„Marx-Burg“ – „Agentur der Konterrevolution“ – „Theoriemuseum“. Metamorphosen Frankfurter Sozialforschung (1923–2024)

: Café Marx. Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule. München 2024 : C.H. Beck Verlag, ISBN 978-3-406-81356-6 624 S. € 34,00

: Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik. Berlin 2024 : Suhrkamp Verlag, ISBN 978-3-518-43177-1 760 S. € 40,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Römer, Institut für Soziologie, Georg-August-Universität Göttingen

Das 100-jährige Jubiläum der Gründung und Eröffnung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung im Jahre 1923 beziehungsweise 1924 ist auf ein erwartbar breites mediales und publizistisches Echo gestoßen. Davon zeugt eine Flut von anlassbezogenen Kommentaren, Essays und Sachbuchpublikationen, aus denen die beiden hier zur Diskussion stehenden Geschichten der Frankfurter Schule – „Café Marx“ von Philipp Lenhard und „Adornos Erben“ von Jörg Später – schon aufgrund ihres Umfangs von über 600 beziehungsweise 750 Buchseiten sichtbar herausragen. Beide Bücher sind bezeichnenderweise von Historikern verfasst worden. Im Gegensatz zu der vom Institut für Sozialforschung selbst im September 2023 unter dem Titel „Futuring Critical Theory“ ausgerichteten Jubiläumstagung1, aber durchaus im Einklang mit der aktuellen öffentlichen Diskussion und Wahrnehmung der Frankfurter Schule bewegen sie sich also im Modus der Rückschau und Bilanzierung. Als gut lesbare Sachbücher geben sie jeweils ausgesprochen material- und kenntnisreiche, zugleich aber auch sehr konzise Überblicke zur Geschichte des Instituts und zur mit ihm bis heute verknüpften Tradition kritischer Gesellschaftstheorie. Bezogen auf die breite historische, sozialwissenschaftliche und sozialphilosophische Forschung ist es beiden Autoren obendrein gelungen, relevante Lücken zu identifizieren und zu füllen.

Eine besonders anspruchsvolle Aufgabe hat sich diesbezüglich Philipp Lenhard gestellt, der mit seinem Buch den gemeinhin als „überforscht“ geltenden Zeitraum von der Institutsgründung bis in die späten 1960er-Jahre abdeckt. Folglich profitiert „Café Marx“ weniger von der Entdeckung spektakulärer neuer Quellen und Archivfunde, sondern vom Versuch einer alternierenden Darstellung und Perspektive auf den Frankfurter Zusammenhang kritischer Gesellschaftstheorie. Lenhard, der bereits als Biograph und Herausgeber der Schriften Friedrich Pollocks in Erscheinung getreten ist2, will sein Buch zwar ausdrücklich nicht als eine Gegengeschichte bereits bekannter Historiografien verstehen, wie sie etwa schon in den 1970er-Jahren von Martin Jay und in den 1980er-Jahren von Rolf Wiggershaus vorgelegt wurden.3 Gleichwohl dominiert in „Café Marx“ das Bedürfnis, sich von der zahlreiche Geschichten der Frankfurter Schule anleitenden Idee des Familienromans zu lösen. Der Zusammenhang der Frankfurter Schule soll weniger an einem Netz von Persönlichkeiten überprüft werden, sondern anhand jener sich wandelnden räumlichen Arrangements und Infrastrukturen, die das Institut für Sozialforschung einer kritischen Gesellschaftstheorie in unterschiedlichen Phasen zur Verfügung stellte. Die Komposition des Buches unterteilt die Geschichte der Frankfurter Schule so nicht nur in die durchaus bekannten Epochen sozialphilosophischer Theorieproduktion, die Lenhard mit der „Marxistischen Arbeitswoche“ 1923 beginnen und mit dem Tode Theodor W. Adornos 1969 enden lässt. Gleichzeitig entwirft es entlang seiner Kapitelstruktur das Bild eines bewohnten Hauses, in dem unterschiedliche Räume für verschiedene, bisher teilweise unterbeleuchtete Aspekte und Bedingungen der Frankfurter Theoriearbeit stehen.

