorgängerbände siehe Alexander Kraus, Rezension zu Ulrich Brinkmann, Achtung vor dem Blumenkübel! Die Fußgängerzone als Element des Städtebaus. Ansichtspostkarten in Ost- und Westdeutschland 1949 bis 1989, Berlin 2020, und zu Ulrich Brinkmann, Vorsicht auf dem Wendehammer! Die Straße als Element des Städtebaus. Ansichtspostkarten in der DDR und Bundesrepublik 1949 bis 1989, Berlin 2023, in: H-Soz-Kult, 07.08.2023, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-131048 (10.06.2024).
2 Andreas Müsseler / Khaled Mostafa, Tafelwerk Großwohnsiedlung. Ein Phänomen der Nachkriegszeit, hrsg. von Andreas Hild, Berlin 2022, S. 33.
3 Karen Beckmann, Urbanität durch Dichte? Geschichte und Gegenwart der Großwohnkomplexe der 1970er Jahre, Bielefeld 2015; rezensiert von Christiane Reinecke, in: H-Soz-Kult, 09.02.2016, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-22785 (10.06.2024).
4 Christiane Reinecke, Die Ungleichheit der Städte. Urbane Problemzonen im postkolonialen Frankreich und der Bundesrepublik, Göttingen 2021; rezensiert von Daniel Hadwiger, in: H-Soz-Kult, 15.10.2021, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-94817 (10.06.2024).
5 Siehe dazu Pia Kleine / Alexander Kraus, Schöner Wohnen in Westhagen? Eine Ausstellung zu Erfahrungsgeschichten einer Großwohnsiedlung, in: Stadtgeschichten. Ein Blog der Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung (GSU), 23.05.2024, https://doi.org/10.58079/11pnj (10.06.2024).