In ihrer Monographie „Das romantische Mittelalter der Germanistik“ untersuchen Michael R. Ott und Helge Perplies die nach Auffassung der Autoren bis heute andauernde Prägung der Teildisziplin der germanistischen Mediävistik (aber auch der Germanistik insgesamt) durch ihre philologischen Ursprünge während der Romantik. Die Autoren wollen aufzeigen, wie diese historische Verwurzelung bis heute das Fach und seine Perspektiven beeinflusst, und plädieren für eine „postromantische“ Neuorientierung, die sich kritisch mit tradierten Ansätzen auseinandersetzt und aktuelle Herausforderungen wie Diversität, Geschlechtergerechtigkeit und Postkolonialismus integriert. Ziel ist es, die germanistische Mediävistik und die Vermittlung mittelalterlicher Literatur zeitgemäßer und inklusiver zu gestalten. Die Autoren möchten dabei eine Brücke schlagen zwischen wissenschaftlicher Selbstreflexion und gesellschaftlicher Relevanz der historischen Disziplin, die sich nicht zuletzt auch in innovativen Lehransätzen niederschlagen sollte.
In sieben, mit schlichten bis provokanten Fragen überschriebenen Kapiteln werden Teilaspekte thematisiert, die auf verschiedenen inhaltlichen bzw. systematischen Ebenen angesiedelt sind. Das disziplinkritische Frage- und Themenspektrum erstreckt sich von den philologischen Ursprüngen des Faches in einer national geprägten Editionsphilologie des 19. Jahrhunderts und dem daraus resultierenden Desiderat eingeschränkter Textzugänglichkeit durch sperrige Übersetzungen über eine Diagnose mangelnder Popularisierung und Interdisziplinarität des Faches bis hin zur unzeitgemäßen akademischen Lehrpraxis. Neue Perspektiven soll demgegenüber der Anschluss an aktuelle gesellschaftliche und wissenschaftliche Debatten und Praktiken eröffnen, die vor allem aus anglo-amerikanischen Diskursen und den Postcolonial Studies in die Argumentation eingebracht werden. Dies schlägt sich beispielsweise in der begrifflichen und konzeptuellen Herangehensweise an das Epochenkonstrukt „Mittelalter“ (vgl. S. 34f.) nieder. Programmatisch orientieren sich die Autoren am englischen Plural von Middle Ages, um damit die „Pluralität und Vielfalt“ (S. 34) zu adressieren, die in dieser „Über-Kategorie“ (S. 35)1 mitschwingt. „Mit Hilfe des aus dem Englischen entlehnten Plurals wollen wir versuchen, diesem Problem zu begegnen und zugleich durch den ungewohnten Plural den Leserhythmus zu stören. Deshalb reden wir in diesem Buch häufig von den Mittelaltern, gerade weil es irritiert“ (S. 35, Hervorhebung im Original). Statt Begriff und Konzept weiter zu schärfen, provozieren die Autoren hier bewusste kalkulierte Irritationen, was sich jedoch kontraproduktiv auf die Gesamtintention ihrer Monographie auswirken könnte, wenn durch Akkumulation weiterer, zum Teil auch ungewollter Irritationen der eigentlich anvisierte Perspektivenwechsel fragwürdig erscheint. Dies lässt sich anhand des Einstiegskapitels illustrieren: Mit der Frage „Ist die Romantik schuld?“ (S. 7–11) überschrieben, bietet das Kapitel eine kritische Auseinandersetzung mit der nachhaltigen Wirkung romantischer Denkweisen auf die deutsche Gegenwartskultur und Wissenschaftspraxis. Um die historische Verflechtung der Romantik mit der Entstehung der Germanistik als akademischer Disziplin aufzuzeigen, wählen die Autoren jedoch einen merkwürdigen Ausgangspunkt: Eine deutschlandtypische „Impfskepsis“ (S. 7, passim) gegen das Coronavirus wird als Symptom eines aus romantischen Vorstellungen gespeisten grundsätzlichen Fortschrittsskeptizismus der Deutschen stilisiert, der zudem mit ideologischen Konstrukten wie Nation und Volk verschränkt ist, aus denen sich wiederum romantische Mittelaltervorstellungen speisen, die in der Vergangenheit zwar als intellektuelle Ressource fungierten, sich aber aktuell eher als ein Hindernis für die wissenschaftliche Innovationsfähigkeit der adressierten Wissenschaftsdisziplin erweisen. Der behauptete Konnex zwischen der Zeitdiagnose „Impfskepsis“ und einer problematischen Kontinuität romantischer Vorstellungen in der Mittelaltergermanistik irritiert nicht nur, sondern provoziert vermutlich bei einigen Adressat:innen der Monographie eine Lektüreverweigerung.