Geprägt ist Lenhards Perspektive auf die Frankfurter Schule durch die kritische Theorie selbst. Bereits für Adorno sei die „Dingwelt des Interieurs“ wie etwa die „Einrichtung des bürgerlichen Wohnzimmers“ (S. 192) ein gesellschaftliches Faktum gewesen. In solchen alltäglichen Lebensräumen materialisierten sich für Adorno, Max Horkheimer und andere die selbst zur Disposition stehenden objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse kapitalistischer Warenproduktion. Nimmt man diesen Gedanken ernst, dann müsste auch die sich wandelnde gesellschaftliche Funktion und Situation kritischer Theorie anhand ihrer räumlichen Existenzweisen rekonstruierbar sein. Der Gang durch das Theoriegebäude ist insofern untrennbar mit dem Gang durch das Institut verbunden. Die Theorie selbst ist in ihren historischen Bezügen unverständlich, wenn ihre materialen Voraussetzungen ungeklärt bleiben.

Bei Lenhard ermöglicht diese Perspektivverschiebung eine Verklammerung von Theorie- und Alltagsgeschichte, die zu den großen Stärken des Buches zählt. Jedes Kapitel hebt mit der anschaulichen Darstellung einer Szene an, die sich in einem bestimmten Raum der Theorieproduktion abspielt. Nicht nur die theoriehistorische Rekonstruktion jenes „Leidens“ (Horkheimer) an den gesellschaftlichen Verhältnissen als Impuls kritisch-theoretischen Denkens, sondern auch etwa das lebensgeschichtliche Leid des Hausmeisters, der nach der Machtübernahme der Nazis und dem Gang des Instituts ins Exil seine Stellung verlor, werden zum Thema.

Und auch der Situation der Wissenschaftlerinnen am Institut, die in Frankfurt gemeinhin nicht zur Männerwelt der Theorieproduktion gezählt wurden, versucht Lenhard auf diesem Wege gerecht zu werden. Während nämlich die ebenfalls erst 1914 gegründete Universität in Frankfurt am Main und mit ihr das Institut für Sozialforschung neue Karriereperspektiven für jüdische und sozialistisch orientierte Wissenschaftler wie Pollock oder den jungen Horkheimer eröffneten, die im deutschen Kaiserreich noch völlig undenkbar gewesen waren, konnten die wissenschaftlich arbeitenden Frauen am Institut jenseits von Heirat und Familie bestenfalls auf eine berufliche Stellung als Volkshochschullehrerin oder Bibliothekarin hoffen.

Lenhard rekonstruiert den Kampf der Frankfurter Bibliothekarinnen um die Anerkennung ihrer Tätigkeit als wissenschaftliche Arbeit und zeigt, inwiefern die Bibliothek wenigstens in der Zwischenkriegszeit „das Herz des Instituts“ (S. 107) war. Auf diesem Wege gelingt eine beeindruckende Darstellung der Gründungsjahre des von Felix Weil gestifteten Instituts unter Leitung von Carl Grünberg, die bis heute im Schatten des Wirkens von Horkheimer stehen. Deutlich wird, dass das um ein Archiv der Arbeiterbewegung gruppierte Institut mit exzellenten Verbindungen zum Marx-Engels-Institut in Moskau und als Zentrum der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe nicht nur zur Historisierung der Arbeiterbewegung beitrug. Die Frankfurter „Marx-Burg“, so die zeitgenössische Bezeichnung, war ein partei- und fraktionsübergreifender Diskussions- und Begegnungsort der Weimarer Republik, an dem weit jenseits der heute bekannten Namen der Frankfurter Schule schon in den 1920er-Jahren anspruchsvolle marxistische Theorieproduktion stattfand. Neben der von Lenhard zurecht hervorgehobenen Hilde Weiss, die bei Grünberg zu den „kapitalistischen Utopien“ von Ernst Abbe (Carl Zeiss AG) und Henry Ford promovierte, zugleich aber auch als Pionierin empirischer Sozialforschung gelten kann, verfasste hier etwa Karl August Wittfogel erste Studien zur Wirtschafts- und Sozialstruktur Chinas, die ihn auf das theoretische Gleis der asiatischen Produktionsweise setzen sollten.

