I. Alfonso u.a. (Hrsg.): Records and Processes of Dispute Settlement in Early Medieval Societies

Cover
Titel
Records and Processes of Dispute Settlement in Early Medieval Societies. Iberia and Beyond


Herausgeber
Alfonso, Isabel; Andrade, José M.; Evangelista Marques, André
Reihe
Medieval Law and Its Practice
Erschienen
Anzahl Seiten
XIV, 425 S.
Preis
€ 173,75
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Vogel, Saarbrücken

Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich um einen Sammelband, dessen Beiträge sich mit Streitbeilegung, Gerichtsverfahren und der Dokumentation derselben befassen. Geographischer Schwerpunkt ist der christliche Norden der Iberischen Halbinsel in der Zeit vom 9. bis 11. Jahrhundert. Ergänzt wird dieser Schwerpunkt um je einen Beitrag zu Norditalien und Dänemark sowie einen weiteren, der die Toskana vergleichend mit einbezieht. Der zeitliche Schwerpunkt wird durch einen Beitrag durchbrochen, der sich mit den „Formulae Visigothicae“ befasst und dabei vor dem 9. Jahrhundert ansetzt und auch merowingische Formelsammlungen der Zeit vergleichend heranzieht. Wichtig zu erwähnen ist aber zuallererst der Umstand, dass dieser Sammelband anlässlich der Vorstellung eines Datenbankprojekts initiiert wurde. Es handelt sich dabei um das PRJ-Projekt („Procesos Judiciales en las sociedades medievales del norte peninsular“). Die Datenbank als solche, ihre Ziele, Benutzungsmöglichkeiten und Erweiterungspotenziale werden erst am Ende des ersten Teils in Kapitel 6 von Francesca Tinti skizziert. Erfasst sind urkundliche Quellen aus der reichhaltigen Kartularüberlieferung der betroffenen Regionen, von denen diejenigen mit Bezug zu Streit- und Gerichtsfällen als „judiciales“ besonders gekennzeichnet sind. In erster Linie sind statistische Recherchen über wählbare Zeiträume und Regionen möglich, die in Gestalt von Tabellen oder Diagrammen ausgeworfen werden. Die „judiciales“ kann man gesondert aufrufen und die Edition als PDF ansehen oder herunterladen. Perspektivisch ist auch der Zugriff auf die Manuskripte angedacht. Die thematische Eingrenzung auf „judiciales“ ist vorgegeben und beschränkt natürlich die Nutzbarkeit aus der Sicht des Allgemeinhistorikers. Verständlich ist dies sicherlich aus dem Bewusstsein der Probleme, die von Tinti und im Vorwort der Herausgeber teils mehrfach angesprochen werden. Datenbankprojekte drohen, wenn sie überambitioniert sind, zu einer ewigen Baustelle zu verkommen. Ferner ist eine dauerhafte Pflege, vor allem aber finanzielle Förderung notwendig.

Insofern ist der Sammelband, mindestens aber dessen erster Teil mit seinen sechs Beiträgen, als Werbung für die Datenbank und deren Ausbau zu verstehen und will auch so verstanden werden. Der erste Teil („Surveying the Corpus of Iberian Dispute Records, 800–1100“) besteht neben dem schon erwähnten Beitrag von Francesca Tinti aus fünf Beiträgen, die sich jeweils einer Region widmen und entsprechend gleichlautende Titel („Documentary Production and Dispute Records in [Region] before the Year 1100“) tragen. Sie sind ähnlich aufgebaut und jeweils in zwei bis drei Teile untergliedert. Der erste befasst sich mit Überlieferung, insbesondere der urkundlichen, allgemein, der zweite behandelt das Corpus der jeweiligen Region meist mit statistischen Auswertungen, deren graphische Darstellungen stets aus der Datenbank generiert wurden. In einem dritten Unterkapitel (bei Kapitel 1, 3, 5) folgen inhaltliche Erörterungen und im 5. Kapitel (Katalonien) folgt noch ein viertes Unterkapitel zum Thema Recht und Rechtspflege („Law and Justice“), in dem auf die Bedeutung des westgotischen Liber eingegangen wird.

Zu den Beiträgen im Einzelnen: José Andrade befasst sich mit Galicien und macht dort verschiedene Typen von Gerichtsurkunden aus. Es handelt sich weit überwiegend um Transaktionen, in bischöflichen Urkunden sind auch Konfiskationen infolge von Rebellionen zu finden. Unbezahlte Schulden und Beweisverfahren sind weitere Themen des Beitrages. Anhand von Beispielen zeigt Andrade auch die Rollen und Standeszugehörigkeiten von Verfahrensbeteiligten auf. Die drei folgenden Beiträge zu León, Kastilien und Navarra stammen von Isabel Alfonso. Zu León weist sie auf die Streitaustragung innerhalb bestimmter sozialer Gruppen hin und erkennt hinter Klostergründungen keine kollektiven, vielmehr individuelle Strategien. Für Kastilien differenziert sie nach Verfahrenselementen (Eide, Geständnisse) und Urkundenarten (Transaktionen, Klagen, Garantien, Übereinkommen), die sie zu Fallgruppen von typischen Sachverhalten ordnet. Für Aragón und Navarra wird schließlich ein durch Beispiele veranschaulichter, aber kurzer Überblick geboten. Katalonien wird im fünften Kapitel von Josep M. Salrach behandelt. Wie in den Beiträgen zuvor handelt auch er in den ersten beiden Unterkapiteln die Quellenlage ab, bevor er in einem dritten und einem vierten Unterkapitel ausführlich auf die verschiedenen Typen von Rechtshändeln und schließlich auf die Besonderheiten der katalanischen Rechtspflegetraditionen eingeht. Die Aufteilung der Kapitel des ersten Teils orientiert sich an den heutigen Regionen Spaniens. Das Problem, administrative Einheiten der Gegenwart für mediävistische Forschungen zugrunde zu legen, wird von den Herausgebern mehrfach thematisiert, lässt sich aber nicht vollends aus der Welt schaffen, was auch mit einzuwerbenden Fördermitteln zu tun hat, doch ein entsprechend sensibler Umgang mit dieser Situation ist im vorliegenden Sammelband unzweifelhaft festzustellen.