Wer dennoch weiterliest, lernt mit dem von den Autoren eingeführten Konzept der „Postromantik“ (S. 14f.) jedoch einen originellen Ansatz kennen, der es ermöglicht, einerseits die romantischen Prägungen der Mittelaltergermanistik kritisch zu hinterfragen und andererseits neue zukunftsorientierte Perspektiven für das Fach aufzuzeigen. Als ein neuralgischer Punkt wird von den Autoren im Kapitel „Wie geht man richtig mit dem Mittelalter um?“ (S. 39–72, Hervorhebung im Original) die Diskrepanz zwischen den von der akademischen Mediävistik vermittelten Gegenständen und der Faszinationskraft populärerer Mittelalter-Rezeption benannt. Zweifellos implizieren mittelalterliche Texte aufgrund ihrer historischen Materialität, ihrer sprachlichen und kulturellen Alterität für heranwachsende Generationen im digitalen Zeitalter einige Verstehensbarrieren, aber auch die scheinbar vertrauten multimedialen Welten von Computerspielen, Comics oder Fantasy-Filmen, die gerade nicht als Projektionsfläche für Mittelaltervorstellungen fungieren, sondern immer zeitgenössische Weltbilder inklusive Normen- und Wertevorstellungen transportieren, bedürfen einer fundierten Analyse, um ihrem Faszinationscharakter auf die Spur zu kommen. Genau hier hätten die Autoren zumindest exemplarisch deutlicher in die Tiefe gehen müssen, indem sie elaborierte komparatistische Studien zu Computerspielen oder Filmen aufgreifen und damit auch den Perspektivenwechsel zur Kenntnis nehmen, der sich in der germanistischen Mediävistik längst vollzieht.2
Auf eine weitere Möglichkeit der Popularisierung der Mittelaltergermanistik verweist das Kapitel „Darf man mittelalterliche Erzählungen übersetzen?“ (S. 73–109). Hinterfragt wird eine traditionelle Priorisierung textlicher Authentizität gegenüber einer vereinfachten Zugänglichkeit der sprachlich fremden Texte durch Übersetzungen in die moderne Gegenwartssprache. Die Autoren plädieren für eine Neuausrichtung der Übersetzungs- und Editionspraxis, die Übersetzungen als eigenständige Kunstwerke versteht und zugleich die Balance zwischen philologischer Genauigkeit, Lesbarkeit und Vermittlung der Texte in einer breiteren Öffentlichkeit wahrt.
Wenn das moderne Publikum stärker adressiert werden soll, stellt sich für die Autoren außerdem die Frage nach problematischen Implikationen einer Identifikation mit den Inhalten der rezipierten mittelalterlichen Texte. Dafür wird im Kapitel „Muss ich Iwein sein wollen?“ (S. 111–127) die Kategorie der „Disidentifikation“ (S. 112) eingeführt3, die eine bewusste Distanzierung von einer unkritischen Identifikation mit literarischen Figuren und der damit einhergehenden Orientierung an hegemonialen Normen- und Wertevorstellungen mittelalterlicher Texte ermöglicht. Durch gleichzeitige Implementierung feministischer oder postkolonialer Ansätze öffnen sich demgegenüber neue Interpretationsspielräume, in denen der Umgang mit mittelalterlicher Literatur zu einer zukunftsträchtigen Ressource für eine kritische Reflexion moderner gesellschaftlicher und kultureller Herausforderungen avancieren kann.
Auch die Fragestellung des nächsten Kapitels „Warum brauchen wir mehr unterschiedliche Stimmen?“ (S. 129–145) zielt auf eine Steigerung der gesellschaftlichen Relevanz der Mittelaltergermanistik durch Diversifizierung des Faches ab. Dabei geht es sowohl um methodologische Vielfalt als auch um die Integration bisher marginalisierter Perspektiven, was natürlich nicht ohne Reform institutionalisierter Strukturen und wissenschaftlicher Publikationspraktiken möglich sein wird.