Bedauerlich ist hingegen, dass Lenhard die Spuren dieser Theorieproduktion, die sich seit den 1930er-Jahren immer mehr jenseits der Mauern der „Marx-Burg“ vollzog, nur sehr bedingt weiterverfolgt. Gerade die theoretischen und politischen Wendungen des späteren Anti-Kommunisten Wittfogel, der sich nach 1945 in den USA lebend mit seiner These von der „orientalischen Despotie“ immer noch durchaus positiv auf Marx bezog, in den Kommunistenprozessen der McCarthy-Ära hingegen eine politisch unrühmliche Rolle spielte, wären durchaus von Interesse gewesen.4 Im Grunde bilden sie einen interessanten Kontrastpunkt zur von Lenhard zurecht als „äsopisch“ gekennzeichneten intellektuellen Praxis Horkheimers – also zu dessen Versuch, durch eine teilweise kreative Umschiffung marxistischer Theoriebegriffe und Signalwörter den sachlichen Gehalt einer linken, emanzipatorischen Theorie gegen Widerstände bis in die Zeit der Bundesrepublik hinüberzuretten.

Gemessen an der bemerkenswerten Darstellung der Frankfurter Bibliothekswissenschaften fällt zudem die Würdigung der empirischen Sozialforschung ab, die unter Leitung Horkheimers und schließlich auch Adornos spätestens im Exil zum Kerngeschäft des Instituts wurde. An die Stelle der Bibliothekarinnen rückten hier nämlich jene Sozialforscherinnen, die wie Weiss, aber eben auch Herta Herzog oder Marie Jahoda lange Zeit auf ihre hilfswissenschaftlichen Zubringerleistungen für eine dominant männliche, dialektische Theorieproduktion reduziert wurden.

Dass der insgesamt gut recherchierte, detaillierte und gehaltvolle Band für mit der Institutsgeschichte und der kritischen Theorie bereits vertraute Leser:innen stellenweise Längen aufweist, ist nicht zuletzt auf den verlegerischen Spagat zwischen einem Sachbuch und einer wissenschaftlichen Darstellung zurückzuführen. Lenhards Studie eignet sich insofern auch als eine Einführung in die unterschiedlichen Theoriewelten der Frankfurter Schule. Debatten wie etwa die institutsinternen Auseinandersetzungen um eine kritische Theorie des Nationalsozialismus im amerikanischen Exil werden kenntnisreich vorgetragen. Gern hätte man allerdings an der einen oder anderen Stelle noch mehr über die institutsinternen Arbeitsprozesse und Arbeitsteilungen erfahren, die nicht unmittelbar aus dem schon publizierten Material hervorgehen. Dies betrifft zum Beispiel das Kapitel über die „Zeitschrift für Sozialforschung“, die in den 1930er-Jahren das Gravitationszentrum kritischer Theorie bildete. Das lange Referat der vielfach aufgelegten und oft diskutierten Schlüsseltexte dieser Zeitschrift hätte von einer Briefwechsel und Memoranden deutlicher einbeziehenden Darstellung der redaktionellen Prozesse profitieren können. Wie Lenhard zutreffend festhält, verstand sich das Institut nämlich besonders in dieser Phase „als kollektiver Kritiker“ (S. 283) und wollte seine Mitglieder auf diesem Wege zu einer verbindenden Form der Erkenntnis versammeln.

