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Titel
Amnestielobbyismus für NS-Verbrecher. Der Heidelberger Juristenkreis und die alliierte Justiz 1949–1955


Autor(en)
Glahé, Philipp
Erschienen
Göttingen 2024: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
418 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Rauschenberger, Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main

Seit in der Zeitgeschichtsforschung nach dem öffentlichen Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik gefragt wird, gilt als unbestritten, dass eine Gruppe von circa 60 Juristen um den Heidelberger Rechtswissenschaftler und CDU-Politiker Eduard Wahl die Debatten maßgeblich beeinflusste. Der Rechtshistoriker Philipp Glahé stieß 2018 zufällig auf das verloren geglaubte Dokumentenarchiv des sogenannten Heidelberger Kreises. Insbesondere die darin enthaltenen Korrespondenzen und Notizen lassen Rückschlüsse auf Strategien und interne Richtungskämpfe der Lobbygruppe zu. Sie dienten Glahé als wichtigste Quellen für seine deutsch-französische Dissertation (Cotutelle), in der er der Frage nachgeht, „wo der Kreis Taktgeber der Vergangenheitspolitik war und wo er aufgrund der schnellen Westintegration der Bundesrepublik und der damit verbundenen Aufgabe des alliierten Justizprogramms den Ereignissen vielmehr hinterherlief oder nur begleitend tätig werden konnte“ (S. 19).

Ausgehend von dem Befund, dass sich nach 1945 überall in Europa ähnliche Mechanismen des kollektiven Beschweigens, Entkonkretisierens, Vergessens und Verdrängens (S. 20) Bahn brachen1, nimmt es nicht wunder, dass auch die deutsche Nachkriegsgesellschaft geprägt war von der „vergangenheitspolitischen Obsession“2, Kriegsverbrecher zu amnestieren. Nicht nur spezielle Interessengruppen oder Parteien, sondern die überwiegende Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung sah die Freilassung der von den Alliierten Verurteilten als ein vordringliches politisches Ziel an. Weit verbreitet war nicht nur im Heidelberger Kreis die Ansicht, die Inhaftierten seien keine Verbrecher, sondern zu Unrecht beschuldigte Befehlsempfänger, „Kriegsverurteilte“, „Kriegskameraden“ oder „Sündenböcke“ (S. 228). Die Ablehnung richtete sich besonders gegen die Urteile der US-amerikanischen Militärgerichte in den Nürnberger Nachfolgeprozessen sowie in den Dachauer Prozessen. Sie wurden als rechtswidrig und kontraproduktiv für die Wiederherstellung eines Rechtsbewusstseins in Deutschland bekämpft.

Charakteristisch für den Kreis war sein Agieren im Verborgenen. So wurden die Namen des fluiden Mitgliederzirkels nicht publik gemacht, und auch die Kontaktaufnahme mit Politikern erfolgte hinter den Kulissen. Die Mitglieder verfassten Memoranden und Eingaben, die von anderen Akteuren veröffentlicht wurden. Einige prominente Namen jedoch wurden gezielt genutzt, um den Kreis von revisionistischen Interessensvertretungen abzugrenzen. Dazu gehörten politisch unverdächtige Personen wie Gustav Radbruch, Karl Geiler, Walter Jellinek und Wilhelm Martens. Die Gruppe sollte als politisch unabhängiges, rein fachliches Korrektiv für die rechtlichen Fragen der alliierten Justiz wahrgenommen werden. Wichtig war daher die Beteiligung von Rechtswissenschaftlern. Nicht selten waren sie es, die mäßigend auf die politisch radikaleren Verteidiger der Nürnberger Angeklagten im Heidelberger Kreis einwirkten. Darin zeigte sich – so Glahés Befund – auch ein generationeller Unterschied. Die um 1880 Geborenen, die Angehörigen der „Weimarer Generation“, hatten ihre beruflichen Karrieren vor dem Nationalsozialismus begonnen. Das unterschied sie von den „jungen Radikalen“ der Jahrgänge ab 1906, von denen viele das „Dritte Reich“ unterstützt und von ihm profitiert hatten (einige blieben über 1945 hinaus bei dieser Haltung).

Für seine Analyse zieht Glahé die Biografien der Kreismitglieder heran und versucht so die naheliegende Frage zu beantworten: Was hielt eine Gruppe so heterogener Vertreter zusammen? Diese Frage stellt sich insbesondere mit Blick auf Gustav Radbruch, der als einziger Sozialdemokrat im Kreis schon nach dem Ersten Weltkrieg die Demokratie befürwortet hatte. Er sah 1945 die Notwendigkeit der Aufklärung der nationalsozialistischen Verbrechen. Das machte ihn zum Mentor von Juristen, die sich später wie Fritz Bauer für die Strafverfolgung von NS-Verbrechern durch die deutsche Justiz einsetzten. Was Radbruch mit den anderen Juristen zusammenbrachte, versucht Glahé zu erklären. So waren Radbruchs Abwendung vom Rechtspositivismus und die von ihm vollzogene Differenzierung zwischen Recht und Gesetz nicht nur für Demokraten wie Bauer anschlussfähig, sondern auch für ausgesprochene Skeptiker oder Gegner der Demokratie. Der These, dass das starre Befolgen von unrechten Gesetzen die Juristen in den Abgrund geführt habe, konnte auch zustimmen, wer sonst der extremen Rechten nahestand. Radbruch trug so dazu bei, den Juristenstand kollektiv von Schuld freizusprechen, und urteilte mit großer Nachsicht über die Tätigkeit früherer Kollegen. Die Irritation darüber, dass Radbruch, der selbst Opfer des Regimes gewesen war, sich mit dessen Anhängern zusammenschloss, versucht Glahé aufzulösen. Er sieht darin den Wunsch, „die als große Schmach empfundene Ausgrenzung und Diskriminierung […] zu überwinden und eine berufsständische Gemeinschaft wiederzubeleben, in der auch das Selbstbild eines ‚guten Deutschen‘ und Patrioten bedient wurde“ (S. 140). Wie Radbruch seien auch solche Kreismitglieder, die aus rassistischen Gründen verfolgt worden waren, die Koalition mit rechtsradikalen Juristen eingegangen. Die Ablehnung alliierter Maßnahmen wie der Entnazifizierung und der Kriegsverbrecherprozesse schuf eine gemeinsame Basis. Sie erklärt auch ein Gutachten Radbruchs zugunsten des 1948 zum Tode verurteilten, 1951 dann begnadigten und 1954 aus der Haft entlassenen ehemaligen SS-Standartenführers Eugen Steimle.

