2010 setzte die britische Labour-Regierung erstmals ein „Behavorial Insights Team“ ein. Aufgabe der Gruppe war es, Strategien zu entwickeln, die das tägliche Verhalten der Brit:innen mittels subtiler „Anstösse“ in gewünschte Richtungen – etwa zum Kauf sparsamer Autos oder gesunder Nahrungsmittel – lenken sollte. Als Berater fungierte der Wirtschaftswissenschaftler (und spätere Nobelpreisträger) Richard Thaler. Das Vereinigte Königreich bewegte sich dabei durchaus im Trend: 2014 kannten über 50 Staaten Expertengremien, die sich mit dem Verhalten ihrer Bürger:innen beschäftigten. Verhaltenspolitik war Teil einer post-modernen Governance geworden, die „Regieren“ nicht länger auf klassische Staatstätigkeiten beschränkt wissen wollte.
Die zeithistorische Forschung hat sich mit dem „Paradigma des Verhaltens“, das hinter solchen Strategien steckt, bislang noch kaum beschäftigt. Neben Prozessen der Verwissenschaftlichung und des Social und Human Engineering standen bislang, auch unter dem Eindruck von Michel Foucaults Gouvernementalitätskonzept und sozialwissenschaftlicher Gegenwartsdiagnosen, eher die Vermarktlichung gesellschaftlicher Prozesse und die Geschichte neoliberaler Subjektentwürfe im Vordergrund. Rüdiger Graf, Abteilungsleiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, erweitert deshalb mit seiner Untersuchung zu Verhaltenswissen und Verhaltenspolitik die Zeitgeschichte um eine neue Perspektive. Das Buch geht der Frage nach, in welchen wissensgeschichtlichen Kontexten im 20. Jahrhundert Bezüge auf ein Handeln, das subjektiv sinnstiftend und intersubjektiv zugänglich ist, durch eine Sicht auf den Menschen ersetzt wurde, die sich an beobachtbaren Verhaltensweisen und Zustandsänderungen orientiert. Ebenso wird danach gefragt, welche Folgen die veränderte Perspektive in verschiedenen Wissens- und Politikfeldern hatte.
Begriffsgeschichtlich ist „Verhalten“ ein relativ neues Phänomen; erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts löste sich der Begriff lexikalisch von einer normativ aufgeladenen Semantik („gutes Benehmen“) und wurde – im Sinn von beobachtbaren und beeinflussbaren Lebensäusserungen – zu einer zentralen Kategorie sozialwissenschaftlicher Weltbeschreibungen (S. 40). Während die Perspektive des Handelns auf subjektive Sinngebung, Intentionen und Motive verweist, konzentriert sich das „Paradigma des Verhaltens“ auf Ursachen, die dem Individuum nicht bewusst sein müssen (S. 11). Indem die Epistemologie des Verhaltens die Vorstellung einer genuin rationalen menschlichen Subjektivität übergeht, relativiert sie zugleich die kategoriale Unterscheidung zwischen Mensch und Tier. In einer weit gefächerten – und für den Lektürefluss des Buchs insgesamt eher hinderlichen – begriffsgeschichtlichen Rekonstruktion zeichnet Rüdiger Graf zunächst die Kontexte nach, die für den Wandel und die Verbreitung des Verhaltensbegriffs massgeblich waren. Dazu gehören besonders der Behaviorismus in den Sozialwissenschaften, aber auch Entwicklungen in der Psychologie und der Ethologie (Kapitel 2).
Eigentliches Kernstück der Untersuchung sind drei Kapitel, die der „Erzeugung von Verhaltenswissen“ (S. 30) in den Wirtschaftswissenschaften, der Psychiatrie und der Kriminologie nachgehen. Gemäss dem fachintern verbreiteten Narrativ sprang die Ökonomie in den 1980er-Jahren vergleichsweise spät auf den Zug der „Behavorial Revolution“ in den Sozialwissenschaften auf (Kapitel 3). Allerdings hat die Beschäftigung mit Faktoren, die das Entscheidungsverhalten beeinflussen, in der Disziplin eine lange Tradition. So arbeiteten sich seit der Zwischenkriegszeit bereits zahlreiche Ansätze am rationalistischen Modell des Homo oeconomicus ab und betonten im Gegenzug die „begrenzte Rationalität“ (Herbert A. Simon) tatsächlicher Entscheidungsfindungen. Bekannte Beiträge hierzu leisteten etwa die Analysen von Daniel Kahneman und Amos Tversky zu Wahrnehmungsverzerrungen und anderen Entscheid-Anomalien. Mit der neo-klassischen Ökonomie teilte die aufstrebende Verhaltensökonomie allerdings den Anspruch, universal gültige Erklärungsmuster zu bieten. Auch wenn die Erkenntnisse in politischer Hinsicht vieldeutig blieben, hatte der verhaltensorientierte Blick auf den Menschen direkte Implikationen auf gesellschaftliche Steuerungstechniken: Nicht mehr das Setzen von Anreizen, die in Kosten-Nutzen-Kalküle eingriffen, sondern ein libertärer Paternalismus, der mittels subtiler „Nudges“ (Richard Thaler) Verhalten beeinflusst, schien dazu angetan, menschliches Verhalten in politisch erwünschte Richtungen zu lenken.