Während Lenhards Buch mit dem Höhepunkt der westdeutschen Studentenbewegung und Adornos Tod im Jahre 1969 ausklingt und dem 50-jährigen „Nachleben“ ab 1973 nur noch wenige Seiten widmet, legt Jörg Später sein Augenmerk auf die Entwicklungen, die innerhalb der kritischen Theorie ab dieser Zeit einsetzten. Beide Bücher treffen sich in der plausiblen These, dass die eigentliche Schulbildung – also der Übergang von einem neomarxistischen Denkzusammenhang zu einer generationenübergreifenden „Lehre“ kritischer Theorie – in den 1960er-Jahren vollzogen wurde. Dass die „Verschulung“ der Frankfurter Schule dabei sehr direkt an den Rückzug ihres „Gründungsdirektors“ Horkheimer und die Übernahme der Institutsleitung durch Adorno gebunden blieb, kann man ebenfalls bei beiden Autoren gut nachvollziehen. Wie Lenhard eindrucksvoll zeigt, konstituierte sich speziell für Horkheimer kritische Theorie als Denkzusammenhang linker Intellektueller und Wissenschaftler, die durch den Ersten Weltkrieg und das Kaiserreich geprägt worden waren. Dagegen bemühte sich speziell Adorno nach der Rückkehr des Instituts aus dem amerikanischen Exil um eine Ausdehnung dieses Denkzusammenhangs auf Mitglieder der sogenannten Flakhelfer- und 68er-Generation, zu denen er ein teilweise väterliches Verhältnis pflegte. Dass diese Beziehungen nicht frei von Spannungen und Enttäuschungen blieben, zeigen die von Adornos „Lieblingsschüler“ Hans-Jürgen Krahl mitinitiierte Besetzung des Instituts für Sozialforschung 1969 sowie dessen polizeiliche Räumung auf Geheiß des „Meisters“. Diese Verwandlung des „Café Marx“ in eine „Agentur der Konterrevolution“ (S. 521) aus Sicht der Studentenbewegung bildet eine Schlüsselszene beider Historiografien.

Später, der die Geschichtsschreibung kritischer Theorie bereits um eine Biografie Siegfried Kracauers bereichert hat5, nutzt diesen geräuschvollen „Abschied von Adorno“ (S. 144), um nach dem Fortleben der kritischen Theorie zu fragen. Dass er sein eigenes Projekt dabei in die Reihe der insbesondere von Clemens Abrecht verantworteten „Wirkungsgeschichte“ kritischer Theorie stellt6, setzt die Leser:innen dieses Buches allerdings gleich zu Beginn auf eine falsche Fährte. Während es Albrecht und seinen Mitautoren um das Fortwirken kritischer Theorie in der politischen Kultur, medialen Öffentlichkeit und besonders den Bildungsinstitutionen der Bundesrepublik ging, interessiert sich Später für eine Geschichte der nicht selten von Konkurrenz, wechselseitiger Abgrenzung und Ignoranz geprägten Selbstdeutungen kritischer Theorie in der Perspektivenvielfalt von insgesamt zwölf Frankfurter Schüler:innen Adornos und Horkheimers – namentlich Regina Becker-Schmidt, Gerhard Brandt, Ludwig von Friedeburg, Karl Heinz Haag, Jürgen Habermas, Elisabeth Lenk, Oskar Negt, Helge Pross, Alfred Schmidt, Herbert Schnädelbach, Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann. Ergänzt wird dieser Kreis immer wieder durch den nicht akademisch zu verortenden Alexander Kluge, der als freier Autor und Filmemacher wirkt.

