S. Braunschweig: Arbeiten und Leben im Basler Blindenheim

Cover
Titel
Arbeiten und Leben im Basler Blindenheim.


Autor(en)
Braunschweig, Sabine
Reihe
Neujahrsblatt der Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige, Basel GGG 202
Erschienen
Basel 2023: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
148 S.
Preis
CHF 32.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Elisabeth Joris, Zürich

Sabine Braunschweig hat die Broschüre zur Geschichte des Basler Blindenheims zum 125-jährigen Jubiläum der Institution im Auftrag der Stiftung und der Betreiberunternehmung geschrieben. Der in Brailleschrift zu ertastende Titel auf der Vorderseite sowie die gleichzeitige Ausgabe als Hörbuch machen deutlich, dass die Broschüre auch auf blinde beziehungsweise sehbehinderte Menschen ausgerichtet ist und nicht primär auf Leser:innen aus dem akademischen Umfeld. Trotzdem entsprechen Fragestellung, Aufbau, Kontextualisierung und genaue Quellenangaben den Ansprüchen einer wissenschaftlich fundierten Untersuchung gemeinnütziger Institutionen, sodass das Buch das Feld der Disability Studies um einen bisher vernachlässigten Zweig erweitert.

Als freischaffende Historikerin mit Fokus auf den Gesundheitsbereich verfügt Sabine Braunschweig über ein breites Wissen bezüglich der Entwicklungen im Bereich der Pflege, das sich nicht auf die Schweiz beschränkt. Mit der Untersuchung zum Basler Blindenheim weitet sie ihr Forschungsinteresse auf die Geschichte der Behinderung aus, die sich vor Jahren als Disability Studies an den Universitäten etabliert hat und eng mit der Behindertenbewegung verbunden ist.1 Während zur Gehörlosigkeit wegen der zunehmenden Verbreitung der Gebärdensprache bereits wichtige historische Arbeit geleistet wurde, ist die Sehbehinderung noch kaum erforscht.2

Einleitend verweist die Autorin auf die Definition von „Blindheit“, die verschiedene Formen, Grade und Ursachen von Sehbehinderung umfasst. Wie sich im Laufe der Zeit „Begriffe und Bezeichnungen“ (S. 13) verändern, so Braunschweig, so verändern sich auch die Formen und Konzepte der Unterstützung blinder Menschen vom 19. Jahrhundert bis heute je nach sozialpolitischem Kontext: von der Einrichtung spezifischer Werkstätten über die Einführung der Invalidenversicherung bis zu neuen Wohnformen. Mit den eingefügten Porträts von Bewohner:innen, Leitungsverantwortlichen, Angestellten und weiteren Direktbetroffenen des Basler Blindenheims sowie von Exponenten der städtischen Elite und der Verbände vermittelt die Autorin ein lebendiges Bild alltäglicher Praktiken und Probleme einer solchen gemeinnützigen Institution. Vorzüglich gelingt der Autorin die Verschränkung von gesellschaftspolitischen Entwicklungen mit der Geschichte des Blindenheims insbesondere im ersten Teil, die jüngsten Entwicklungen sind jedoch etwas kurz geraten.

Teil 1 behandelt die Blindenbetreuung vom 19. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert. Den Gründungen von Institutionen im Frankreich des ausgehenden Ancien Régimes folgten um 1800 Einrichtungen in Wien und Berlin, 1809 in Zürich, 1837 in Bern und 1843 in Lausanne. Diese ersten „Blindenasyle“ in der Schweiz waren als Erziehungsanstalten konzipiert, mit dem Ziel „blinde Menschen als nützliche Personen in die Gesellschaft zu integrieren“ (S. 17). Parallel dazu erfolgte auf Initiative gemeinnütziger Vereine und von Philanthropen der Ausbau der Blindenfürsorge. So auch in Basel, wo die Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige (GGG) dank zweier Legate 1898 ein Blindenheim für Männer eröffnete, „‚wo sie tagsüber einer nützlichen Beschäftigung sich widmen und dadurch Verdienst finden könnten‘“ (S. 23). Das Projekt passte zum fürsorgerischen Konzept der eng mit der liberal-konservativen Basler Elite und der christlichen Missionsbewegung verbundenen GGG. Während männliche Repräsentanten dieser Elite im Initiativkomitee und in der Kommission des Blindheims sassen, lag dessen praktische Leitung in den Händen eines in der Christentumsgesellschaft verankerten Ehepaars: Der „Hausvater“ war für die Werkstätten, die Administration und die Leitung nach aussen verantwortlich, die „Hausmutter“ für den hauswirtschaftlichen Bereich. Im Tagesheim arbeiteten die Sehbehinderten in den Bereichen Bürstenmacherei, Sessel- und Korbflechterei. 1904 wurde die Anstalt um ein Blindenheim für Frauen erweitert, die auf Wunsch im Heim auch wohnen konnten. Die Leiterin unterstand dem Leiter des Blindenwohnheims der Männer und musste unverheiratet sein. Die sehbehinderten Frauen stellten zusätzlich noch Socken und Putztücher her, ihre Löhne waren jedoch bedeutend niedriger als die der Männer. Zudem blieb die Möglichkeit, die Produkte hausierend zu vertreiben, Männern vorbehalten. So entsprach, wie Braunschweig hervorhebt, die gesamte Struktur auf der Ebene der Organisation und der alltäglichen Praktiken den geschlechterhierarchischen Vorstellungen der damaligen Zeit und sollte sich bis in die Nachkriegszeit kaum wandeln.