Das Beobachten, Prognostizieren und Beeinflussen von Verhalten stehen bis heute im Fokus von Psychiatrie. Ein „Extremfall der Beschreibung von Menschen im Paradigma des Verhaltens“ (S. 162) stellt diesbezüglich der Umgang mit Autismus dar (Kapitel 4). Entlang bekannter „Klassiker“ der Autismusforschung rekonstruiert Rüdiger Graf die Diagnose als ein Spektrum von Verhaltensexzessen und -defiziten, die sich etwa in Schwierigkeiten bei der Beziehungsgestaltung oder in unüblichen oder monoton-repetitiven Verhaltensweisen äussern. Das subjektive Erleben der betroffenen Kinder und Erwachsenen wurde dabei lange ausgeklammert. Zusätzlich verengt wurde der Blick durch die Dominanz verhaltenstherapeutischer Ansätze seit den 1980er-Jahren. Dazu gehörte besonders die „Applied Behavior Analysis“ von Ole Ivar Lovaas, die auf intensive Verhaltenstrainings setzt. Solche Interventionsprogramme weckten bei vielen Eltern Hoffnungen auf eine individuelle und gesellschaftliche Normalisierung ihrer Kinder. Seit einiger Zeit kritisieren Betroffene allerdings die Zumutungen (bis hin zu Nahrungsentzug und Schlägen), die mit solchen Therapien verbunden waren. Als Zweig der Neurodiversitätsbewegung kämpfen sie dafür, in vermeintlich therapiebedürftigem Verhalten natürliche Variationen psychischen Erlebens und ein Ausdruck positiv erlebter Identität zu sehen.
Der Blick auf Verhalten dominiert auch das historisch kaum aufgearbeitete Feld der Kriminalprognostik, die sich mit der Beurteilung der Rückfälligkeit von Straftäter:innen beschäftigt (Kapitel 5). Der Anspruch, zwischen zurechenbarem Handeln und (künftigem) Verhalten eines Individuums zu unterscheiden, bildet seit dem 19. Jahrhundert eine wichtige Legitimationsfigur der forensischen Psychiatrie. Rüdiger Graf zeigt, wie sich aktuarische, das heisst statistik- und kriterienbasierte Prognosemethoden Ende des 20. Jahrhunderts zunächst in den USA und dann – mit dem Revival kriminalpolitischer Präventionsparadigmata ab den 1990er-Jahren – auch im deutschsprachigen Raum gegenüber intuitiven oder klinischen Prognoseheuristiken durchsetzten. Heute liefern vermeintlich faktenbasierte (de facto aber normativ durchsetzte) Kriterienkataloge wie die „Psychopathy Checklist“, die der individuellen Subjektivität wenig Raum einräumen, Gerichten und Vollzugsbehörden Informationen bei Entscheiden für oder gegen bestimmte Sanktionen oder Vollzugserleichterungen. In den USA laufen bereits Versuche mit einer nächsten Generation von Instrumenten zur Kalkulation von Rückfallrisiken, die nur mehr auf Algorithmen beruhen.
Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit den Auswirkungen der veränderten Sicht auf das Individuum in der Politik (Kapitel 6). Hierzu gehören die eingangs erwähnten „Behavorial Insights Teams“, von denen sich Regierungen seit der Jahrtausendwende neue Lösungsansätze für gesellschaftliche Steuerungs- und Regulierungsprobleme erhoffen. Gemäss dieser Logik lassen sich Bürger:innen allein durch das geschickte „Framing“ politischer Botschaften zu erwünschten Verhaltensanpassungen bewegen. Zugleich ist damit die Erwartung verbunden, den Aufwand für Gesetzgebung oder finanzielle Anreizsysteme zu reduzieren. Ein Beispiel hierfür sind Bestrebungen, die Anmeldeprozesse bei der Beantragung von Studienkrediten zu vereinfachen, um so die Zahl der Bewerber:innen zu erhöhen. Nach dem gleichen Muster funktionieren eingängige Energie- und Ernährungslabels oder die Verwendung von Bildern lungengeschädigter Menschen in Tabak-Präventionskampagnen. Der gegenwärtige Trend zur Algorithmisierung von Governance-Praktiken erscheint in dieser Perspektive als ein weiterer, wenn auch der bisher „avancierteste Versuch, wissenschaftlich Verhalten vorzusagen und zu kontrollieren“ (S. 329).
Rüdiger Grafs Geschichte der Verhaltensvorhersage und -kontrolle beleuchtet auf anregende Weise und auf einer weitgefächerten Materialbasis verschiedene Wissens- und Praxisfelder, die seitens der historischen Forschung bislang nur wenig Aufmerksamkeit erhalten haben. Die Darstellung verknüpft dabei mit bewundernswerter Leichtigkeit (wenn auch nicht ganz frei von Redundanzen) und immer mit Blick auf die übergeordnete These unterschiedliche thematische und zeitliche Kontexte. Nicht immer ist es allerdings ganz einfach, die Chronologie und Reichweite des postulierten Paradigmenwechsels einzuschätzen. Heisst es in der Einleitung zum Beispiel, dass in vielen Wissens-und Praxisfeldern seit der Mitte des 20. Jahrhunderts die Handlungs- durch die Verhaltensperspektive ersetzt worden sei (S. 10), gelangt die Analyse der Verhaltenspolitik zum – plausibleren – Befund, dass „Behavorial Insights“ zu „einem Element unter anderen in der Steuerungsdiskussion“ geworden seien (S. 339). Gerade wegen seiner empirischen Offenheit ist das von Rüdiger Graf postulierte „Paradigma des Verhaltens“ aber bestens geeignet, eingeschliffene Narrative der Zeitgeschichte – wie das „Ende der grossen Erzählungen“ (Jean-François Lyotard) oder der Aufstieg neo-liberaler Subjektivitäten – kritisch zu differenzieren und neue Forschungsdebatten anzuregen.