Auch „Adornos Erben“ versucht den schwierigen Spagat zwischen publikumsverlagskompatibler Lesbarkeit, historischer Tiefenschärfe und soziologischer Systematisierung von Zusammenhängen. Später orientiert sich an einer „Intellectual History“, die in Gestalt von Tiefenbohrungen auch in „‚ein lebensweltliches Unterholz‘ (Kracauer)“ (S. 14) herabsteigt. Die Grundlage dafür liefern schwerpunktmäßig Korrespondenzen aus den relativ jungen Vor- und Nachlässen der genannten Personen. Im Gegensatz zu „Café Marx“ kann Späters Buch also auf weitgehend unerschlossenes Material zählen. Offen bleibt allerdings die Frage, was die Fallauswahl dieser biblischen Zahl von Frankfurter Schüler:innen genau rechtfertigt. Zwar dominiert nach der Lektüre der Eindruck, dass sich all diese heterogenen wissenschaftlich-intellektuellen Biografien in ein stimmiges Gesamtbild fügen. Wie zudem im Untertitel angezeigt, erzählt „Adornos Erben“ lediglich „Eine Geschichte aus der Bundesrepublik“, die zudem „überhaupt kein theoretischer Beitrag“ (S. 14) zu einer an Ein- und Ausschlüssen reichen Theorie- und Wissenschaftstradition sein möchte. Gleichwohl wäre eine deutlichere Reflexion der Kontingenz dieser Geschichte, die nicht zuletzt durch die für historische Studien stets zentrale Archiv- und Materiallage bestimmt scheint, wichtig gewesen.

Dass man „Adornos Erben“ auch mit deutlich anderen Akzenten hätte schreiben können, wird deutlich, wenn man wenigstens für einen Moment auf einige hier nicht beachtete Protagonisten blickt. So taucht etwa der spätere Aachener und Erlanger Politikwissenschaftler Kurt Lenk nur als früh geschiedener Ehepartner Elisabeth Lenks auf. Nicht thematisiert wird, dass Lenk – ebenso wie der Anfang der 1950er-Jahre am Institut für Sozialforschung beschäftigte Heinz Maus – als ein Bindeglied zwischen Frankfurt und dem unter anderem von Lothar Peter als „Marburger Schule“7 geadelten marxistischen Abendroth-Kontext fungierte.8 Folglich beginnt die Expansion der kritischen Theorie in die hessische Provinz für Später erst 1965 mit der Berufung von Pross nach Gießen, nicht 1954 mit der Berufung von Maus auf eine Dozentenstelle am Pädagogischen Institut Weilburg, das im Laufe der 1960er-Jahre in die Gießener Universität integriert wurde. Während Pross hier hauptsächlich für nordamerikanische Soziologie und Sozialforschung stand, wirkte Maus auch nach dem Antritt seiner Marburger Soziologieprofessur (1960) weiterhin als Lehrbeauftragter für Pädagogische Soziologie in Gießen und hielt dort unter anderem im Sommersemester 1967 eine Vorlesung über „Kulturindustrie“.9

Die augenscheinliche Gemeinsamkeit der von Später versammelten Schüler:innen besteht darin, dass sie allesamt bei Adorno studiert oder promoviert haben. Ferner stammen sie nicht aus der Geburtskohorte der Studentenbewegung – ein Aspekt, der allerdings eher nebenher mitverhandelt und nicht etwa zum Gegenstand einer eigenständigen Generationentypologie gemacht wird.10 Ein klares Zentrum und eine klare Peripherie innerhalb der Schüler:innenschaft lässt sich in „Adornos Erben“ nicht ausmachen. Die von Später beschriebene „Provinzialisierung“ kritischer Theorie an den Universitäten in Hannover und Lüneburg während der 1970er- und 1980er-Jahre wird als ein komplexes Ringen um die hegemoniale Deutung der Theorie charakterisiert. Wie er zeigen kann, geht es dabei um eine in teilweise unterschwelligen Bezügen und Dialogen miteinander verbundene widersprüchliche Tradierung der Frankfurter Schule, in der das für Lenhard noch zentrale Institut für Sozialforschung immer mehr zur drittmittelgetriebenen „Schrumpfform“ (S. 579) kritischen Denkens mutierte.