Als wertvoll erweist sich die Auswertung der spezifischen Unterrichtsmaterialien für die Fortbildung im Heim, der Unterlagen zu den sehbehinderten Frauen und Männern sowie die Verbindung zwischen Heim und den sich etablierenden Verbands- und Fürsorgeinstitutionen. Damit bettet Braunschweig das Basler Heim in den Kontext der gesamtschweizerischen Entwicklung des Fürsorgewesens und der Hilfswerke sowie der Selbsthilfe von Behinderten ein.

Teil 2 behandelt die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Kennzeichnend für das Blindenheim war in dieser Epoche vor allem der Übergang vom Hauselternmodell zur Professionalisierung der Leitung und der Ausweitung des Personalbestandes. Entscheidende Veränderungen passierten nach Braunschweig zwischen zwei Meilensteinen: der Einführung der Invalidenversicherung in der Schweiz 1960 einerseits und der Proklamation von 1981 als UNO-Jahr der Behinderten anderseits. Im Kontext der Hochkonjunktur richtete sich unter dem Schlagwort „Eingliederung vor Rente“ der Fokus „auf die Förderung der Potenziale von behinderten Menschen und ihre Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt“ (S. 74). Das Spektrum der Tätigkeiten erweiterte sich im Bereich der Post-, Telefon- und Telegrafenbetriebe sowie um das Klavierstimmen. In Europa etablierte sich das Konzept der sozialen Rehabilitation, das in den 1960er-Jahren auch in Basel zur Angliederung eines Rehabilitationszentrums ans Blindenheim führte, jedoch bald der Blindenfürsorge übertragen wurde. Integration war ein transnationales Konzept, das die Einführung des Weissen Stocks ebenso wie die Schulung im Umgang mit Blindenführhunden vorantrieb.

Mit dem Neubau, der die beiden abgebauten Liegenschaften in Basel ersetzte, weiteten sich die Funktionen des Blindenheims unter anderem auf „Einrichtungen für sportliche, kulturelle und gesellschaftliche Betätigungen“ (S. 88) aus, zusätzlich wurde Wohnraum für Blinde im Rentenalter sowie Wohnungen für eigenständiges Haushalten angeboten. Die spezifischen Aufgabenbereiche wurden auf einzelne angestellte Personen verteilt, die später interimistisch als gemischtgeschlechtliche Viererleitung fungierten bis schliesslich ein Mann zum Direktor avancierte. Mit der Übernahme einer weiteren Liegenschaft mit vielen Kleinwohnungen konnte das Konzept des begleiteten Wohnens umgesetzt werden. Mitte der 1980er-Jahre wurde schliesslich das Blindenheim in eine selbständige Stiftung der GGG umgewandelt.

Die Herausforderungen im 21. Jahrhundert, Thema in Teil 3, verweisen auf die allgemeinen Veränderungsprozesse öffentlicher Institutionen im Zeichen des New Public Managements. „Der Staat wurde neu als Dienstleistungsunternehmen gesehen, der nach marktwirtschaftlichen Prinzipien funktionieren sollte“, so Braunschweigs einleitende Prämisse (S. 109). Neue Führungsstrukturen und die Prüfung von Effektivität und Effizienz der Abläufe gepaart mit Qualitätssicherung implizierten auch im Blindenheim neben grösserer Professionalität mehr Bürokratisierung. Mit dem gleichzeitigen Aufbau einer Pflegeabteilung für ältere Bewohner:innen und dem Ausbau der internen Erwerbsmöglichkeiten veränderte sich der Charakter des Blindenheims in allen Bereichen. Neue Arbeitsplätze wurden mit Ausnahme der Leitungspositionen mit blinden und sehbehinderten Menschen besetzt. Die Veränderungen zeigten sich auf der materiellen Ebene durch den erneuten Abbau und Ersatz der Gebäude durch einen Neubau entsprechend den neuen Bedürfnissen, auf der strukturellen Ebene durch die Trennung von Stiftung und Betrieb, der in eine „nicht gewinnorientierte Aktiengesellschaft“ (S. 114) überführte wurde. Die „irides AG“ versteht sich seitdem als multifunktionales Dienstleistungszentrum mit Wohn- und Pflegeheim, Tageszentrum, Werk- und Ausbildungsstätte sowie Spitex-, Betreuungs- und Beratungsdiensten. Abschliessend beschreibt Braunschweig den bevorstehenden Bezug des Neubaus aufs Jahr 2024 als letzten Meilenstein in der 125-jährigen Geschichte des Blindenheims.

Dass es im Schlusswort weitgehend einer kritischen Würdigung der Geschichte fehlt, ist dem Genre der Jubiläumsschrift geschuldet, ebenso das weitgehende Fehlen der Verknüpfung mit theoretischen Ansätzen der neueren Disability Studies. Trotz dieser kritischen Anmerkung leistet die auf einem vielschichtigen Quellenmaterial basierende Untersuchung einen wichtigen Einblick in die noch wenig erforschte Geschichte von Sehbehinderung und Blindenfürsorge.

Anmerkungen:
1 Vgl. Lisa Pfahl / Justin J. W. Powell, Subversiver Status. Disability Studies in Deutschland, Österreich und der Schweiz, in: Zeitschrift für Disability Studies 2023/2, Innsbruck, https://orbilu.uni.lu/bitstream/10993/57337/1/_PfahlPowell2023_SubversiverStatusDE-AT-CH_ZDS.pdf (26.05.2024).
2 Elsbeth Bösl / Anne Klein / Anne Waldschmidt (Hrsg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch http://www.infoclio.ch/
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