Die vier Beiträge des zweiten Teils (Kapitel 7–10: „Recording Disputes: The Textual Construction of Judicial Process“) folgen keinem einheitlichen Aufbau wie die Kapitel des ersten Teils und befassen sich mit den Urkunden, ihrem Aufbau, ihrer Entstehung und ihrer Rolle in und nach den Streitbeilegungsverfahren. Die Beiträge sind vergleichend angelegt. Warren C. Brown untersucht die „Formulae Visigothicae“ und stellt die Frage nach deren fortdauerndem Gebrauch nach 711, die er trotz gewisser Spuren nicht bejahen kann. Die Bedeutung des Rechts in der frühmittelalterlichen Gesellschaft hingegen hebt er deutlich hervor. Wendy Davies untersucht anhand dreier exemplarisch ausgewählter Dokumente die Rolle der Urkunden als Teil des Gerichtsprozesses und insbesondere deren Bedeutung für die jeweiligen Nutznießer. Untersuchungsraum ist Nordspanien vor der Jahrtausendwende mit Ausnahme Kataloniens. Vergleichsregionen außerhalb Spaniens werden in den letzten beiden Beiträgen dieses Teils hinzugezogen. François Bougard betont die Garantiefunktion der Urkunde in Norditalien, ordnet die Dokumente in ihren Entstehungs- und Überlieferungskontext ein und stellt in einem institutionengeschichtlichen Ansatz Richter und Gericht in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen. Igor Santos Salazar widmet sich den Deperdita und fragt nach der Rolle von Laien und einer Laienschriftkultur. Als Vergleichsregionen hat er Álava und die Toskana im 9. und 10. Jahrhundert ausgewählt. Als wesentlichen Unterschied arbeitet er eine stärkere Formalisierung in Italien heraus, während in Kastilien noch die Mündlichkeit dominiert. Zumindest in Italien, vielleicht auch in Kastilien, scheinen klösterliche Archive auch Laien zur Urkundenverwahrung gedient zu haben.

Weitere vier Beiträge vereinigt der dritte Teil unter der Überschrift „Framing Disputes: Judicial Authorities and Social Order“. Dieser Teil ist gewissermaßen der am Wenigsten abstrakte Teil des Sammelbandes. Adam J. Kosto beginnt mit dem Personal, das in Urkunden aus Katalonien zu finden ist. Die Verfahren waren relativ komplex, eine Vielzahl an Personen mit unterschiedlichen Rollen (Schreiber, saiones, mandatarii etc.) waren beteiligt. Personen, die mehrere Funktionen gleichzeitig wahrnahmen, waren eher selten. Weiterhin stellt Kosto Vergleiche zwischen den Rollen im Prozess und dem sozialen Status an und konstatiert weit verbreitete juristische Kenntnisse. Juan José Larrea untersucht Territorialstreitigkeiten von Klöstern in den westlichen Pyrenäen, die er als Beispiele für Machtpolitik auf lokaler Ebene in ihren historischen Kontext einordnet. Anders als die mehr quellenbasierten anderen Beiträge zieht Larrea Sekundärliteratur in größerem Umfang heran und stellt seine Untersuchungen in einen weiteren thematischen Kontext. Julio Escalona stellt ein einzelnes Dokument aus Sahagún in den Fokus seines Beitrages („One Monk, One Donkey, One Dead Man: Contexts for a Homicide ...“). In seiner Fallstudie fragt er nach den Akteuren und der Ursache des zugrunde liegenden Streits, schließlich nach der Urkunde, insbesondere danach, warum ein königliches Diplom ausgestellt wurde. Letztlich entpuppt sich der Fall als ein Streit um lokale Hegemonie und konkret um Wasserrechte mit dem Kloster Sahagún als Protagonist. Den Abschluss bildet ein Beitrag, der sowohl den zeitlichen als auch den geographischen Rahmen nochmals verschiebt: Es geht um Dänemark im 12. Jahrhundert. Da es sich sowohl bei Nordspanien als auch bei Dänemark um die Peripherie Europas handelt, sollte dieser Beitrag den Band komplettieren. Kim Esmark stellt im 14. und letzten Kapitel einen Besitzstreit aus dem Jahre 1170 dar. Ein Kanoniker stritt sich mit seinem Erzbischof (Eskil von Lund) um Erbe und Besitz. Letztendlich war es das Kloster Esrum, das vom Ausgang des Streits profitierte. Esmark behandelt die verschiedenen Stationen von der Vorgeschichte über die Streitbeilegung und deren Dokumentation bis zur Archivierung derselben.

Der insgesamt recht schlüssig komponierte Sammelband stellt nicht nur, wie eingangs geschildert, die PRJ-Datenbank und die Werbung für deren Nutzung und Weiterentwicklung in Mittelpunkt. Er versammelt auch eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze des Umgangs mit dem Quellenmaterial, das durch seine Begrenzung auf die Herkunftsregion und die gewählte Zeitspanne der ersten nachgotischen Jahrhunderte einen hinreichenden Zusammenhang zwischen den einzelnen Kapiteln herstellt.

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