Später identifiziert einen plausiblen Kern der Orthodoxie kritischer Theorie, der sich insbesondere auf der Ebene der von Schweppenhäuser und Tiedemann verantworteten Gesamtausgaben Adornos und Benjamins manifestiere. Er zeichnet eindrucksvoll nach, wie gerade Tiedemanns esoterischer Umgang mit den Nachlässen und Schriften dieser beiden Autoren einen in der Entwicklung des Instituts für Sozialforschung keineswegs notwendig vorgezeichneten „Wesenskern“ der Frankfurter Schule formte und etwa ein Gespräch mit postmodernen Benjamin-Interpretationen verunmöglichte. Bereits im ersten Jahrzehnt nach dem Tode Adornos und Horkheimers zeichnete sich ein Trend zur Historisierung ab, dem unterschiedliche Tendenzen zuarbeiteten. Die Lüneburger Ambition, den „wahren“ Adorno zu retten, wurde gleichwohl zum Trittbrett für eine kommunikationstheoretische Überwindung dieses „Wesenskerns“ – kurzum: einer Immunisierung der mit Habermas sich durchsetzenden neuen Variante kritischer Theorie gegen ihre eigene Geschichte.

Das gemeinsame Bezugsproblem, an dem sich so unterschiedliche Denker:innen wie Habermas, Negt, Lenk oder Haag abarbeiteten, scheint hingegen durchaus von Adorno und Horkheimer vorgegeben. Es ist die angesichts des Holocausts für die Gründergeneration der Frankfurter Schule wieder offene Frage Hegels nach der Vernunft (in) der Geschichte und damit auch nach dem Status der Geschichtsphilosophie für die Gesellschaftstheorie, die von ihren Schüler:innen unterschiedlich und oft eigenwillig beantwortet wurde. Optimistisch gedeutet wurde kritische Theorie in den 1970er-Jahren zu einem Theorielabor, in dem etwa die Existenz Neuer Sozialer Bewegungen oder auch die ökologische Frage systematisch einbezogen werden sollten – das existenzielle Scheitern eigener theoretischer Bemühungen war eingepreist, wie der von Später eindrücklich geschilderte tragische Fall des Frankfurter Institutsdirektors Gerhard Brandt vor Augen führt, der 1987 im Suizid endete. Pessimistisch gedeutet – und hier kehrt Lenhards Gedanke des räumlichen Arrangements in einer regelrechten dialektischen Wendung wieder – verwandelt sich kritische Theorie in ein wohlgeordnetes „Theoriemuseum“ (Später, S. 433): Mussorgski statt Brecht, möchte man sagen, gegebenenfalls noch zeitgenössisch interpretiert im Sound der 1970er-Jahre von Emerson, Lake and Palmer.11

Später selbst bringt diese Entwicklungen am Schluss auf den Begriff des „erfolgreichen Scheiterns“ (S. 587). Insbesondere die Wiederkehr der für Horkheimer und Adorno leitenden Antisemitismusfrage im „Historikerstreit“ der 1980er-Jahre wird als ein Indiz für eine tiefe Verankerung kritischer Theorie in der politischen Kultur der Bundesrepublik interpretiert, obwohl dieses Motiv in den theoretischen Bemühungen der hier versammelten Schüler:innenschaft eine nur untergeordnete Rolle spielt. Dass diese Diskussionen spätestens seit den 1990er-Jahren ein neues institutionelles Zentrum am Hamburger Institut für Sozialforschung fanden, hat jüngst unter anderem der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar thematisiert.12 Während in Frankfurt und anderen bundesrepublikanischen Orten kritisches Denken längst vom universitären, drittmittelgetriebenen Forschungsbetrieb assimiliert worden war, wirkte das Hamburger Institut – wie einst die Frankfurter Gründung von einem Mäzen getragen – etwa in Form der beiden „Wehrmachtsausstellungen“ (1995–1999 sowie 2001–2004) in die politische Kultur des Landes.