Die eigentliche Tätigkeit des Heidelberger Juristenkreises ist schwierig zu bilanzieren. Als nach Gründung der Bundesrepublik der Moment gekommen schien, die amerikanischen politischen Vertreter dazu zu bringen, eine Generalamnestie zu erlassen, wird deutlich, wie gering der Einfluss der Lobbygruppe wirklich war. Auch 1951, als eigens von den westlichen Alliierten eingesetzte Boards die Urteile ihrer Gerichte auf Gleichbehandlung überprüften, spielten die Argumente des Kreises für die Abmilderung der Urteile keine Rolle. Und selbst als der Kreis 1951 als Beratergremium der Adenauer-Regierung für die Formulierung des Kriegsverbrecher-Problems im Deutschland-Vertrag reüssieren konnte, schien er doch eher dem Geschehen auf der großen politischen Bühne hinterhergelaufen zu sein. Eine Generalamnestie wurde nicht erlassen, die Urteile der alliierten Justiz wurden nicht revidiert. Stattdessen gab es ab 1954 Begnadigungen einzelner Gruppen, die den großen Paukenschlag, den sich manche im Kreis erhofft hatten, verhinderten. Die übergeordneten politischen Fragen drehten sich um die Westbindung der Bundesrepublik, die fortdauernde Teilung Deutschlands und die Wiederbewaffnung. Auch um öffentliche Debatten über die große Linie zu verhindern, wurden die Amnestien, die nicht nur die Bundesregierung, sondern ebenso die ehemaligen Besatzungsmächte ohnehin als überfällig ansahen, eher im Verborgenen durchgeführt.

Die größte Wirkung dürfte der Kreis demnach mit den Geschichtsdeutungen erreicht haben, die er verbreitete. Die Diskussion war auf das Unrecht der alliierten Justiz fokussiert. Die verurteilten Kriegsverbrecher wurden zu Opfern einer „Siegerjustiz“ stilisiert. Über die Verbrechen, die ihnen vorgeworfen wurden, sprach man nicht. Interessant ist, dass die Vorstellung, der Holocaust sei durch einen zentralen „Führerbefehl“ in Gang gesetzt worden, auf ein Mitglied des Kreises zurückgeht, nämlich den rechtsradikalen Anwalt Rudolf Aschenauer. Sie wurde bis in die 1980er-Jahre in NS-Prozesse eingebracht und auch von Helmut Krausnick vertreten, dem Leiter des Instituts für Zeitgeschichte (1959–1972). Leider geht Glahé hier nicht in die Tiefe, sondern stützt sich auf die Arbeit von Hubert Seliger (S. 227).3 Über die Rezeption der Narrative der Heidelberger Juristen durch die Zeitgeschichtsforschung hätte man gern mehr erfahren.

Mit Blick auf die politische Handlungsebene scheint der Einfluss der Heidelberger Juristen in diesem Buch jedoch überbewertet zu sein. Der Entschluss zur endgültigen Freilassung der noch in alliierter Haft Einsitzenden war vor allem dem Kalten Krieg geschuldet. Die Gruppe konnte den Prozess weder beschleunigen noch gänzlich geschichtspolitisch bestimmen. Zu Recht verweist Philipp Glahé am Ende seiner Studie auf die ab 1958 einsetzende Neubewertung deutscher Verbrechen und ihrer Ahndung durch die deutsche Justiz. Gleichwohl schließt er sich in seinem Resümee vorangegangenen Urteilen an: „Der Heidelberger Juristenkreis kann als einer der einflussreichsten Akteure der ‚Kriegsverbrecherfrage‘ gelten, der vergangenheits- und identitätspolitischen Kernfrage der jungen Bundesrepublik.“ (S. 361) Das kann nach der Lektüre nur mit Einschränkungen gelten.

Anmerkungen:
1 Kerstin von Lingen, Erfahrung und Erinnerung. Gründungsmythos und Selbstverständnis von Gesellschaften in Europa nach 1945, in: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), S. 149–184, hier S. 159, https://library.fes.de/pdf-files/afs/bd49/09_lingen.pdf (22.10.2024). Kerstin von Lingen und Rainer Maria Kiesow haben die hier besprochene Dissertation betreut.
2 Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, 2. Aufl., München 1997, S. 133–306.
3 Hubert Seliger, Politische Anwälte. Die Verteidiger der Nürnberger Prozesse, Baden-Baden 2016, S. 356.

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