Der Reformbedarf wird unter dem Gesichtspunkt der akademischen Lehre im Kapitel „Kommt das in der Klausur dran?“ (S. 147–160) wieder aufgegriffen. Kritisiert werden traditionelle, oft autoritäre Lehrmethoden, die auf reiner Wissensvermittlung basieren. Gefordert wird eine stärkere Orientierung an den Bedürfnissen und Interessen einer divers und digital geprägten Studierendenschaft. Die Autoren plädieren für eine dialogische Lehre, die Studierende aktiv einbindet und mittelalterliche Themen als Reflexionsgrundlage für zeitgenössische gesellschaftliche Fragen nutzt. Gleichzeitig wird die Verantwortung der Lehrenden hervorgehoben, die Attraktivität und Verständlichkeit des Fachs zu fördern, um nicht zuletzt die germanistische Mediävistik als relevantes und inklusives Studienfach zukunftsfähig zu machen. Auch in diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass sich in der Lehrpraxis der germanistischen Mediävistik längst ein Wandel abzeichnet hin zu mehr Interdisziplinarität und kollaborativen Projektformaten, zu Forschendem Lernen oder zu einem verstärkten Einsatz digitaler Tools, was die Autoren eventuell noch nicht genügend im Blick haben.4
Die Autoren runden ihre Monographie nicht mit einem Gesamtfazit ab. Stattdessen wird nach dem Literaturverzeichnis (S. 161–172) ein Nachwort von Racha Kirakosian abgedruckt (S. 173–185), die an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg einen Lehrstuhl für Germanistische Mediävistik mit Schwerpunkt Spätmittelalter innehat. In diesem Nachwort wird noch einmal nachdrücklich die Notwendigkeit einer kritischen Selbstreflexion der Mittelaltergermanistik betont, um ihre romantischen Prägungen zu überwinden und als Fach zukunftsfähig zu bleiben. Der abschließende Aufruf zu mehr Diversität und Interdisziplinarität verdeutlicht insgesamt, welche Intentionen die Monographie verfolgt: Zwar bildet eine disziplin- und wissenschaftsgeschichtliche Analyse den Ausgangspunkt, aber im weiteren Argumentationsverlauf geht es den Autoren zunehmend um hochschul- und wissenschaftspolitische Aspekte: An das Fach wird appelliert, mehr Verantwortung zu übernehmen, aktiv an der modernen Transformation des Wissenschaftssystems mitzuwirken und mehr Partizipation zu ermöglichen.
Die Monographie liefert zweifellos einen wichtigen Beitrag zur Disziplinkritik und Neuausrichtung der Mittelaltergermanistik. Die Verbindung von historischen, methodologischen und gesellschaftlichen Fragestellungen entspricht dabei einer innovativen Herangehensweise. Gleichzeitig bleibt das Buch aber aufgrund der wissenschaftspolitischen Agenda hinsichtlich der konkreten Profilierung einzelner wissenschaftlicher Ansätze hinter seinen Möglichkeiten zurück. Die wissenschaftsgeschichtliche Studie wurde von der VolkswagenStiftung in das Förderprogramm „‚Originalitätsverdacht?‘ Neue Optionen für die Geistes- und Kulturwissenschaften“ aufgenommen. Ein dadurch erzeugter „Originalitätsdruck“ schlägt sich auf unterschiedliche Weise in der Publikation nieder, wobei die Ebene der Sprache am offensichtlichsten ist: Die Mischung aus akademisch-theoretischem Stil, bewusster Verfremdung geläufiger Kategorien und einer auf Partizipation zielenden Umgangssprachlichkeit scheint nicht immer glücklich gewählt (vgl. exemplarisch den Begriff „Hotel-Lobby“ als Ort einer partizipativen Mittelalter-Rezeption, S. 49, passim). Dennoch liefern die Autoren wichtige Impulse, um gewinnbringend über die Zukunftsperspektiven der germanistischen Mediävistik nachzudenken.
Anmerkungen:
1 Die Autoren zitieren den Begriff nach Valentin Groebner, Arme Ritter. Moderne Mittelalterbegeisterungen und die Selbstbilder der Mediävistik, in: Thomas Martin Buck / Nicola Brauch (Hrsg.), Das Mittelalter zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Probleme, Perspektiven und Anstöße für die Unterrichtspraxis, Münster 2011, S. 335–345, hier S. 335.
2 Vgl. exemplarisch Franziska Ascher, Erzählen im Imperativ. Zur strukturellen Agonalität von Rollenspielen und mittelhochdeutschen Epen, Bielefeld 2021; Susanne Schul, HeldenGeschlechtNarrationen: Gender, Intersektionalität und Transformation im Nibelungenlied und in Nibelungen-Adaptionen, Frankfurt am Main 2014.
3 Im Original ist das Präfix Dis- durch Kursivierung hervorgehoben.
4 Vgl. etwa das Projektseminar von Susanne Schul im Wintersemester 2019/20 zum Thema „Heldengestalten – Helden gestalten: Mittelalterliche Literatur im Erklär- und Lernvideo“ an der Universität Kassel: https://www.uni-kassel.de/fb02/institute/germanistik/fachgebiete/aeltere-deutsche-literaturwissenschaft-mediaevistik/veranstaltungen#c139027 (08.12.2024), oder die Ergebnisdokumentation zu einem interdisziplinären Projekt von Katharina Jacob (Linguistik, Universität Heidelberg) und Andrea Sieber (Germanistische Mediävistik, Universität Passau) im Wintersemester 2020/21: Katharina Jacob / Andrea Sieber (Hrsg.), Wahrnehmungsprozesse in mediävistischer und linguistischer Perspektive – ein hochschuldidaktisches Kooperationsprojekt, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 68,1 (2021), S. 1–93.