Vor diesem Hintergrund ist die Ankündigung zum Jahreswechsel 2023/24, dass Jan Philipp Reemtsma sein bisheriges Engagement in Hamburg einstellen wird, die vielleicht spektakulärste neue Nachricht zum 100. Geburtstag des Frankfurter Instituts. Weniger die vom Hamburger Gründer zurecht befürchtete Dialektik normalwissenschaftlicher Antragsforschung, die auch dieses Institut perspektivisch ereilen könnte, rückt das „erfolgreiche Scheitern“ der kritischen Theorie in der Bundesrepublik in die Nähe eines Pyrrhussieges. Wer sich aktuell noch diesem Denken verpflichtet fühlt, muss etwa angesichts der längst realisierten Idee eines „Reemtsma-Instituts von rechts“ (Götz Kubitschek), das dann wohl eben auch ein „Horkheimer-Institut von rechts“ wäre, beunruhigt sein. Dieses „Institut“, das im Jahr 2000 gegründet und 2024 vermutlich nur pro forma aufgelöst wurde, hatte sogar das Kürzel „IfS“ und das zugehörige Institutslogo gekapert. Die Vergangenheit der alten Bundesrepublik will augenscheinlich nicht vergehen – nur eben anders als gedacht. Dies ist womöglich eine Lektion, die über die sehr lesenswerten Bücher von Philipp Lenhard und Jörg Später hinaus zu lernen wäre.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Tagungsankündigung: https://fct2023.ifs.uni-frankfurt.de/start.html (05.09.2024). Vgl. darüber hinaus den Konferenzbericht von Francesca Barp und Hannah Schmidt-Ott, in: Soziopolis, 17.10.2023, https://www.soziopolis.de/an-asset-and-a-burden.html (05.09.2024).
2 Philipp Lenhard, Friedrich Pollock. Die graue Eminenz der Frankfurter Schule, Berlin 2019. Zu den Gesammelten Schriften siehe https://www.ca-ira.net/verlag/friedrich-pollock-gesammelte-schriften-in-sechs-baenden/ (05.09.2024) – bisher erschienen sind die Bände 1 und 2 (2018 und 2021).
3 Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950. Aus dem Amerikanischen von Hanne Herkommer und Bodo von Greiff, Frankfurt am Main 1976 (und öfter); Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte – Theoretische Entwicklung – Politische Bedeutung, München 1986 (und öfter).
4 Vgl. unter anderem Gary L. Ulmen, Marxismus, Positivismus und Sozialgeschichte. Zu Karl August Wittfogels Gesellschaftstheorie, in: Peter Christian Ludz (Hrsg.), Soziologie und Sozialgeschichte. Aspekte und Probleme, Opladen 1972, S. 448–472.
5 Jörg Später, Siegfried Kracauer. Eine Biographie, Berlin 2016. Siehe außerdem das von Später mitverantwortete Themenheft „Metamorphosen der Kritischen Theorie“, Mittelweg 36 30 (2021), 3.
6 Clemens Albrecht u.a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt am Main 1999, korrigierte Studienausgabe 2000.
7 Lothar Peter, Marx an die Uni. Die „Marburger Schule“. Geschichte, Probleme, Akteure, Köln 2014.
8 Vgl. Kurt Lenk, Zwei westliche Marxisten im 20. Jahrhundert. Theodor W. Adorno und Wolfgang Abendroth, in: Wolfgang Hecker / Joachim Klein / Hans Karl Rupp (Hrsg.), Politik und Wissenschaft. 50 Jahre Politikwissenschaft in Marburg, Münster 2004, S. 5–17.
9 Vgl. Justus-Liebig-Universität Gießen, Personal- und Vorlesungsverzeichnis, Sommersemester 1967, S. 146, https://jlupub.ub.uni-giessen.de/server/api/core/bitstreams/98082cdf-9d6b-41ae-a155-e8d1552c086e/content (05.09.2024).
10 Vgl. hierzu Heinz Bude, Adorno für Ruinenkinder. Eine Geschichte von 1968, Hamburg 2018.
11 Vgl. Emerson, Lake and Palmer, Pictures at an Exhibition (1971), https://www.youtube.com/watch?v=vIL7LONVn-k (05.09.2024).
12 Vgl. Das HIS diskutiert: Adornos Erben – Eine Geschichte aus der Bundesrepublik, 16.07.2024, https://www.youtube.com/watch?v=LztelGfAKgM (05.09.2024).